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Erste Preisträger in der Quartettkategorie: das Quatuor Arod. Foto: Daniel Delang
Erste Preisträger in der Quartettkategorie: das Quatuor Arod. Foto: Daniel Delang
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Zwischen Hornhaut und Augen-Blicken

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Eindrücke vom ARD-Musikwettbewerb 2016
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Zunächst die gute Nachricht: Der ARD-Musikwettbewerb in München, jetzt in seinem 65. Jahr, wird nicht etwa in den Ruhestand versetzt – nein, er blüht weiter, jetzt unter der neuen künstlerischen Doppelspitze von Oswald Beaujean und Meret Forster aus dem BR-Klassik-Team. Immerhin gehört er mit seinem Format zu den ältesten, traditionsreichsten und wohl auch angesehensten 8nternationalen Musikwettbewerben, ähnlich wie die von Genf, Brüssel und Leipzig. Wie diese hat er sich seit 1950 die Findung und Förderung des Musikernachwuchses zur Aufgabe gemacht. Der ARD-Musikwettbewerb ist auch der umfassendste. In mehrjährlichem, mehr oder weniger geheimnisvollem Turnus schreibt er neben Sologesang nahezu alle Instrumentalfächer der klassischen Musik aus.

Da sich der ARD-Musikwettbewerb an den professionellen Musikernachwuchs wendet, sind seine Ansprüche hochgesteckt. Vier Bewertungsrunden mit differenziertem Programm sind durchzustehen, solistisch ohne und mit (eigenem oder gestelltem) Klavierbegleiter sowie im Semifinale und in der Finalrunde mit zwei verschiedenen Orchestern, dem Münchner Kammerorchester und dem Sinfonieorchester des Bayerischen Rundfunks. Die Kandidaten dürfen ihr Vorspielprogramm aus einer Wahlliste selbst zusammenstellen, durch alle Epochen und Stilbereiche der klassischen Musik bis hin zur Klangwelt der Gegenwart.

Schließlich warten auf die Sieger nicht nur attraktiv hohe Preisgelder, für Solisten zwischen 5.000 und 10.000 Euro, für Streichquartett zwischen 12.000 und 24.000 Euro, und für die könnte es ein wenig mehr sein. Erfreulicherweise erweitert sich auch in diesem Jahr die Liste der gesponserten Sonderpreise, seien es Geld oder Sachwerte für ganz besondere Leistungen, seien es weitere Karriere-Einstiegshilfen mit über hundert Konzert- und Tournee-Angeboten. „Um die Konkurrenzsituation eines Wettbewerbes zumindest nachträglich in das Erlebnis eines musikalischen Miteinanders zu verwandeln“ – so begründet die Leitung des ARD-Wettbewerbes die Einrichtung ihres sich an den Wettbewerb anschließenden Festivals der ARD-Preisträger, die für eine Konzertreihe gemeinsam Kammermusikwerke einstudieren und diese an verschiedenen Orten aufführen. Solche Förderangebote locken eine hohe Bewerberzahl aus aller Welt, rund 85 Prozent aus dem Ausland. Das erfordert, aus den eingesandten Tonaufnahmen von einer Vorjury eine anonyme Auswahl treffen zu lassen: etwa 35 je Instrumentalfach.

Quartett-Sternstunden

Der zunehmend beengte Arbeitsmarkt für Musiker initiiert offensichtlich die Gründung junger Ensembles, die künstlerisch und organisatorisch eine Eigendynamik entwickeln, ohne Einbindung an ein Orchester. So erklärt sich auch deren Bemühen, in der zunehmenden Zahl neuer Wettbewerbe Aufmerksamkeit zu finden. Im ARD-Musikwettbewerb gehörte die klassische Kammermusik zum festen Angebot, künftig aber – und das ist die schlechte Nachricht – soll die Ausschreibung einer Ensemblebewertung wohl nur noch alle zwei Jahre erfolgen, die nächste 2018 für Klaviertrio, neben Gesang, Viola, Trompete. Und dann irgendwann Bläserkammermusik.

Die Einladung von Streichquartetten, bislang als Quadriennale, brachte dem ARD-Wettbewerb einen besonderen Glanz. Das rechtfertig ein paar detaillierte Eindrücke. Zwanzig Ensembles hatten sich diesmal beworben, neun wurden zugelassen. Von Runde zu Runde reduziert sich die Teilnehmerzahl auf fünf, dann auf vier und schließlich auf drei Finalisten. Die auf mehrere Tage verteilten öffentlichen Wertungsspiele bescherten Münchens Kammermusik-erfahrenem Publikum rund 25 Sternstunden mit Streichquartetten, Interpretationen zwischen Haydn und den uraufzuführenden BR-Auftragskompositionen. Dieses Mitfiebern beim Quartett-Nachwuchs für Morgen brachte durchgehend volle Säle, im Foyer heftigen Austausch der Meinungen. So gab es bei der Stimmabgabe für den Publikumspreis markante Abweichungen von der Jury. Diese hatte den 1. Preis dem hochprofessionell agierenden französischen Quatuor Arod zugesprochen, das Publikumsvotum allerdings landete bei dem mit dem 2. Preis ausgezeichneten deutschen Aris-Quartett. Das vor drei Jahren in Frankfurt gegründete junge Ensemble, von Hubert Buchberger initiiert und betreut, bestach durch seine außerordentliche kultivierte und frische Art der Kommunikation, beobachtet zum Beispiel im Schlusskonzert bei Haydns „Reiter-Quartett“: wie es funkt, wie sich die Quartettler gegenseitig zuspielen; ihre Mimik – die kurzen Augen-Blicke, ein huschendes Lächeln – zeigen die Freude am Gelingen, Musik entstehen zu lassen und zu spüren, wie ihre Musik ankommt.

Das mit dem 1. Preis bedachte französische Quatuor Arod, beim Artemis-Quartett geschult, den Fußstapfen des Quatuor Ebène folgend, faszinierte mit seinem professionellem Auftritt. Der zeigte sich extrem leidenschaftlich beim dritten Bartók-Quartett. Das passte zu dessen rauer, aggressiver Sprache mit ihren geheimnisvollen, dissonierenden Klangfetzen. Das japanische Quartet Amabile, 3. Preis, hatte sich die siebensätzige tiefsinnige Sternennacht „Ainsi la nuit“ gewählt, um sie klanglich nachzuerleben, einst ein Auftragswerk der Koussevitzky Foundation an Henri Dutilleux für das Juilliard String Quartet. Die drei zierlichen Musikerinnen mit ihrem Cellisten fanden im Ablschusskonzert zu einer erstaunlich brillanten Präsenz. Mit eleganten, allen dem Instrument verfügbaren Techniken suchten sie dem stupenden Wechsel von Tempi, Klang, Harmonik und Rhythmen zu entsprechen.

Zu den fünf Ensembles aus Italien, Großbritannien, Frankreich und Deutschland, die die 2. Runde erreichten, gehörte aus Deutschland das in München beheimatete Goldmund-Quartett, das zur Zeit in der Förderung des Deutschen Musikrates steht. Nach ihrer formidablen Wiedergabe von Wolfgang Rihms Quartett Nr. 4, Anton Weberns Bagatellen und Nikolaus Brass’ „etchings“ hatte im Semifinale die Interpretation von Mozarts Dissonanzenquartett wohl auch unter den Juroren zu Dissonanzen geführt, sodass ihnen der Weg ins goldene Finale verwehrt blieb. Bis in die 2. Runde kam das Giocoso Streichquartett Wien mit vier junge Musikern aus Rumänien, den Niederlanden und aus Deutschland. Vorher hängen blieben die weiteren Ensembles aus Italien, Frankreich, Großbritannien.

Das Kernstück des ARD-Wettbewerbes wird in jeder Kategorie begleitet von einer gnadenlosen Beurteilung einer mit sieben Experten besetzten internationalen Jury, wenigstens sechs aus unterschiedlichen Nationen, nur zwei aus Deutschland, darunter einige, die vor Jahren selbst Preisträger des ARD-Wettbewerbes waren. Einen höheren Erfahrungswert als eigene, jahrelange Quartettspiel- und -literaturpraxis kann man sich für die Zusammensetzung einer Jury in der Kategorie Streichquartett nicht wünschen: Mathieu Herzog (Frankreich), 2004 mit dem Quatuor Ebène 1. Preisträger im ARD-Wettbewerb, Kazuhide Isomura (Japan) 2070 mit dem Tokyo String Quartet 1. Preisträger im ARD-Wettbewerb, Corina Belcea (Großbritannien) Gründungsmitglied des Belcea Quartet, Günter Pichler (Österreich), Gründer des Alban Berg Quartetts, Christoph Poppen, früherer erster Geiger im Cherubini-Quartett, Petr Prause (Tschechien), Cellist im Talich Quartet, Kyril Zlotnikov (Israel/Portugal) Cellist im Jerusalem String Quartet. Von einem solchen Gremium bewertet und beraten zu werden und sich mit anderen Ensembles messen zu dürfen, ist schon Ehre, Ansporn und Gewinn, ganz gleich ob und welche Auszeichnung damit verbunden ist.   

Horn, Harfe und Hornhaut

Harfe, Horn und Kontrabass, die diesjährigen Wertungsinstrumente, gehören nicht gerade zu den vorrangigen Publikumslieblingen. Dennoch bescherte die Öffentlichkeit den jungen Solisten dieser Instrumente eine gehörige Achtung mit wohlgefüllten Konzertsälen im Bayerischen Rundfunk, in der Musikhochschule, im Gasteig und im Prinzregentensaal. Für diese weniger beachteten Instrumente begegnet man hier einer reichhaltigen Spielliteratur verschiedenster Stilbereiche, zunächst solistisch interpretiert, ab dem Semifinale –  was für ein Service für den künstlerischen Nachwuchs! -–mit dem Münchner Kammerorchester mit seinem Konzertmeister Daniel Giglberger und dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter dem Dirigat des an internationalen Konzert- und Theaterhäusern praxisbewährten Constantin Trinks. Er versteht es, den wenig orchestererfahrenen jungen Solisten mit Einfühlungsvermögen zum erfolgreichen Finalauftritt zu verhelfen.

Den Wettbewerb für Harfe nach einer Pause von sieben Jahren hätte man fast alleine unter französischen, deutschen und österreichischen Musikerinnen austragen können, die die Hälfte der Bewerber ausmachten, nur drei Männer darunter, aber ein großartiger Erfahrungsaustausch, auch für die Pflege der empfindlichen Hornhaut an zarten Fingern nach Wochen der Vorbereitung. Die Preise teilten sich zwei Französinnen, Agnès Clément (1. Preis und Publikumspreis), mit dem schwärmerischen Konzert von Reinhold Glière als Visitenkarte, und Anaїs Gaudemard (2. Preis), beide aus der gleichen Schule in Lyon sowie die in Paris und Berlin ausgebildete Japanerin Rino Kageyama (3. Preis). Für Horn, heikel wegen seines anspruchsvollen Ansatzes, ist wie schon bei früheren Wettbewerbsjahren kein Musiker gefunden worden, den die Jury des 1. Preises für würdig fand. So gab es auch diesmal zwei zweite Preise für den Düsseldorfer Marc Gruber, zugleich Publikumspreis, und für die Tschechin Kateřna Javůrková sowie zwei dritte Preise für die Franzosen Félix Dervaux, in Lyon und Berlin ausgebildet, und Nicolas Ramez, im Studium in Paris. Sie werden alle, so unsere vorsichtige Prognose, mehr Chancen in Orchestern haben, als zu Solistenauftritten. Marc Gruber durfte im Abschlusskonzert als Solist des Sinfonieorchesters des Bayerischen Rundfunks Richard Strauss’ schwieriges Horn-Konzert Nr. 2 spielen.

Gratulation!

Der Kontrabass, zunehmend an Musikschulen und im Liebhabermusizieren mit Mini-Instrumenten zu einer Art Mode-Instrument aufgerückt, hat schon 2009 im ARD-Wettbewerb für Furore gesorgt. Jetzt hat sich wieder gezeigt, wie Musiker dieses scheinbar schwerfällige Instrument gleich den streichenden Geschwistern zum Singen und kraftvollen Präludieren bringen können. Überdies kann ein stattliches Repertoire originaler Spielliteratur, alt und neu, begleitet und solistisch, belebt werden. So ließen sich der 19-jährige Deutsch-Österreicher Dominik Wagner (3. Preis) mit dem Concerto von Giovanni Bottesini, der Deutsche Michael Karg (2. Preis) mit dem Konzert von Johann Baptist Vanhal und der Belgier Wies de Boevé (1. Preis), seit einem Jahr stellvertretender Solobassist im Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, mit dem Divertimento Concertante (1968) des Italieners Nino Rota hören, draufgesetzt eine flotte Kadenz.        

Musik von heute

Wie in den Vorjahren hat der ARD-Musikwettbewerb für seine diesjährigen Kategorien eine 8-Minuten-Komposition bestellt, die als Avantgarde-Pflichtstück gilt. Mit diesem sich ohne fremde Hilfe auseinanderzusetzen und ohne Komponisten-Kontakt eine eigene Interpretation zu finden und uraufzuführen, dafür blieben den Kandidaten nur ein paar Wochen Vorbereitungszeit. Für Harfe lieferte der polnische Komponist Krzysztof Meyer ein nicht allzu aufregendes „Movimento rapsodico“, das stilistisch den 1950er-Jahren zuzuordnen ist. „Tipsy Howl“ (beschwipstes Jaulen) nennt der amerikanische Komponist und Pulitzer-Preisträger chinesischer Herkunft Zhou Long (Jahrgang 1953) seine virtuosen und etwas schrägen Horn-Trixereien; der französische Hornist Félix Dervaux trug diese „Gaudi“ sogar auswendig vor. Der Münchner Moritz Eggert (Jahrgang 1965) versucht, wenn man ihn richtig versteht, den Spieler mit seiner extravaganten und ruppigen Komposition in die musikalische „Entschlüsselung eines Kriminalfalles“ einzubinden. Aphoristische Episoden sehr unterschiedlicher Klangfarben und -atmosphären hatte der in Lindau lebende Komponist (und Arzt) Nikolaus Brass (Jahrgang 1949) den Streichquartetten auferlegt.

  • Neben den Konzertübertragungen durch den BR und angeschlossene ARD-Sender sind Ergebnisse des Wettbewerbes zeitversetzt u.a. im Deutschlandradio Kultur, im WDR3, SR2, Catalunya Música Barcelona zu hören. Die Austrahlung durch das BR Fernsehen erfolgt am 3. Oktober um 10.15 Uhr. Konzerte zum Nachhören (on demand):

www.ard-musikwettbewerb.de

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