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Wertehuberei

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Auf der diesjährigen Popkom. wurde wieder einmal gebrüllt, was das Zeug hält. Dass dabei manchmal schon mal Maßstäbe durcheinander geraten, kann man aber keinesfalls dem Wetter zum Vorwurf machen. So meinte doch zur Eröffnung der Popkom. der stellvertretende Vorstandsvorsitzende der GEMA, Jürgen Becker, allen Ernstes, Musikdiebstahl mit nazistischer Propaganda im Netz und sexuellem Missbrauch an Kindern auf eine Ebene setzen zu dürfen: „Allein die Access-Provider sind technisch in der Lage, die notwendigen Daten über Musikpiraterie im Internet zu ermitteln. Mit Recht werden jetzt schon die Access-Provider in dem Kampf um die Verhinderung nazistischer Propaganda im Netz einbezogen, ebenso wie bei den Ermittlungsmaßnahmen wegen des Verdachts sexuellen Missbrauchs von Kindern. So können sie doch auch im Kampf um den Musikdiebstahl im Netz, der in die Milliarden geht, in die Pflicht genommen werden. Hierüber müssen wir mit den Betroffenen selbst, aber auch mit der Politik sprechen.“ Musikdiebstahl, sexueller Missbrauch an Kindern, nazistische Propaganda in einem Atemzug, ist das nicht ein wenig verwegen? Kürzlich noch hieß es aus den Reihen der GEMA in der Aktion „Ja zur privaten Kopie“, dass die „Privatsphäre des Verbrauchers auch im digitalen Zeitalter zu respektieren“ sei. War das nun ernst gemeint oder nicht?

Die im Mai diesen Jahres ausgesprochenen Warnungen des Bundesdatenschutzbeauftragten vor einer „schleichenden und sich fast unbemerkt entwickelnden Überwachungskultur“ sollte man so ernst nehmen, wie es die GEMA bisher eigentlich tat. Die Schärfe und vor allem Schiefe des Vergleiches Jürgen Beckers lässt allerdings alle bürgerrechtlichen Alarmglocken schrillen. Hoffentlich lassen sich das die über 60.000 GEMA-Mitglieder nicht bieten, schließlich wird in deren Namen derartiges verkündet.

Wesentlich nobler geht der GEMA-Vorstandsvorsitzende Reinhold Kreile selbst mit den Problemen des Urheberrechts in der Gegenwart um. Er verweist „nur“ auf die UN-Menschenrechts-Charta: „Die Gesetzgeber in aller Welt müssen erkennen, dass das Recht des Urhebers nicht ein vom Staat gewährtes Recht ist, sondern dass dieses Urheberrecht ein vorstaatliches Recht ist. Man mag dies als Naturrecht ansehen, man mag dies als vorkonstitutionelles Recht bezeichnen, man mag dies – und dies mag ich am liebsten – als Menschenrecht postulieren, wie es in der UN-Menschenrechts-Charta, Artikel 27 (2), festgehalten ist: Jeder hat das Recht auf Schutz der geistigen und materiellen Interessen, die ihm als Urheber von Werken der Wissenschaft, Literatur oder Kunst erwachsen.“ Recht hat er der Herr Kreile, aber leider liefert er uns nur die halbe Wahrheit. Den Absatz 1 des Artikels 27 überliest er: „Jeder Mensch hat das Recht, am kulturellen Leben der Gemeinschaft frei teilzunehmen, sich der Künste zu erfreuen und am wissenschaftlichen Fortschritt und dessen Wohltaten teilzuhaben.“ Erst im Zusammenhang des kompletten Artikels wird nämlich ein Schuh draus. Aber da müsste man ja umdenken, in allen Belangen der kulturellen Verfassung einer Demokratie. Besser also, man verkauft sie alle für dumm, die da draußen. Will Herr Kreile wirklich die Erzeugnisse eines Dieter Bohlen als „Werk der Kunst, der Literatur oder der Wissenschaft“ verkaufen? Gesetzt, man nähme dieses Menschenrecht ernst, wie Reinhold Kreile es verlangt (und wer wollte dem widersprechen), dann würden sich allerdings die GEMA-Erträge erheblich verringern, denn nicht jeder Urheber schafft nach den Vorstellungen der Menschenrechts-Charta Schützenswertes. Auch die Frage, was nach dem Tode des Urhebers denn passiert, beantwortet die Menschenrechts-Charta nicht.

Da sind dann plötzlich Haken und Ösen in der Argumentation, die eigentlich auf höchste moralische Anschauungen und Werte verweisen würden. Dazu passt dann recht genau ein kleiner Blick in die englische Originalformulierung des Artikels 27, Absatz zwei: „Jeder Mensch hat das Recht auf Schutz der moralischen [statt geistigen] und materiellen Interessen, die sich aus jeder wissenschaftlichen, literarischen oder künstlerischen Produktion ergeben, deren Urheber er ist.“ Die Crux dieser Formulierung ist, dass der Begriff des Urhebers sich nicht durch Selbstverleihung ergibt. Das lässt jedoch nachfragen, wie sehr Einzelne tatsächlich Urheber von wissenschaftlichen, literarischen und künstlerischen Produkten sind und welchen Anteil Geschichte, Gesellschaft oder Gemeinschaft daran haben. Johann Wolfgang von Goethe hatte dafür übrigens ein gutes Gespür: „Im Grunde sind wir alle Kollektivwesen, wir mögen uns stellen wie wir wollen. Denn wie Weniges haben und sind wir, das wir im reinsten Sinne unser Eigentum nennen! [...] Ich verdanke meine Werke keineswegs meiner eigenen Weisheit allein, sondern Tausenden von Dingen und Personen außer mir, die mir dazu das Material boten.“ Oder Blaise Pascal: „Gewisse Schriftsteller sagen von ihren Werken immer: ,Mein Buch, mein Kommentar, meine Geschichte’. Das erinnert an jene braven Spießer, die bei jeder Gelegenheit ,mein Haus‘ sagen. Es wäre besser, wenn sie sagten: ,Unser Buch, unser Kommentar, unsere Geschichte’; wenn man bedenkt, dass das Gute darin mehr von anderen ist als von ihnen.“

Im Geist weht die Sozialität, nicht der Egoismus.

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