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Zwei in einer großen Stadt

Untertitel
Ein fulminantes Buch über die Familie Kollo und die leichte Muse in Deutschland
Publikationsdatum
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Es sind immer noch Evergreens, manche schon fast hundert Jahre alt: „Immer an der Wand lang“, „Das war sein Milljöh“, „Zwei in einer großen Stadt“ oder „Die kleine Bank am Großen Stern“. Text und Musik meist von einem der mitunter kaum zu unterscheidenden Kollos: Vater Walter (1878–1940) und Sohn Willi (1904–1988), beide urmusikalische Talente, die das leichte und doch so geistreiche Genre von Schlager und Operette in Berlin über Jahrzehnte geprägt haben. Beide durchlebten Höhen und Tiefen gleichermaßen: rauschende Erfolge mit Melodien, die bis heute volkstümlich sind und gesungen werden, Abgründe aber auch, weil sie sich entweder finanziell übernahmen oder – nach 1933 – nicht so auf Linie waren, wie es die braunen Machthaber wollten.

Noch heute gibt es die Kollo-Verlagsgesellschaft, die von Marguerite Kollo, der Tochter Willi Kollos (und Schwester des Sängers René Kollo) geleitet wird. Vor Jahren fand sie im väterlichen Nachlass ganze Berge beschriebener, aber völlig ungeordneter Blätter; es handelte sich, wie sich rasch zeigte, um eine Art Lebensgeschichte, die sich Willi Kollo in den 60er- und 70er-Jahren gleichsam von der Seele geschrieben hatte. „Ich habe mich mit diesem Buch in die psychiatrische Behandlung meiner selbst begeben“, woraus man schließen kann, dass Kollo nicht unbedingt an eine Veröffentlichung gedacht hat. Vielmehr wollte er, das spürt man auf fast jeder Seite, das Trauma familiärer Sorgen und Ungereimtheiten mit diesen Notizen fortschreiben. Der Herausgeberin Marguerite Kollo ist zu danken, dass sie nach anfänglichem Zögern den Nachlass geordnet und nun in diesem Buch vorgelegt hat. Denn über die persönlichen Probleme der Kollos hinaus ist es ein fulminantes, außerordentlich informatives und ungemein geistreiches Buch über die von den Kollos geprägte leichte Muse in Deutschland zwischen 1900 und 1950 geworden.

Die Kollos – mit dem spröden Geburtsnamen Kollodzieyski – stammten aus Königsberg. Im Jahre 1902 hatte Walter Kollo den Sprung nach Berlin gewagt, wo er schon bald mit eingängigen Melodien auffiel und bis 1914 als Texter, Komponist und Dirigent zum Meister der leichten Muse wurde, der mit gefeierten Stars wie Fritzi Massary, Max Pallenberg, Claire Waldorff und vielen anderen ein Erfolgsstück nach dem anderen auf die Bühne brachte.

Der 1905 nachgeholte Sohn Willi wuchs in einem gleichermaßen turbulenten wie hektischen Künstlermilieu auf. Er litt unter der wachsenden Entfremdung seiner Eltern und verlangte als 14-Jähriger, in ein Internat zu kommen. Die Eltern reagierten betroffen, akzeptierten aber den Wunsch des Jungen, der dann fast bis zum Abitur in Blankenburg am Harz lebte und hier als Vortragender eigener und fremder Texte sofort großen Erfolg hatte, ein Erfolg, der sich dann, zurück in Berlin, seit Anfang der 20er-Jahre mit eigenen Liedern und Texten sowie in der Zusammenarbeit mit dem Vater rasant steigerte. In der NS-Zeit geriet er – vermutlich gewollt – etwas ins Abseits, brachte aber dennoch zahlreiche populär gewordene Melodien heraus.

Das Buch hat zu Recht den Untertitel „Literarisch-musikalische Erinnerungen“. Willi Kollo war nicht nur bei Operette und Kabarett zu Hause; er kannte die großen Dramatiker und Schauspieler seiner Zeit, begeisterte sich für Walter Rathenau, setzte sich mit Oswald Spenglers düsterem Buch „Der Untergang des Abendlandes“ auseinander und hatte die Genugtuung, dass sein 1954 am Deutschen Theater in Göttingen von Heinz Hilpert uraufgeführtes Stück „Eine Frau, die ich kannte“ zu freundlichen Vergleichen mit dem damals im Zenit seines Ruhmes stehenden Carl Zuckmayer führte.

Wohl weil die Aufzeichnungen eher ein persönlicher Rechenschaftsbericht über zwei Künstlerleben sein sollten, nicht eine bewusst ausgefeilte Darstellung, berühren sie in besonderem Maße. Durchweg freundlich und genau charakterisiert werden unzählige Künstler vorgestellt; der Leser nimmt teil an der Freude über erste große Erfolge vor dem Ersten Weltkrieg, er erlebt die fiebrigen Jahre der Weimarer Republik, lebensbedrohliche Situationen nach 1933 und dann den schwierigen, aber geglückten Neubeginn nach 1945, zuerst in Hamburg, dann wieder in Berlin. Ganz ohne nostalgische Absicht geschrieben ist das Buch gleichwohl ein anrührender Rückblick auf ein Stück Musikgeschichte, das in seinen leichten, aber nie albernen Texten und Melodien bis heute im allgemeinen Bewusstsein fortlebt, wovon auch die beigefügte CD als „musikalische Visitenkarte“ ein schönes Zeugnis ablegt.

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