Banner Full-Size

„Wichtig ist, dass etwas entsteht!“

Untertitel
Ein Gespräch mit Ralf Beiderwieden, Autor von Didaktik-Büchern
Publikationsdatum
Body

Im Jahr 2008 veröffentlichte der Musikpädagoge Ralf Beiderwieden mit „Musik unterrichten. Eine systematische Methodenlehre“ sein erstes umfassendes Buch zum schulischen Musik­unterricht. 2022 folgte mit „Musik. Didaktik eines Schulfachs“ sein zweites Werk zu diesem Thema – Anlass für ein Interview, das Patrick Ehrich im Mai mit dem Autor führte.

Patrick Ehrich: Im Jahr 2008 hast du mit „Musik unterrichten“ bereits ein umfassendes Werk zum Thema Musik­unterricht veröffentlicht. Jetzt, ein gutes Jahrzehnt später, folgt „Musik. Didaktik eines Schulfachs“. Was hat dich bewogen, nochmal ein Buch zu diesem Thema zu verfassen, beziehungsweise worin unterscheiden sich die beiden Bücher hinsichtlich ihrer Grundausrichtung?
Ralf Beiderwieden: Die beiden Bücher gehören ganz eng zusammen. Die didaktische Frage ist eigentlich die elementare Ausgangsfrage: WAS will ich überhaupt behandeln, WAS will ich bewirken, WAS ist in meinem Fach überhaupt Thema?

In der Methodik geht es um die Frage: WIE kann ich das praktisch umsetzen? Wie kriege ich das hin, dass meine Musikstunde zur Moldau am Montag funktioniert? Wie kriege ich es hin, dass ein Projekt Wirklichkeit wird oder die Kinder Rhythmus lesen und spielen können? Nur: Ich bin Musik-Fachleiter, in Bayern würde man sagen: Seminarlehrer. Meine Referendarinnen und Referendare wollten dringend von mir wissen: WIE kann ich das hinkriegen, dass meine Stunde funktioniert? WIE kann ich verhindern, dass sie auseinanderbricht?

Es war immer klar, dass eine Methodik ohne Didaktik wie ein Dach ohne Haus ist. Die Didaktik musste geschrieben werden, im Stress des Alltagsgeschäftes kommt man aber nur sporadisch dazu. Viele Teile des Buches sind schon über die Jahre hinweg entstanden, es ist in vielem ein Sammelband. Aber dann ist es doch noch einmal etwas ganz anderes, das zu einem sinnvoll aufgebauten Buch zusammenzubringen. Es war tatsächlich die Corona-Zeit mit den langen Wochen des Lockdowns, die das möglich gemacht hat. Nun sind beide Bücher da, und wenn ich das richtig sehe, bin ich bisher der einzige Vertreter unseres Fachs, der sowohl eine Musikdidaktik als auch eine Musik-Methodik vorgelegt hat.
Ehrich: Du bist als Seminarlehrer mit Referendar*innen im ständigen Austausch über unterschiedliche Aspekte von Musikunterricht. Ich vermute aber, deine Zielleserschaft für „Musik. Didaktik eines Schulfachs“ ist eine andere. Für wen hast du dein neues Buch geschrieben?
Beiderwieden: Ich glaube, dass dieses Buch für viele Leserinnen und Leser nützlich sein kann.
Zunächst für Referendarinnen und Referendare, nicht nur in Oldenburg, sondern weit darüber hinaus. Angehende Musiklehrerinnen und Musiklehrer also. Was hier aufgeschrieben ist, sind ziemlich genau die didaktischen Fragen, über die wir unzählige Male im Fachseminar oder in Stundenbesprechungen miteinander gesprochen haben.

Ich stelle mir aber auch vor, dass es Interessierte aus anderen Bundesländern gibt, die gerade aus dem Interesse, was in Niedersachsen so los ist, Anregung ziehen für das, was sie in einem ganz anderen Bundesland, etwa in Bay­ern machen. Das kann dann durchaus so sein, dass etwas ganz anderes daraus wird, aber doch so, dass das Buch dafür wichtige Anstöße, Anregungen und Maßstäbe gegeben hat.

Aber es ist auch für gestandene Schulmusikerpersönlichkeiten, die gern noch einmal darüber nachdenken wollen: Was ist eigentlich das Fach Musik, das ich tagein, tagaus unterrichte?

Ich glaube aber auch, dass es für Hochschullehrende interessant ist. Musikdidaktik ist mittlerweile ein so vielfältiges, riesiges Arbeitsfeld, dass es mitunter zugeht wie beim Turmbau zu Babel. Ich glaube, wenn ich an einer Musikhochschule Dozent wäre, dann würde mich die Frage interessieren, was denn im Fach Musik in der real existierenden Schule Realität ist – und was das Fach in seinen Möglichkeiten sein könnte. So ein programmatisches, auch utopisches Buch ist ja Kestenbergs Schrift von 1921 auch. Interessanterweise bekam ich die aller­ersten Rückmeldungen aber von ein paar Freunden, die mit Musikunterricht direkt gar nichts zu tun haben: Einem befreundeten Rechtsanwalt, einem Arzt und ein paar Didaktikern ganz anderer Fächer, die es interessant fanden, in die Didaktik des Schulfaches Musik hineinzuschauen.

Vor allem aber möchte ich, dass dieses Buch etwas bewirkt, dass es dazu beiträgt, das Fach voranzubringen und zu prägen. Dafür muss das Buch lebendig sein, bodenständig und praxisnah, es darf nicht abgehoben in einer gepanzerten Sprache geschrieben sein, sondern in einer offenen, verständlichen Sprache. Ich hoffe, das ist gelungen.

Musikpädagogische Klassiker neu entdecken

Ehrich: Gleich in einem deiner ersten Kapitel widmest du dich ausführlich der Arbeit von Karl-Heinrich Ehrenforth und Heinz Antholz. Deren für die Musikpädagogik als kanonisch erachteten Werke sind nun bereits mehr als 50 Jahre alt und viele Kolleg*innen kennen diese beiden Namen vielleicht am ehesten noch aus universitären Seminaren und dem Lernen für die Staatsexamensprüfung. Aus welchem Grund lohnt es sich aus deiner Sicht heute, die Arbeit von Ehrenforth und Antholz wieder zu entdecken?
Beiderwieden: Das Buch „Unterricht in Musik“ von Heinz Antholz finde ich überhaupt nicht veraltet. Es ist so frisch wie am ersten Tag, und es ist eine Lust, darin zu lesen. Nicht Erziehung mit Musik, nicht Erziehung durch Musik, sondern Unterricht in Musik. Introduktion in Musikkultur. Daran ist nichts veraltet, finde ich. Als er vor ein paar Jahren 100 geworden wäre (2017), habe ich in meiner Zeitschrift eine kleine Zitatensammlung zusammengestellt, und es war eine Freude, das zu machen.

Das Ehrenforth-Kapitel habe ich vor ein paar Jahren als Nachruf geschrieben. Ehrenforth ist so ganz anders als Antholz. Er kommt einem zunächst tatsächlich vor wie ein Fossil aus längst vergangenen Zeiten. Sein Büchlein ist anregend, mit seinen Brückenschlägen zur Theologie und Philosophie. Von ihm habe ich gelernt, was Hermeneutik überhaupt ist, und dieses Verständnis möchte ich nicht missen. Ehrenforth ist im Kern seines Denkens ganz stramm kunstwerkorientiert geblieben, sein ganzes Leben lang.

Aber ich mache mal eben eine kleine Ausweichung. Gestern hat meine Abiturientin Veronika ihre Nachschreibklausur geschrieben, Zentralabitur 2022. In Niedersachsen haben wir jedes Halbjahr einen wechselnden thematischen Schwerpunkt. Veronika hatte in ihren zwei Jahren Oberstufe „Musik und Sprache in Renaissance & Barock“; „Bartók: Forscher, Pädagoge, Musiker“; „Motivisch-Thematische Arbeit in Streichquartett und Klaviersonate“; „Impressionismus: Primat des Klanges“. Daran siehst du, dass sich an der grundsätzlichen Kunstwerk­orientierung des Gymnasiums in Niedersachsen im Prinzip nichts geändert hat, und ich vermute, dass das in Bay­ern auch nicht anders ist. Aber dann ist doch die Frage interessant: Können wir heute noch einen Musikunterricht machen, wie ihn sich Ehrenforth in den 70er-Jahren vorgestellt hat? Oder müssen wir ihn in wichtigen Aspekten überarbeiten? Das habe ich in meinem Ehrenforth-Kapitel versucht, und ich hoffe, dass es halbwegs gelungen ist.

„Lehre vom Dritten“

Ehrich: Die Werkorientierung spielt für dich im Musikunterricht eine zentrale Rolle. In diesem Zusammenhang widmest du eines deiner Kapitel der „Lehre vom Dritten“. Ich fand dessen Ideen ausgesprochen anregend und würde dich bitten – sozusagen neudeutsch als Teaser für interessierte Leser*innen – dessen Grundgedanken kurz zusammenzufassen.
Beiderwieden: Ja, das ist ein Thema, das mich mein ganzes Leben lang begleitet und beschäftigt. Es geht im Kern um einen ganz simplen Sachverhalt, dem ich schon als Schüler zum ersten Mal begegnet bin. Da hörte ich eine Doppel-LP über die Geschichte des Jazz, und darin hieß es: Ein paar junge Spuchte in Chicago versuchten die Musik nachzuspielen, die sie auf Schallplatten aus New Orleans gehört hatten, von Louis Armstrong und King Oliver. Das klappte aber nicht mit der Kollektivimprovisation, und statt einer Übernahme – SCHUFEN SIE ETWAS NEUES. Und ich glaube, so ist es immer. In diesen Wochen versuche ich mit meinem Orchester Klasse 5–7 ein Vivaldi-Konzert zu spielen, eines von denen, die Vivaldi für seine Streichermädchen geschrieben hat. Das klappt natürlich nicht wirklich, und was herauskommt, ist natürlich nicht der originale Vivaldi. Aber ich glaube, dass es als schulmusikalisches Experiment wichtig ist, dass es die Kinder voranbringt, vor allem das Mädchen, das nach gerade mal drei Jahren Streicherklassen- und Schulorchesterspiel den Solopart einübt. Und ich hoffe, es wird schön, bin da eigentlich ganz zuversichtlich.

Vor einigen Tagen hörten wir in einer Unterrichtsstunde einen Satz aus den vier Jahreszeiten, Anne Sophie Mutter, Herbert von Karajan und die Berliner Philharmoniker. Das klang toll und umwerfend, aber das war natürlich erst recht nicht der originale Vivaldi. Es ist eine neue Produktion, und es ist eine neue Qualität. Und so ist es immer. Wir können uns gar nicht dagegen wehren.

Faszinierend daran ist, dass das eben in beiden Richtungen gilt, ich nenne das immer „W“ und „M“: Beim Musikmachen („M“). Aber auch umgekehrt: Beim Sprechen über Musik, also „W“ wie „Werk, Wort, Wissenschaft“. Wenn ich mit Jugendlichen über Schützens geistliche Chormusik spreche, dann spreche ich auch über venezianische Mehrchörigkeit, über den dreißigjährigen Krieg, über protestantische Kirchenmusik, vielleicht über Psalmen und Psalmvertonungen. Damit bringe ich aber meine modernen Vorstellungen mit hinein. Wusste denn Schütz, was der „Dreißigjährige Krieg“ ist? Wie sollte er denn 1648 so definitiv wissen, dass es vorbei ist? Und wenn meine Schülerin Veronika darüber schreibt, dann bringt sie erst recht ganz andere Sichtweisen hinein, sie kennt ganz andere Dinge und hat ganz andere Filter.

Dazu gehört eben auch, dass wir über Musik direkt beinahe gar nicht sprechen können, sondern fast immer nur in Metaphern. „Hoch“ und „tief“, „abgehackt“ und „Klangfarbe“: Metaphern über Metaphern. Dieses Bild dazwischen ist wie eine Leinwand, eine doppelte Projektionsfläche, ein Schirm zwischen den Jugendlichen und dem Werk. Es ist etwas vom Objekt darin; und es ist etwas von den Kindern darin. Diesen Sachverhalt gilt es zu akzeptieren, aber wir dürfen ihn auch wertschätzen: Denn er bedeutet, dass ich für das, was die Jugendlichen und Kinder zustande bringen, Bewunderung und Respekt haben darf und soll. Sowohl im Musizieren als auch im Sprechen über Musik.

Vom Ethos des Übens

Ehrich: Du hast in deinem Buch ein komplettes Kapitel dem Aspekt des Übens gewidmet. Das mag einerseits nicht überraschen, schließlich handelt es sich hier um ein Buch über Musikunterricht. Auf der anderen Seite ist es ein Buch über schulischen Musikunterricht. Wie kann „Üben“ im schulischen Musikunterricht ein relevantes Thema sein oder werden, besonders in einem Fach, das mit seiner Ein- oder Zweistündigkeit unter notorischen Nachhaltigkeitsproblemen leidet?
Beiderwieden: Ich bin seit 2004 auch mit Leib und Seele Streicherklassenlehrer. Wenn ich eine Streicherklasse unterrichte, dann wird geübt – so richtig fleißig! Wir haben heute an der Filmmusik von „Titanic“ gearbeitet. Wir haben zwei Stunden mit drei Lehrkräften daran geübt. Ich glaube, dass das Üben im Streicherklassenunterricht wirklich eine zentrale Rolle spielt. Das kann man als Nachteil sehen und sagen: „Da geht so viel Zeit fürs Üben drauf!“ Man kann aber auch gerade sagen: „Durch dieses intensive Üben kann ich ein Stück weit eine positive Grundeinstellung gegenüber der Bedeutung des Übens vermitteln.“

Diesen „Ethos des Übens“ kann man auch übertragen auf das Sprechen über Musik: Dieses ständige Umgehen mit Begriffen, diese Vertrautheit, die entsteht, wenn wir Dinge immer wieder von einer anderen Seite betrachten und doch wieder zur selben Sache zurückkommen, wenn wir Probleme lösen und das integrieren in das, was wir schon wissen – wenn wir das beständig verfolgen, kommen wir an den Punkt, an dem junge Menschen irgendwann ihr Abitur in Musik schreiben können.
Ehrich: Du bist ein Autor, der sich durchaus auch streitbar äußert. Besonders ist mir dies beim Thema Kompetenzorientierung aufgefallen. Wo gibt es deiner Meinung nach Defizite beim aktuellen Diskurs hinsichtlich Kompetenz/en und Musikunterricht?
Beiderwieden: Das Drama ist, dass aus einem Begriff, der eine Ganzheit meint, ein Erbsenzählerbegriff geworden ist. Kompetenz – im SINGULAR – heißt, dass jemand in der Lage ist, eine Situation zu meistern. Ein Projekt, eine schwierige Herausforderung, eine Krise. Dazu braucht es eine Menge kleine Dinge, die man können muss, aber Kompetenz meint im Kern, dass alle diese Dinge zusammengebracht werden. Aber jetzt kommen Richtlinien heraus – oder „Kerncurricula“, so nennt man das ja wohl heute; und da stehen dann 40, 50, 60 „Kompetenzen“ (im PLURAL); und dann gehen die Fachgruppen zum Teil daran und gehen einen Spiegelstrich nach dem anderen durch und entscheiden, anhand welcher Lehrbuchseite welches Kompetenzchen vermittelt werden soll. Was dabei herauskommt, ist dann aber ein Glas voller kleiner Erbsen. Mit Kompetenz im Sinne von „Befähigung zur Verwirklichung“ hat das nichts zu tun. Wohlgemerkt: Ich finde „KOMPETENZORIENTIERUNG“ wichtig. Ich finde, dass es Leitlinie unseres Handelns sein muss, dass unsere jungen Menschen KOMPETENT werden: also eines Tages möglichst in der Lage sind, die Situationen zu meistern, die sich ihnen in den Weg stellen.

Schulmusik als Teil von Musikkultur

Ehrich: Ein weiterer Begriff, dem du viel Platz in deinem neuen Buch widmest, ist „Schulmusik“. Leo Kestenbergs 1921 erschienene Schrift „Musikerziehung und Musikpflege“ gilt auch als Geburtsort für diesen Begriff. Seit den 2000er-Jahren gibt es immer wieder Stimmen, die diesen aber für überholt halten. Weswegen ist „Schulmusik“ in deinen Augen auch heute ein wichtiges und notwendiges Konzept?
Beiderwieden: Ich finde, dass es wichtig ist, dass Schule ein Ort ist, an dem Musik erklingt, von Kindern und Jugendlichen gesungen und gespielt, und zwar so gut, so intensiv und so vielfältig, wie es mit den Mitteln der Institution Schule möglich ist. Mit so vielen Kindern und Jugendlichen, wie es überhaupt nur geht. Schule ist Kulturraum par excellence. Oldenburg ist eine Stadt mit 150.000 Einwohnern. Was in den Schulen passiert, ist ein wesentlicher Teil der Kultur in dieser Stadt. Dafür gilt es ein Bewusstsein zu schaffen. Dafür gilt es mit großer Energie, mit Tatkraft und Spaß an der Sache Aufbauarbeit zu leisten. Alle zwei Jahre machen wir in Oldenburg ein großes Schülerkulturfestival, „Walk’n’Art“, und ich höre mir mit Freude und Staunen an, was dabei zusammenkommt. Es ist ein Doppeltes: Schulmusik ist ein wesentlicher Teil der Musikkultur. Und umgekehrt: Musikkultur ist ein wesentlicher Bestandteil des Schulauftrags.

Ausführliche Abteilung zur Schulmusik

Übrigens nicht nur im neuen Buch, auch in der Methodik gibt es eine ganze Abteilung über Schulmusik. Ich glaube, das ist ein fundamentaler Unterschied zu allen anderen Musikdidaktik- und Musikmethodik-Büchern, die ich kenne.

Nun noch ein wichtiger Zusatz: Eine Schulmusik mit Chören und Orchester, Big Band und Konzerten aufzubauen, ist wichtiges Kernstück des Fachauftrags, aber es ist nicht das Ganze, sondern nur ein Teil. Das Singen und Musizieren im Klassenzimmer gehört genauso dazu, und das ganze Musik-Hören und darüber Sprechen und die ganze Beschäftigung mit Musik in der Schule. Wenn wir „Schulmusik“ sagen, ist es gewissermaßen pars pro toto, so nennen die Lateiner das ja wohl: Das Wort für einen wichtigen Teil steht für das Ganze.

Singen: ein Tor zur Welt

Ehrich: Das Fach Musik hieß vor Kestenbergs Reform meist nur „Singen“ oder ähnlich. Nach wie vor ist das Singen im Klassenverband ein Kern­aspekt von schulischem Musikunterricht und wird nahezu in allen Lehr- und Bildungsplänen an erster Stelle aufgeführt. Du widmest dem Singen auch ein eigenes Kapitel – aber trotzdem habe ich das Gefühl, dass bei deinem Bild von Schulmusik das Singen im Klassenverband nicht höchste Priorität genießt. Weswegen sollten wir deiner Meinung nach im Klassenverband mit Kindern und Jugendlichen singen?   
Beiderwieden: Ich glaube, das hängt ein bisschen davon ab, wie man das Wort „höchste Priorität“ versteht. Ein Lateiner würde sagen: Als Superlativ oder als Elativ. Singen ist im höchsten Sinne wichtig, und die Katastrophe, die Corona angerichtet hat, und die Singverbote in der Schule sind in ihrem Ausmaß noch überhaupt nicht abzuschätzen. Du weißt, dass ich Singen in einem prominenten Kapitel als „Anthropologischen Primärzustand“ bezeichnet habe. Die Welt dreht sich und verändert sich, aber Singen ist heute noch genauso wichtig wie zu Zeiten der Christenverfolgung im alten Rom, und es wird noch wichtig sein, wenn das Wort „Musikdidaktik“ längst vergessen ist.

Zum Weinen schön fand und finde ich Dankmar Venus’ Erzählung vom 50-jährigen Klassentreffen, wo die ergrauten einstigen Schulkinder auf Zuruf zu singen anfingen, einer nannte eine Seitenzahl, jemand schlug das Buch auf, sagte den Titel, und dann fingen die alten Herrschaften auswendig zu singen an, Lied um Lied, manche Kanons darunter und einige Lieder mehrstimmig. Das ist umwerfend und rührend, das kann man gar nicht hoch genug würdigen.

In meinem Kapitel habe ich ja auch geschrieben: Musikunterricht ist viel mehr als nur Singen. Und es gibt andere Dinge, die sind von gleicher Wichtigkeit und manche vielleicht sogar noch ein bisschen wichtiger; insofern: Nein, im Sinne eines Superlativs hat Singen nicht eine höhere Priorität als alle anderen Inhalte und Aktionsformen. Aber, wie ich ja geschrieben habe: Ein Musikunterricht, in dem nur gesungen wird, ist vermutlich immer noch besser als ein Musikunterricht, in dem wenig oder gar nicht gesungen wird.

Beim Nachdenken über diese Frage ist mir ein Gedanke gekommen, ich weiß nicht, ob er von mir ist und ich weiß nicht, ob ich das schon erklärt kriege. Aber mir scheint, dass es auch für das Singen nicht gut ist, wenn im Musikunterricht nur gesungen wird. Wenn es dabei bleibt, dann werden nicht nur andere Inhalte des Musikunterrichts verschlossen, sondern auch ganze Universen des Singens. Ich hatte eine Kollegin, die sang mit ihrem Kammerchor das Deutsche Magnificat von Heinrich Schütz, und das war ein wirkliches Erlebnis. Dazu braucht es aber mehr als nur Singstunden. Da muss man sich auch richtig Zeit nehmen und hören und darüber sprechen, was in so einer Komposition los ist und was die riesige europäische Bibliothek der Musik seit dem Mittelalter auf die Beine gestellt hat und warum das toll und wichtig ist. Das gilt übrigens nicht nur für die Jugendlichen. Eine Musiklehrkraft, die jahrein, jahraus an denselben 50 Seiten Liederbuch klebt, mauert sich selbst ein. Wie soll sie dann den Kindern die Welt der Musik erklären?

Aber ich merke gerade, das ist gar nicht die eigentliche Frage nach dem WARUM des Singens im Klassenverband. Also: Warum? – weil Singen mehr als irgendetwas sonst die Sprache der Seele ist. Weil Singen im Klassenverband die Menschen verbindet – die Kinder untereinander und dann im Konzert die Familien, die Schulgemeinschaft, all das. Weil Singen sich toll anfühlt und gesund ist. Weil Singen dazu beiträgt, Identität und Selbstwertgefühl aufzubauen. Weil Singen Wege bahnt zum Weltkulturerbe der gesungenen Musik. Die Liste ließe sich fast beliebig fortsetzen. Nur zuletzt noch: Weil es den Kindern – und mir selbst – einen Bärenspaß macht.

Bücher über Musik und Schule

Ehrich: Und jetzt zwei kurze Fragen zum Schluss:
1. Welches Buch über Musik würdest du uns Kolleg*innen empfehlen?
Beiderwieden: Hm. Ich muss dazu sagen, ich lese sehr langsam – und dadurch in der Menge sehr wenig. Andere kennen viel mehr Bücher als ich.

Also, drei Bücher, die ich ziemlich dringend empfehlen würde, sind „Musik. Didaktik eines Schulfaches“ und „Musik unterrichten. Eine systematische Methodenlehre“. Sowie Dankmar Venus’ „50 Jahre erlebte Musikpädagogik“. Aber ich glaube, das ist nicht die Zielrichtung deiner Frage.

Ein Buch, das ich tiefer bewegend fand als irgendein anderes – und ich meine, dass Menschen, die irgendeinen Berührungspunkt dazu haben, das gelesen haben sollten – ist „The Inextinguishable Symphony“ von Martin Goldsmith. Man sollte es übrigens unbedingt im englischen Original lesen! Es ist stilistisch meisterlich. Der Autor war viele Jahre lang Klassik-Kommentator bei NBC Radio. Er schreibt in diesem Buch die Geschichte seines Vaters Günther und seiner Mutter, Rosemarie Gumpert, die im jüdischen Kulturbundorchester gespielt haben, erst in Frankfurt, dann in Berlin, und die um Haaresbreite aus Nazi-Deutschland entkommen sind. Sein Großvater und sein Onkel Helmut, der Schüler des Alten Gymnasiums Oldenburg war, sind in Auschwitz ermordet worden. Dieses Buch habe ich mehrfach gelesen, erst für mich allein, danach mit mehreren Oberstufenkursen, und mehrfach haben wir es als Buchgeschenk zum Abi überreicht. Es ist kürzlich verfilmt worden, im Film „Winterreise“ mit Bruno Ganz. Es war dessen letzte Filmrolle: ein Film über Liebe und Musik in Nazi-Deutschland.

Ich selbst lese in diesen Tagen Manfred Bukofzer, habe größere Teile der „Medieval and Renaissance Studies“ gelesen und studiere mich gerade in „Music in the Baroque Era“ hinein. Beides großartige Bücher. Bukofzer war Abiturient des Alten Gymnasiums Oldenburg, Abi-Jahrgang 1928, glaube ich, ich möchte ihn in unserer Jubiläumsschrift „450 Jahre…“ würdigen.
Ehrich: Welches Buch, das sich nicht mit Musik oder Musikpädagogik beschäftigt, hat dich in deiner Arbeit besonders beeinflusst?  
Beiderwieden: Nicht ganz leicht zu beantworten, die Frage. Ich würde dir gern ein „schönes“ Buch nennen. Aber es gibt ein Buch, das hat mein pädagogisches Weltbild wirklich mehr erschüttert und auf den Kopf gestellt als irgendein anderes. Das ist die PISA-Studie, PISA 2000. Bis 2000 fand ich unser Schulsystem in Deutschland ganz prima, und ich glaube, ich habe etwas hochnäsig auf Italien und andere Länder herabgeschaut. Die haben im Prinzip mehr ein Einheitsschulsys­tem, das bis Klasse 8 geht, und die machen seit jeher das, was wir heute „Inklusion“ nennen, und sie hatten damals kanonische Lehrwerke, die so ähnlich hießen wie „Das System der Literatur“. Ich hielt das damals, als ich 1992 nach Italien kam, für einen kompletten Irrweg. Dann kam die PISA-Studie. Später habe ich Don Milanis „Lettera a una professoressa“ gelesen („Die Schülerschule von Barbiana“). Und diese beiden Bücher zusammengenommen haben mich dazu bewogen, fundamental umzudenken und anders an die Sache heranzugehen.
Interview: Patrick Ehrich

Ralf Beiderwieden ist Musiklehrer am Alten Gymnasium Oldenburg, Fachleiter für Musik am Studienseminar Oldenburg und Mitglied im Landesvorstand des VDS Niedersachsen.
Sein Buch „Musik. Didaktik eines Schulfachs“ ist erhältlich über werribindfaedele.de

 

Print-Rubriken
Unterrubrik
Musikgenre