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Zwischen Kitsch und schillernder Erzählung

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Wie das Klavier zum Instrument der Gegenwart geworden ist
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Dieter Hildebrandt: Piano, piano! Der Roman des Klaviers im 20. Jahrhundert, Carl Hanser Verlag, München 2000, 347 Seiten, 39,80 Mark

Dieter Hildebrandt: Piano, piano! Der Roman des Klaviers im 20. Jahrhundert, Carl Hanser Verlag, München 2000, 347 Seiten, 39,80 MarkHat das Klavier nicht ausgespielt?“ fragt Hildebrandt in seinem pianistischen Fortsetzungsroman und findet eine würdige, verneinende Antwort. Noch bunter als in seinem Œuvre über das 19. Jahrhundert kommt eine fast schon schrille Collage zu Stande. Als Crossover, ein Schlagwort der Musik des 20. Jahrhunderts, kann man auch Hildebrandts Herangehensweise an das Thema bezeichnen. Er vereint altbekannte Anekdoten, Biografien, Exkurse in die Musikgeschichte, Abstecher ins Musikbusiness, in die Aktionskunst, in die Literatur; Crossover der Themen, aber auch Überlappungen der Schreibstile – mal amüsant fabulierend, mal nostalgisch bewegt, mal musikwissenschaftlich präzise, mal enthusiastisch enthusiasmierend – und all dies in einer gefährlich rutschigen Gratwanderung zwischen sentimentalem Kitsch und schillernder Erzählung.

Hildebrandt erzählt keine Neuigkeiten, färbt jedoch Altbekanntes neu ein. Er versieht den abgenudelten, abgewetzten Ragtime mit einem neuen Anstrich und stellt ihn ins Licht eines synkopischen „Schockerlebnisses“ – die Emanzipation der rhythmischen Verschiebung, die Debussy, Strawinsky und Hindemith zu Kompositionen anregte. Das 20. Jahrhundert und die Metamorphosen des Klaviers – zum Perkussionsinstrument in Bartóks Allegro barbaro und Prokofieffs Toccata, zum Experimentierfeld und Fanal der atonalen Musik (Schönbergs op. 11), zum Vorläufer der modernen Aufnahmetechnik (Welte-Mignon), zum Passagier auf Ozeandampfern, zum Objekt der Aktionskunst, zur einzigen Fermate. Das Klavier – ein wahrer Transformationskünstler. Und seine Partner geraten dabei zu slapstickartigen Gestalten. Boulez guillotiniert den Gott der Dodekaphonie in seinem Pamphlet „Schönberg ist tot!“, Adorno muss sich von dem blutjungen Stockhausen Belehrungen gefallen lassen wie: „Herr Professor, Sie suchen ein Huhn auf einem abstrakten Bild.“, Glenn Gould nimmt unserem Bach-Bild die Perücke ab, indem er „seine“ Gouldbergvariationen einspielt.

Das Klavier erobert Japan und Japan erobert das Klavier mit der Fabrikationsschwemme von Instrumenten und jungen, emsigen Spielern. Die Formulierung, die Klavierindustrie Japans nach Hiroshima sei „die friedfertigste Wiederaufrüstung“ evoziert freilich einen merkwürdigen Beigeschmack.

Crossover. Pluralität der Stile. Vielfalt der Aspekte. Schon vor dem 2. Weltkrieg hatten sich die Tendenzen aufgespalten, nach 1945 fand geradezu eine Explosion statt – mit dem Extrem auf der einen Seite, das Klavier zu verbannen, und auf der anderen Seite, es vehement als Protagonist der Neuen Musik zu verteidigen. Alle Aspekte zu erfassen und zu bündeln – diese Aufgabe ist eine wahre Sisyphusarbeit. Darüber scheint auch Hildebrandt zu verzweifeln: „Du schreibst und begehst lauter Unterlassungssünden. Du hältst Dinge fest und lässt Menschen aus. Du versuchst, das Klavier durchs 20. Jahrhundert zu transportieren – wie viele Spieler aber hast du aus den Augen verloren?“ Wie im Abspann eines Films schafft Hildebrandt es, die Namen der großen Interpreten abzuspulen. Die jüngere Generation bleibt so gut wie unberücksichtigt. Trotz alledem schifft er wohl vor allem die Laien souverän durch die Welt des Klaviers.

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