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Warum die Pädagogik oft die zweite Geige spielt

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Zur Studie „Musikpädagogik in der Ausbildung an deutschen Musikhochschulen – Weg oder Irrweg?“
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Das Institut für musikpädagogische Forschung der Hochschule für Musik und Theater Hannover stellte sich die Aufgabe, gültige Informationen über die Frage nach der Studienmotivation von Studierenden der Musikerziehung zu erhalten. Die von der Stiftung „100 Jahre Yamaha e.V.“ unterstützte Studie sollte dabei Material für eine „eventuelle Neuvermessung“ der Studiengänge Musikerziehung liefern. Die Ergebnisse sind ernüchternd: So wertig die künstlerische Ausbildung an Musikhochschulen im internationalen Vergleich auch ausfällt, die pädagogischen Fächer gelten unter den Studenten nach wie vor als zweitrangig. nmz-Herausgeber Theo Geißler sprach mit den Initiatoren der Studie, Hans Bäßler (Musikhochschule Hannover) und Asmus Hintz (Yamaha).

Theo Geißler: Weshalb engagiert sich ein privater Konzern, Yamaha, inhaltlich und finanziell bei einer bildungspolitischen Studie? Das wäre doch eine genuine Aufgabe der Hochschulen selbst und der sie tragenden öffentlichen Institutionen?

Asmus Hintz: Mich hat zunehmend irritiert, dass Studierende an Musikhochschulen ein sehr geringes Interesse an der Ausgestaltung ihrer beruflichen Perspektiven zeigten. Von den Professoren wurde das Interesse an einer entsprechenden Informationsveranstaltung für ihre Studierenden hoch eingeschätzt, aber die angeblich stark interessierten „Betroffenen“ nahmen die Möglichkeit, sich über ihre Berufsaussichten zu informieren, nur in sehr geringem Umfang wahr. Diese Diskrepanz und die Tatsache, dass es nach wie vor schwierig ist, für musikpädagogische Tätigkeiten motivierte und qualifizierte Pädagogen zu finden, bewog mich dazu, die Einstellung und Grundmotivation derjenigen, die sich für einen Studiengang mit musikpä-dagogischem Schwerpunkt entschieden hatten, untersuchen zu lassen.

Geißler: Es erhärtet den alten Vorwurf, dass die Musikhochschulen immer noch stark Instrumentalisten-lastig ausbilden, dass Pädagogik allenfalls die zweite Geige spielt …

Hans Bäßler: Man muss differenzieren: Die Studienanfänger können sich das pädagogische Ziel kaum vorstellen, obwohl sie eingeschrieben sind in einen instrumental- oder gesangspä-dagogischen Studiengang. Sie belassen ihren Ausbildungsweg in einer offenen, diffusen Haltung. Je älter sie jedoch werden, desto präziser wird ihre Vorstellung, insbesondere die der 24- bis 26-Jährigen. Unsere Studie 2006 ist zu einem Zeitpunkt durchgeführt worden, als immer klarer wurde, dass die Möglichkeiten für Hochschulabgänger, eine solistische Laufbahn einzuschlagen oder eine Orchesterstelle zu bekommen, stark abgenommen haben.
Ferner muss man im Hinblick auf die Studie noch folgende Einschränkung hinsichtlich der Motivation machen: Der häufig geäußerte Vorwurf, die ausländischen Studierenden hätten eigentlich kein Interesse an einem pädagogischen Studiengang, hat sich nicht bestätigt. Ganz im Gegenteil: Diejenigen, die als „Ausländer“ zu uns gekommen sind, haben von vornherein gewusst, dass dies für sie ein Aufbaustudiengang ist, der sich auch in der Pädagogik erfüllen muss. Außerdem gibt es eine leichte, aber durchaus messbare Tendenz im Hinblick auf den Unterschied zwischen Männern und Frauen. Männer sehen sich selbst, besonders bis ins Alter von 24 Jahren, noch stärker in der künstlerischen Praxis als die Frauen, die ein höheres pädagogisches Bewusstsein haben.

Geißler: Trotzdem – es bleibt der Verdacht, dass pädagogischer Eros sich eher in einer Art Versicherungsstudium erschöpft…

Bäßler: Das ist korrekt. Es ist noch keine ausreichende pädagogische Bewusstheit da und hier gibt es eine ganze Reihe von Aufgaben für die Hochschulen, um diesem Problem näher zu kommen. Erst, wenn die Frage: „Wo bleibe ich nach dem Studium?“ näher rückt, werden die Themen des Berufsfeldes deutlicher ins Auge gefasst. Wir können das an drei ganz entscheidenden Aspekten festmachen, die zu einer modernen Pädagogik gehören. Erstens gibt es eine ganz geringe Bereitschaft, in den frühkindlichen Bereich zu gehen. Zweitens gibt es höchst eingeschränktes Interesse, später mit Senioren musikalisch zusammenzuarbeiten. Drittens ist man nur ungern bereit, Instrumentalunterricht in Gruppen zu erteilen, insbesondere auch in einer dringend erforderlichen Kooperation zwischen Schulmusikern und Instrumentalunterricht.

Hintz: Erstaunlich ist die mangelnde Zielorientierung der Studierenden auf ihre Berufstätigkeit, bedenklich die Ablehnung der in Zukunft attraktivsten beruflichen Arbeitsfelder, der frühkindlichen Musikalisierung (Kleinstkinderunterricht) und der Musikvermittlung an Menschen im dritten Lebensabschnitt. Mit diesen Zielgruppen zu arbeiten, können sich nur sehr wenige der Befragten überhaupt vorstellen. Das ist wirklich ein Desaster, denn die se beiden Bereiche sind schon heute zu den bedeutsamsten musikpädagogischen Betätigungsfeldern in unserer Gesellschaft zu zählen. Yamaha Music Education als Anbieter von Arbeitsplätzen und Arbeitsmöglichkeiten im musikpädagogischen Bereich kann nicht genügend qualifizierte Fachkräfte finden, die Interesse zeigen, in diesen Sektoren arbeiten zu wollen und die geforderte Qualifikation mitbringen. Mit großem Aufwand müssen wir jährlich circa 1.200 Fachkräfte allein in Deutschland nachqualifizieren, damit sie den Anforderungen an frühkindliche Musikalisierung, instrumentalen Gruppenunterricht und Musikvermittlung mit älteren Menschen entsprechen. Ich fordere die bundesdeutschen Musikhochschulen auf: Bildet musikpädagogische Fachkräfte aus, die motiviert und kompetent für das Arbeiten in den zuvor genannten Bereichen sind, denn dort liegt die gesellschaftliche Notwendigkeit und, ebenso wichtig, die dauerhafte Nachfrage, die aussichtsreiche berufliche und existenzsichernde Perspektiven bieten wird.

Geißler: Das sind Aufträge, die schon seit vielen Jahren – offensichtlich vergeblich – an die Musikhochschulen herangetragen werden…

Bäßler: Es gibt ganz wenige Ausnahmen, die man beobachten kann, zum Beispiel Frankfurt, wo dieses Bewusstsein durch Thomas Rietschels Arbeit sichtlich geschärft wird. Aber: Im Normalfall spielen diese Fragen im Rahmen der Hochschulausbildung keine oder eine eingeschränkte Rolle. Wir haben an den vier Hochschulen nachgefragt, wie es mit dem Interesse für Praktika im musikpädagogischen Bereich an Schulen steht: Es gibt kaum ein Interesse! Das kann überhaupt nur dadurch umgekehrt werden, dass die Hochschulen endlich selbst aktiv werden und nicht erst die Studierenden nach derartigen Angeboten fragen müssen. Insofern muss man vor dem Hintergrund der Studie sagen: Die Hochschulausbildung ist als Grundkonzept immer zu wenig auf das spätere Arbeitsfeld ausgerichtet – das zumindest gilt für den befragten Kreis der Studierenden und ihrer Hochschulen!

Geißler: Wird die Situation nicht noch dadurch verschärft, dass durch „Reformen“ im Rahmen des Bologna-Prozesses die Studienzeiten dramatisch verkürzt werden, so dass eine ausgependelte Ausbildung von instrumentaler und pädagogischer Qualifikation weiter beschnitten und begrenzt wird?

Bäßler: Es gibt tatsächlich Hochschulen, die die künstlerische und pädagogische Ausbildung zusammenlegen mit der früher so genannten KA-Ausbildung, die im wesentlichen für Orchestermusiker und für spätere Solisten gedacht ist. Andere reduzieren das Ganze auf vier Studienjahre. Es gibt aber auch Hochschulen, die hier viel sensibler herangehen und verschiedene Zugangsweisen anbieten werden, die entweder über einen zunächst künstlerischen oder einen musikpädagogischen Bachelor erreicht werden – wobei bereits im künstlerischen Bachelor pädagogische Anteile einbezogen wurden. Die Hochschule Lübeck zum Beispiel beabsichtigt, diesen doppelten Weg zu gehen und dann zusätzlich einen spezifischen Master anzubieten, der sich gezielt auf den pädagogischen Bereich bezieht. Aber das ist ein ganz schwieriges Geschäft. Ich fürchte in der Tat auch, dass eine Schmalspurausbildung stattfinden könnte, wenn man dem nicht mit intelligenten Lösungen massiv gegensteuert.

„Optimierte“ Studiengänge?

Geißler: Wie beurteilen Sie das, Asmus Hintz, als einer, der eher den wirtschaftlichen Blick auf das Ganze hat. Es wird versucht, Studiengänge zu „optimieren“ – sprich: zu komprimieren, sie dadurch auch preisgünstiger zu machen. Dabei geht möglicherweise die Tiefe der Qualifikation verloren…

Hintz: Das Ganze vorrangig unter dem finanziellen Aspekt zu betrachten, hieße,
den Blickwinkel zu sehr einzuschränken. Ob Master-, Bachelor- oder Diplomstudiengang: Entscheidend ist, welche berufliche Motivation und fachlichen Kompetenzen die Absolventen aus dem Studium gewinnen. Auch die bisherigen Studiengangs- und Vermittlungsformen haben den Absolventen nicht in ausreichendem Maße das notwendige Rüstzeug für erfolgreiches Arbeiten in der Praxis vermittelt. Es gibt bei ME-Studierenden enorme Defizite im Bereich der methodischen Kompetenz. Von instrumentalem Gruppenunterricht zum Beispiel haben sie in der Regel leider immer noch zu wenig Kenntnis. Auch die Bereitschaft, sich mit diesem wichtigen Thema befassen zu wollen, hat das Studium nicht angeregt oder gesteigert. Schulmusiker lernen während ihrer Ausbildung noch viel zu selten die Methoden des Klassenmusizierens kennen. Im Bereich der Ausbildung methodischer Kompetenzen muss angesetzt werden. Wir brauchen Fachkräfte, die aufgrund langjähriger Übung und bereits während des Studiums erworbener praktischer Erfahrungen einsatzfähig sind und nicht erst am Schüler das experimentell erproben, was sie eigentlich als Kompetenz mitbringen sollten. Das ist nicht eine Frage des Geldes, sondern vielmehr der Neuorientierung der Ausbildungsziele. Haben wir das Richtige und Notwendige definiert, müssen wir dies auch konsequent durchführen. Stimmen die Ziele und Ergebnisse, ist auch das Geld dafür zu beschaffen. Die Behauptung, mangelnde Finanzmittel seien vorrangig für die derzeitigen Schwierigkeiten verantwortlich, ist ein allzu bequemer Vorwand, sich nicht bewegen zu müssen.

Geißler: Wie, bitte, aus dieser Not eine Tugend machen?

Hintz: Mehr ausgewiesene Praktiker müssen in den Hochschulen lehren; der Schwerpunkt muss auf der Einübung methodischer Kompetenzen liegen, also mehr auf dem Training von Fähigkeiten, als darüber zu reden, was möglicherweise sein könnte – Ermutigung zum Handeln! Dies bedarf einer umfänglichen Erneuerung des Apparates an Haupt und Gliedern und wird nicht kurzfristig gelingen. Ein Generations- und Mentalitätswechsel im Bereich der Führenden und Lehrenden ist unerlässlich. Sie müssen das Neue und Notwendige, legitimiert auf der Grundlage eigener Kompetenz, vermitteln und fördern können. Solange dies nicht geschieht, müssen andere Bildungsträger die Defizite ausgleichen. Aber auf Dauer ist es nicht hinnehmbar, dass die Absolventen erst durch das dem Studium nachgeschaltete Feintuning „verwendungsfähig“ werden.

Geißler: Eine gesellschaftspolitische Aufgabe, Hans Bäßler…

Bäßler: Der Musikpädagoge muss ebenso über sehr hohe Qualifikationen im Bereich der Vermittlung von Musik verfügen wie derjenige, der in einem Orchester Höchstleistung bringt. Bisher hatten wir das Prinzip: Wer auf seinem Instrument fantastisch ist, der kann automatisch etwas weitergeben. Dieser Irrglaube muss aufhören.

Geißler: Ein langer Weg.

Bäßler: Richtig, aber einer, bei dem ich nicht ganz mutlos bin, denn es ist ja nur eine überschaubare Gruppe von Menschen, die davon überzeugt werden muss, soweit sie es nicht längst schon ist: Die Rektorinnen und Rektoren der deutschen Musikhochschulen. Davon haben wir 23 in Deutschland. Und dann kommen noch einige Konservatorien hinzu. Ich bin der festen Überzeugung: Wir könnten es jetzt noch hinbekommen, in die Speichen des laufenden Rades Bachelor/Master einzugreifen, indem wir vom späteren Berufsfeld der Musikpädagogik her denken und die entsprechenden Studienpläne entwerfen. Dazu gibt es nach meinen Beobachtungen einige Bereitschaft in den Hochschulen. Diese Bereitschaft müsste erhöht werden, indem Gespräche mit der Konferenz der Rektoren geführt werden, und ich hoffe, dass die Rektoren innerhalb ihrer Häuser das umsetzen können, was sie an Einsicht signalisieren.

Geißler: Ist das Ganze nicht nach wie vor ein Imageproblem und damit eben ein gesellschaftliches? Der Solist genießt möglicherweise ein höheres Ansehen als der möglicherweise derzeit viel wichtigere Pädagoge…

Bäßler: Das hängt damit zusammen, dass wir eine Bewusstseinspyramide haben: Wer es als Solist, so die selten ausgesprochene, aber immer wieder gelebte Denkweise, nicht geschafft hat, kann doch wenigstens im Orchester spielen. Wer keine Perspektive im Orchester hat, der kann doch wenigstens Instrumentalunterricht erteilen. Wer aber keinen Instrumentalunterricht erteilen kann, dem bleibt wenigstens die Schule. Solch eine Hierarchie haben wir. Vergessen wird: Hochschulen haben aber die Aufgabe der Spitzenförderung einerseits und der Breitenförderung andererseits. Und die Breitenförderung verlangt eine ganz andere Kompetenz als die eines Instrumentalsolisten. Und diese doppelte Aufgabe der Hochschulen einer Ausbildung für die Breitenarbeit und für die Spitzenarbeit wird nicht überall wirklich umgesetzt.

Hintz: Damit wir uns weiterhin an vielen schönen Konzerten erfreuen können, müssen wir den Pädagogen und Musikern das „Dienen“ populär machen. Jemandem zu dienen, ist derzeit nicht wirklich akzeptiert. Dennoch: „Dienen“ ist die edelste aller Tätigkeiten. Ich spreche gern, auch wenn viele das nur widerwillig zur Kenntnis nehmen wollen, von musikpädagogischer Dienstleistung. Derjenige, der einen Dienst erbringen kann im Bereich Musikpädagogik, muss hochqualifiziert sein, muss in der Lage sein, die Wünsche und Ziele seiner Schüler, Klienten oder Kunden, wie auch immer man sie nennen mag, zu erkennen und seine Kompetenz einzubringen, die Verwirklichung der Ziele mit angemessenem Einsatz der notwendigen Ressourcen zu ermöglichen. Dienen heißt in diesem Zusammenhang auch, den „Auftraggeber“ wichtiger zu nehmen als sich selbst.

Geißler: Um noch ein Ergebnis dieser Studie in Erinnerung zu rufen: Zu dieser Form hochqualifizierten Dienens scheinen Frauen eher bereit zu sein als Männer …
Bäßler: Ich glaube, dass Frauen sehr viel realistischer sind und dass dieses Selbstverwirklichen im Umsetzen von Realistischem stattfindet, also kurz gesagt: Frauen erkennen wesentlich stärker eine pädagogische Perspektive für sich, wenn sie diese Studienrichtung eingeschlagen haben. Männern muss man „ins Gebetbuch schreiben“, dass sich Karriere nicht auf der Basis einer Instrumental-Höchstleistung definiert, sondern in der Frage, ob ich eigentlich im Stande bin, meinem späteren Arbeitsgebiet gerecht zu werden. Diese Differenz zwischen männlichen und weiblichen Studierenden muss überwunden werden, indem „Mann“ hier von den Frauen lernt.

Vom Gewinn aus der Studie

Geißler: Was wird getan, um die Erkenntnisse dieser Studie zügig in die Praxis umzusetzen?

Hintz: Wir schaffen Öffentlichkeit für diese Problematiken und erzeugen Handlungsdruck, unter anderem zum Beispiel dank dieses Gesprächs…

Bäßler: Es kommt in der Umsetzung der Einsichten, die man aus dieser Studie gewinnen kann, ganz wesentlich darauf an, in den Hochschulen Wege für eine sehr viel größere Durchlässigkeit zwischen den einzelnen Studiengängen zu entwickeln. Diese Frage ergibt sich automatisch aus der Struktur von Bachelor und Master, denn bestimmte Module wiederholen sich und müssten damit gegenseitig anerkannt werden. Durchlässigkeit heißt, dass man pädagogische Studiengänge nicht von Anfang an festlegt auf eine bestimmte Klientel, zum Beispiel auf die Schulmusik. Sondern dass man sagt: „Was du später machen wirst, entscheidest du nach dem Bachelor. Du bekommst eine breite grundlegende und an der Praxis orientierte Ausbildung, die in den Bereich des Musikvermittelns geht, die sich dann im Masterstudiengang präzisiert.“ Und diese Umsetzungsprozesse müssen wir an allen Hochschulen implementieren. Ferner brauchen wir den Druck der musikpädagogischen Verbände, die sich ganz dringend dafür einsetzen müssen, dass möglichst viele gut ausgebildete Musikvermittler in die Praxis gehen.

Geißler: Nun hat sich die Konferenz der Musikhochschulrektoren in den letzten Jahrzehnten als besonders innovationsresistente und entscheidungsschwache Institution erwiesen …

Bäßler: Ich glaube, dass sich diese Veränderungen durch den Generationswechsel, der in den letzten fünf Jahren stattgefunden hat, in den Hochschulen durchsetzen können. Die Frage also lautet: Inwieweit spürt der einzelne Hochschullehrer, der einzelne Rektor in seinem ganz konkreten Ausbildungsfeld, dass es so, wie es im Moment ist, nicht mehr weitergehen kann. In dem Moment, wo er erlebt, dass seine eigenen Kinder ohne Musikunterricht groß werden, dass eine Unzahl von Schülerinnen und Schülern vor den Toren der Musikschulen stehen, denen ein bezahlbarer Unterricht verweigert wird, in dem Moment, wo dies für ihn sicht- und fühlbar wird, wird sich dieser Wandel vollziehen. Also, die ersten Gespräche, die wir als Präsidium des Deutschen Musikrats mit dem jetzigen Sprecher der Rektoren, Prof. Martin Pfeffer, hatten, hat für mich durchaus Hoffnung signalisiert.

Hintz: Das beunruhigt mich, wenn das tatsächlich die einzige Perspektive wäre, dass erst dann wenn der Rektor einer Hochschule sich persönlich betroffen fühlt, er die Notwendigkeit sieht auch etwas zu verändern. Im Klartext: jedes Jahr verlassen Tausende junger Menschen als Absolventen unsere Musikhochschulen. Was machen sie hinterher mit diesem Spezialwissen? Gehen sie von der Hochschule direkt in die Arbeitslosigkeit oder machen sie etwas ganz anderes? Das sind ja enor-me Verluste an Motivation, an Geld, an Wissen: ein Verlust für die Gesellschaft. Wir haben ganz klar definierte Bedarfe im Markt der Musikpädagogik, und dafür muss ausgebildet werden. Das ist eine Aufgabe, die Hochschulen, die mit Steuermitteln finanziert werden, zu leisten haben.

Geißler: Wäre es sinnvoll, außerhalb der offensichtlich schwerfälligen Institution Musikhochschule in den Bereichen mit den schlimmsten Defiziten, sprich elementare Musikpädagogik und auch Seniorenarbeit mit Musik, privates Coaching zu installieren?

Hintz: In meiner mehr als dreißigjährigen Verantwortung für Yamaha
Music Education habe ich vorrangig genau das gemacht: Tausende von Absolventen musikpädagogischer Studiengänge fortgebildet, weil die schwerfälligen Institutionen sich nicht innovativ bewegt haben. Das Thema instrumentaler Gruppenunterricht bearbeite ich als einer der Vorreiter seit mehr als drei Jahrzehnten. Obwohl es zunehmend wichtiger wird, bewegt sich an den Hochschulen diesbezüglich zu wenig. Solange diese nicht als Innovatoren proaktiv die Bedürfnisse erkennend agieren, sondern sich als „Konservatoren“ verstehen, ist das Engagement privater Initiativen unerlässlich. Warum kommen von den Hochschulen, von wenigen Ausnahmen abgesehen, so wenige oder keine Impulse für den enorm wichtigen Bildungsbaustein frühkindliche Musikalisierung, keine Impulse für den instrumentalen Gruppenunterricht und für die musikalische Breitenbildung, keine Impulse für Musikvermittlung an Menschen im dritten Lebensabschnitt? Hier haben Verbände und private Träger, unter diesen vor allem Yamaha Music Education, traditionell die Vorreiterrolle eingenommen. Ich erwarte von den Hochschulen, dass diese sich auch zu Zentren der musikpädagogischen Forschung und Innovation entwickeln und ihre künftige Exzellenz im Bereich der Musikvermittlung Weltgeltung erlangen möge. Unter anderem deshalb habe ich mit der Stiftung „100 Jahre Yamaha“ zusammen mit dem Deutschen Musikrat dafür gesorgt, dass der Preis „Inventio“ für die Entwicklung musikpädagogischer Innovationen geschaffen wird. Der „Inventio“ hat – jetzt im vierten Jahr seines Bestehens – beachtliche Projekte wie „Jedem Kind ein Instrument“ in einem frühen Stadium ausgezeichnet und damit auch Wege zu dessen Verbreitung bereitet. Künftig erwarte ich, dass im Bereich der musikpädagogischen Dienstleistung uns hochqualifizierte und einsatzfähige Praktiker von den Hochschulen „geliefert“ werden, wie das auch im Gesundheitswesen oder in der Industrie als selbstverständlich angesehen wird.

Geißler: Hoffnung, dass dies funktioniert, Hans Bäßler?

Bäßler:

Es ist eine riesige Überzeugungsarbeit, die man leisten muss. Und die man aus meiner Sicht in diesem konkreten Fall nicht über die politische Schiene wird umsetzen können, weil die Hochschulen sich auf ihre Autonomie berufen werden, wenn sie unter Druck gesetzt werden sollen. Es bleibt also nur die ständige Sensibilisierung kraft sinnvoller Argumente als „Brechstange“. Wenn es jetzt um kurzfristige Lösungen geht, dann müssen wir nachdenken, ob nicht beispielsweise über Bundesakademien, Landesakademien et cetera Zusatzangebote im Rahmen der Fortbildung generiert werden. Auch das erzeugt Druck …

 

Die Hochschulausbildung leidet ganz wesentlich darunter, dass man das Lifelong-learning-Prinzip nur ganz begrenzt implantiert und den Studierenden immer noch vermittelt: „Wenn du dein Examen machst, dann kannst du bis zu deinem 65. Lebensjahr beruhigt unterrichten.“ Das ist natürlich gerade nicht der Fall. In dem Moment, wo ich aus der Hochschule rauskomme, beginnt erst meine eigentliche Ausbildung, die in der Konfrontation mit der konkreten Praxis wächst und damit eine ganz andere Qualität und Bedeutung für den Einzelnen bekommt. Dieses Bewusstsein aber sollte schon zu Beginn des Studiums vermittelt werden. Dann entstünde mehr Offenheit für neue Inhalte und neue Lernstrategien!

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