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Wilder Tanz und sechs Scheiben

Untertitel
Zum Musikprotokoll im 30. Steirischen Herbst in Graz
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Beim diesjährigen Steirischen Herbst in Graz wurde es wieder einmal deutlich: Die Postmoderne ist, eh’ sie noch recht Fuß gefaßt hat, schon wieder out. Ihre Prinzipien der Verwaltung hergebrachter Kunst und Ästhetik, ihre modernistischen Verpackungsstrategien, ihr wahllos denkfaules Herumstöbern in den Winkeln der Welt – so jedenfalls stellte sie sich im Bereich der Musik im wesentlichen dar –, hat aufgrund der Irrelevanz der Ergebnisse ausgedient. Sie war wohl nicht viel mehr als eine, gewiß notwendige, pubertäre Drohgebärde gegen ehemalige Verhärtungen der Avantgarde. Nach dem „It’s-all-easy“- und „Anything-goes“-Aufbegehren macht man es sich nun nicht mehr so leicht. An einem neuen, tragfähigen Vokabular wird gearbeitet. Das Musikprotokoll in Graz wies, vielleicht zufällig, dennoch aber einer übergeordneten Gesetz-mäßigkeit gehorchend, Knotenpunkte vor, an denen schöpferisches Tun sich heute ausrichtet, zumindest sich ausrichten könnte. Der Abschied von der Zwölftönigkeit, also dem System, an dem sich die abendländische Musik spätestens seit Entwicklung der temperierten Skala vor drei Jahrhunderten ausrichtet, scheint endgültig eingeläutet. Der Weg dürfte auch nicht in die Richtung einer starren Unterteilung des Tonbereichs in Viertel- oder Sechsteltöne gehen, den schon in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts Protagonisten wie Hába oder Wyschnegradsky beschritten. Das Unbestimmte oder Unbestimmbare und auf der anderen Seite die natürlichen Schwingungsphänomene eines Tons oder Klangs, wie sie sich aus den Obertönen ergeben, werden zu neuen Stützpunkten schöpferisch musikalischer Ansätze. In Graz war verblüffend wahrzunehmen, von wie vielen un-vereinbaren Positionen sich diesen Aspekten genähert wird. Und im eher enttäuschenden Orchesterkonzert mit dem Radio Sinfonieorchester Wien unter Dennis Russell Davies wurde vor allem in den weithin konventionellen Kompositionen von Wolfgang Liebhard („Orchester“) und der von US-amerikanischer Neoromantik berührten 2. Sinfonie der Exilchinesin Chen Yi vernehmbar, wie verstaubt irrelevant Arbeiten wirken, die so tun, als seien sie von den ästhetischen Verwerfungen und Umdenkprozessen der letzten Jahre weitgehend unberührt geblieben. Spannend, wenn auch immer etwas quadratisch dem eigenen System konform wirkend, waren die Kompositionen von James Tenney, der mit den drei Werken „Cognate Canons“, einem Streichquartett mit Schlagzeug, das dem vor kurzem verstorbenen Conlon Nancarrow gewidmet ist, dem Orchesterwerk „ ‘Scend for Scelsi“ und dem Klavierquintett „Diaphonic Study“ gewissermaßen eine Achse des Musikprotokolls bildete. Tenney, der ebenso mit Computertechniken, mathematisch rhythmischen Prozessen als auch mit Formen von nichttemperierten Skalen experimentiert, ist in Europa noch immer relativ unbekannt. Sein Werk wird sich einmal als gewaltige Materialsammlung in bezug auf nichtkonformierte musikalische Ansätze herausstellen. Auch die eben 30jährige Engländerin Rebecca Saunders, die mit den Kompositionen „G and E on A“ für Orchester und „String Quartet“, gespielt vom Arditti Quartett, verteten war, konnte Momente der Spurensuche erfrischend mit spontan wirksamen Klangerlebnissen verbinden. Das Orchesterwerk endete in einem stringenten Prozeß mit dem Geklingel von 27 Spieldosen. Konsequent stieß Georg Friedrich Haas in seinem 1. Streichquartett in neue harmonische Erfahrungsbereiche vor. In einem ausgeklügelten Stimmungssystem der 16 Saiten (die Musiker dieses Protokolls hatten sich immer wieder mit unkonventionellen Einstimmübungen auseinanderzusetzen) wurden vor allem durch Flageoletts eigenartig reine Zusammenklänge erzeugt – fast statisch durch wiederholtes, starres Anspielen der Töne. Das Werk hatte etwas von einem Materialkatalog, ein Katalog freilich, in dem man interessiert zu blättern beginnt. Ähnlich konsequent und radikal eine Idee verfolgend, wirkte Peter Ablingers „Das Blaue vom Himmel“. Seit Jahren schon kreist Ablingers Denken um Phänomene des Rauschens, das er durch dichte Überlagerungen von musikalischen Prozessen erzeugt. Hier ließ er ein Solo-Cello über computertechnische Verfahren zu einem außerordentlich vielstimmigen Kanon mit extrem kurzen Einsatzabständen verdichten. Aus der Bewegung des Soloinstruments resultierte der Eindruck eines statischen Klangbandes, in das die Fortschreitung des Ausgangsimpulses als differenzierte Form der Klangfärbung Eingang fand. Es war ein Musikprotokoll, das seiner programmatischen Intention, progressive geistige Anstöße der Gegenwart mitzuschreiben, auf glückliche Weise gerecht wurde. Eine aufregende Wiederbegegnung gab es mit Hanspeter Kyburz’ Werk „The Voynich Cipher Manuscript“, das vor zwei Jahren schon in Donaueschingen unter ungleich schlechteren Bedingungen Aufsehen erregt hatte. Das ganz hervorragend disponierte Klangforum Wien unter Peter Rundel war auch für die Uraufführung seiner „Danse aveugle“ zuständig, die zu den am meisten beachteten Uraufführungen zählte. Mit fraktalen Rhythmusstrukturen und algorhythmischen Berechnungsmodellen ausgestattet – gewissermaßen hautnah am Puls der Zeit –, gelang ein frappierend sinnliches Bild eines Tanzes, der in seiner Wildheit zu taumeln beginnt. So feierte man die 30. Wiederkehr des steirischen Großereignisses – und als Präsent gab es eine sechsteilige CD-Dokumentation, die das bislang Erarbeitete ins Gedächtnis ruft.

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