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Bruno Tetzner: Gründer, Former, Realist und Visionär

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(nmz) Mit Bruno Tetzner verstarb vergangenen Freitag eine der tatkräftigsten, profiliertesten Persönlichkeiten der Musik- und Kulturpolitik des vergangenen halben Jahrhunderts. Die nachfolgende Liste seiner Verdienste, seiner Ämter, die er allesamt mit kräftigem Leben erfüllte, bedarf sicherlich noch der Ergänzung. Auszüge aus einem Gespräch mit der nmz im Jahr 2002 mögen die kluge, stets konstruktive und dennoch grundfeste Haltung dieser Ausnahme-Persönlichkeit verdeutlichen:

Im Nachkriegsdeutschland war Bruno Tetzner maßgeblich am Aufbau des Deutschen Musikrates beteiligt und gehörte in den 80er-Jahren zu den Gründern des Deutschen Kulturrates. 1952 engagierte sich Bruno Tetzner als Gründungsmitglied des heutigen Verbandes deutscher Musikschulen (VdM). Man kann ihn guten Gewissens auch als Initiator der ersten Bundesakademie für musische Bildung, der heutigen „Akademie Remscheid“ bezeichnen, die er jahrzehntelang leitete. Tetzner, der bis zu seinem Tode persönliches Mitglied des Deutschen Musikrates war und lange Jahre auf höchst individuelle und stets transparente Art und Weise dessen Finanzgebaren erläuterte, war Leiter der Satzungs- und Strukturkommission zur Strukturreform des DMR, dreißig Jahre Mitglied des Planungs- und Verwaltungsbeirates. Mit höchstem Engagement und fundierter Kenntnis der Szene betrieb er die Rettung und Neukonfiguration des Musikrates zu dessen Insolvenz-Zeiten 2002 bis 2003. Man wünschte sich viele seiner innovativen Ideen und Konzepte heutzutage realisiert. Bruno Tetzner war Mitinitiator des Gesamt-Konzeptes der Landesmusikräte in der Bundesrepublik, sowie Initiator zur Gründung und zum Aufbau des Landesmusikrates Nordrheinwestfalen. Seit dessen Gründung war Tetzner zwei Jahrzehnte Vizepräsident sowie Vorsitzender der Sektion „AG Musik in der Jugend“. Vierzig Jahre war er als Vorsitzender am Auf- und Ausbau der Landesarbeitsgemeinschaft Musik NRW zum größten Organisationsverbund der außerschulischen Jugendbildung in NRW beteiligt. Fast zwanzig Jahre gehörte der studierte Kirchenmusiker Tetzner dem Sprecherrat des Deutschen Kulturrates an. Er vertrat zunächst den Rat für Soziokultur, später den Deutschen Musikrat.

Auszüge aus einem Gespräch, das Theo Geißler vor sechs Jahren, 2002, mit Bruno Tetzner führte, verdeutlichen noch heute die kulturpolitische Kompetenz, die Dynamik und die integre Haltung einer Kultur-Ausnahmepersönlichkeit:

Theo Geißler: Fangen wir beim „ground zero” des deutschen Kulturlebens im letzten Jahrhundert an, in der Zeit zwischen 1945, 1950 und 1952. Man hatte das Gefühl, dass die Theater schneller wieder aufgebaut waren als die Schulen; man hatte das Gefühl, dass die Orchester eher wieder funktionierten als die Kindergärten, stimmt das?

Bruno Tetzner: In der damaligen Zeit war nach der Phase des Nationalsozialismus ein großer Bedarf nach neuem kulturellem Leben, neuem Denken vorhanden. Trotz aller Armut, trotz der unglaublichen Entbehrungen bestand der Wunsch, Kultur neu zu erfahren. Ich kann mich noch sehr genau erinnern, dass damals Theater und bald auch Orchester-Konzerte in Werkskantinen, Fabrikhallen und Straßenbahndepots stattfanden. Der Wunsch, ins Konzert zu gehen, war unglaublich groß und es ist heute nicht mehr vorstellbar, mit welchen Anstrengungen es verbunden war.
Der Aufbau der Musikverbände vollzog sich relativ langsam. In den 50er- Jahren waren es die herausragenden Persönlichkeiten des neuen Musiklebens, die zum Auf- und Ausbau der Musikverbände wesentlich beitrugen. Die Entwicklung der Verbandsstrukturen war daher zunächst stark persönlichkeitsgebunden, im Unterschied zu jetzt. Heute sind die Infrastrukturen stark und stabil, so dass die Zusammensetzung der Vorstände problemlos variieren kann.

Musische Bildung - musikalische Bildung

Geißler: Einer der ersten Verbände, die gegründet wurden, war 1952 der Verband deutscher Musikschulen. Woher kam der Bedarf nach einem solchen Verband?

Tetzner: Hier muss man zurückgehen auf die Jugendmusik, die Jugend(sing)bewegung aus der Zeit vor den beiden Weltkriegen, die zwar durch den Nationalsozialismus sehr verfälscht wurde aber geprägt war von Persönlichkeiten wie Fritz Jöde, Carl Orff, Wilhelm Twittenhoff und anderen Sie griffen Gedanken der Jugend- und Volksmusik wieder auf und knüpften an die 20er- und 30er-Jahre an, wo man bereits begonnen hatte Jugend- und Volksmusikschulen einzurichten, weil – so lautete damals die Begründung – die Bildungs- und Ausbildungsstätten der damaligen Zeit nicht mehr dem Bedarf der Jugendlichen entsprächen. So fanden sich ja vor genau 50 Jahren 13 Initiatoren zum Aufbau von Jugendmusikschulen in Deutschland zusammen und schufen den Vorläufer des heutigen Verbandes deutscher Musikschulen. Hier ging es zunächst zwar um einen Erfahrungsaustausch und es standen viele strukturelle und organisatorische Fragen im Vordergrund wie „Kommunaler oder privater Träger?“, „Wie findet man geeignete Lehrer?“, „Wie sammelt man Schulgeld ein?“, „Wie weit kann Schulgeld die Gesamtkosten decken?“. Man kann sich heute die damalige Situation kaum vorstellen: Im Zentrum der Arbeit stand das gemeinsame Singen; Blockflöten und Fideln waren Einstiegsinstrumente; Klavierlehrer lernten Blockflöte. – Die 13 Initiativen verbanden sich zu einem ersten, sehr weitmaschigen Netz und verabredeten, den Jugendmusikschulgedanken weiterzutragen. Das war anfänglich nicht leicht, denn selbst die existierenden „Jugendmusikschulen“ waren in ihren Profilen sehr unterschiedlich. Daher war es kaum vermittelbar, Stadtverordneten die Bedeutung einer Jugendmusikschule für das künftige Musikleben einer Gemeinde zu erklären. Deshalb entwickelten wir in den 50er-Jahren ein Modellprojekt, um in Zusammenarbeit mit dem Sozialministerium Nordrhein-Westfalen (das Kulturministerium hatte noch gar keine Antenne dafür) Geld bereitzustellen, um fünf bis sechs Schulen in Nordrhein-Westfalen so auszustatten, dass sie als Musikschulen erkennbar wurden. Dieses Projekt war so erfolgreich, dass es eine Kettenreaktion auslöste und der Verband kaum mit den erforderlichen Beratungen zur Errichtung von Musikschulen mithalten konnte. Die Musikschulen hatten ihren gesellschaftlichen Auftrag gefunden und definiert und konnten nun ihre musikpädagogischen Aufgaben zunehmend wahrnehmen.

Kulturpolitik - ein Mißverständnis?

Geißler: Den Begriff Kulturpolitik gab es damals noch gar nicht. Trotzdem wurden Sie 1952 schon in ein Kulturgremium, ein Musikgremium des Landes Nordrhein-Westfalen berufen. Sie haben zunächst einen starken Akzent auf den musikalischen Bereich gesetzt, aber sehr bald über die Musik hinaus alle Künste zu erfassen gesucht. War das die Grundidee für die Akademie Remscheid?

Tetzner: Es war eine Wechselwirkung. Ich war Musiker und hatte Interesse, die musikalische Basis unseres Landes zu stabilisieren, zu entfalten und zu qualifizieren. Hierfür waren zum einen die Musikschulen das ideale, inzwischen flächendeckende Instrumentarium, zum anderen aber auch immer mehr Musikensembles mit unterschiedlichen Musikfarben. Parallel dazu begannen wir auf Bundesebene, wo es die AGMM als Vorform des heutigen Musikrates gab, nach einer Einrichtung zu streben, in der ehren- und nebenamtliche Leiter von kulturellen Gruppen weiter qualifiziert wurden.
So wurden erstmalig in die Planungsgruppe auch Vertreter der Laienmusiker, Tänzer und handwerklich-bildnerisch Tätige eingeladen und so entstand 1956 das Konzept der Musischen Bildungsstätte Remscheid mit einem breiten künstlerischen Bildungsspektrum. Die 45 Jahrespläne der heutigen Akademie Remscheid vermitteln sehr anschaulich die zum Teil tief greifenden Wandlungen kultureller Jugendbildung.

Emanzipation der Laien

Geißler: Wenn sich Künstler zusammentaten, haben sie früher eher eine berufsständische Organisation gegründet, um ihre eigene Berufspolitik, ihren Stand zu festigen und dann taten sich eben die Musiker, die bildenden Künstler oder die Literaten jeweils für sich zusammen, aus egoistischen oder eigenwilligen Interessen. Das war noch keine Kultur- oder Bildungspolitik. Wann hat sich das entwickelt?

Tetzner: In den 50er-Jahren haben sich zwar nach und nach die Berufsständischen zusammengeschlossen, aber sie waren eher introvertiert und in der Außenkommunikation zum Teil unsicher (zum Beispiel bestanden zur Zeit der Entstehung des Musikschulverbandes große existenzielle Ängste bei den privaten Musikerziehern und Irritationen bei Schulmusikern, die zu überwinden waren). Die Musische Bildungsstätte Remscheid sollte die Arbeit der Laien, der Amateure fördern: Laienspiel, Laientanz, Werken. Wie sich ihre Arbeit sehr bald und radikal änderte in Richtung einer modernen Ästhetischen Bildung, kann hier nicht weiter ausgeführt werden. Damals war der Abstand zwischen den Arbeitszielen der Laien und den Beruflich-Professionellen unglaublich weit. Erst sehr viel später wuchsen diese Bereiche näher zusammen; in der Musik geschah dies etwa, als in den 60er-Jahren die Musikschulen die Pfade der Jugendmusikbewegung verließen und sich die Musiktraditionen erschlossen, wofür entsprechende Lehrkräfte gebraucht wurden, was wiederum Druck auf die Hochschulen ausübte, entsprechende Musiklehrer auszubilden. Als der Deutsche Musikrat gegründet wurde, war noch eine eigentümliche Diskrepanz vorhanden: Die „Sprachlosigkeit der Laienverbände“, die zwar den Großteil der aktiv Musizierenden vertraten, aber nicht angemessen in der Lage waren, ihre Bedürfnisse und Interessen zu artikulieren, standen im Gegensatz zur politisch-verbalen Perfektion der Professionellen. Ich habe damals sehr darunter gelitten und wiederholt interveniert. Ich bin aber glücklich, dass die Laienmusiker heute ein starkes, gesundes und legitimes Selbstbewusstsein haben und ich kann nur raten, dass Dachorganisationen – welcher Art auch immer – die Laien, besser gesagt die Amateure, mehr beachten, weil sie eine wichtige Basis unserer (Musik-)Kultur darstellen.

Geißler: Basierend auf dem Schulmusikerverband nach dem Krieg hat sich der Deutsche Musikrat als einer der ersten geordneten Kunst-Lobby-Verbände etabliert. Wem gegenüber wollte man die Sache der Musik vertreten? Der Politik gegenüber?

Tetzner: Wir haben uns für den Aufbau von Infrastrukturen engagiert, weil wir vom Ansatz ausgingen, dass in einer repräsentativen Demokratie das, was nicht repräsentativ ist, nicht wahrgenommen wird und nicht dialogfähig ist und somit einen schweren Stand hat. Von gleicher Wichtigkeit war uns aber auch, dass durch die Schaffung des Deutschen Musikrates fachliche Binnenkommunikationen möglich wurden. Hierdurch sind die vielen Impulse, Konzepte und Projekte entstanden, die in den vergangenen Jahrzehnten unser Musikleben so nachhaltig dynamisiert haben!

Modell Musikrat

Geißler: Die anderen Künste haben ja eine Zeit lang neidisch auf den Musikbereich geguckt. Den Bund Deutscher Kunsterzieher (BDK) gab es zwar schon lange, auch den Deutschen Journalisten-Verband (DJV), aber politisch waren zuallererst die Musiker aktiv. Sie haben das Musikschulsystem stabilisiert, haben bestimmte Maßnahmen ins Leben gerufen, zum Beispiel „Jugend musiziert”, was zur politischen Befestigung geführt hat. Wer kam auf die Idee, diese verschiedenen Kunstgruppierungen zusammenzuführen?

Tetzner: Der Deutsche Musikrat und die Substrukturen waren ein gutes, nachahmenswertes Modell. Wir stießen damit auch andere Fachbereiche an, um das, was bei den Musikern möglich war, auch in anderen Fachbereichen zu versuchen. Ich empfinde es heute noch als Defizit, dass ein wichtiger Bereich wie der Tanz im Deutschen Kulturrat – aus, pointiert gesagt, egoistischen Gründen – nicht eine eigene Sektion ist. Von der Zusammensetzung könnte er sogar größer sein als manch andere Sektion. Curt Sachs, der große Musikwissenschaftler, sagte: „Der Tanz ist der Ursprung aller Künste.” Es ist ein Fehler, wenn man ihn unter „darstellende Künste” summiert und nicht die Vielfalt von Tanz bündelt. In der Folge sind viele Bereiche, die zum Tanz gehören zum Sport hin abgewandert, spätestens seit der Aerobicwelle.

Gebündelte Fachkompetenz

Geißler: Beim Deutschen Musikrat war seinerzeit der Ruf nach einem Deutschen Kulturrat gar nicht so laut. Man sagte: „Wir stehen ganz gut da, brauchen wir denn so was?”

Tetzner: Der Vorbehalt war verständlich und ich erlebte es auch in Nordrhein-Westfalen, als der Landeskulturrat ins Gespräch kam. Das ist verständlich. Man hatte sich im Musikbereich zusammengefunden mit einer stabilen Innen- und Außenkommunikation und musste sich nun auf etwas Neues einstellen; die Sorge, finanziell oder in der öffentlichen Aufmerksamkeit etwas teilen zu müssen, ist verständlich.

Geißler: Was war denn der Nukleus für die Gründung des Kulturrates?

Tetzner: Die Entwicklung seit den 50er/60er-Jahren, in der es erst einmal darum ging, Dialogfähigkeit und Artikulationsfähigkeit nach innen zu entwickeln, sich überhaupt kennen und schätzen zu lernen, war weitgehend abgeschlossen. Die Kultusministerkonferenz und die beginnende Diskussion um die Kulturhoheit der Länder sorgten für immer mehr Nachdenken in der kulturpolitischen Diskussion. So entstand die Frage: Wenn wir mit dem Kultusministerium, mit der Kultusministerkonferenz ins Gespräch kommen, reichen einzelne Kunstbereiche nicht aus, sondern wir brauchen die gesamte Breite. Das war das Konzept bei der Gründung des Deutschen Kulturrats: die Bündelung der in den unterschiedlichen Sektionen vereinten Fachkompetenzen.

Geißler: Hatte man nicht Angst, das Ganze könnte etwas papieren oder lebensfremd wirken?

Tetzner: Das kann ich deshalb nicht bestätigen, weil die meisten Mitglieder im Kulturrat zwar aktive „Macher” waren, aber eher Künstler als Funktionäre.

Hochkultur und Bildung

Geißler: Welche Rolle spielte es, dass Kultur sich ab den 60er-, frühen 70er-Jahren zunehmend politisiert, politisch geäußert hat?

Tetzner: Das hängt mit der allgemeinen Politisierung der Gesellschaft ab den 60er-Jahren zusammen. Im Bereich der kulturellen Jugendbildung wurde der politischen Bildung eine Priorität in der Förderung und bei der Gewichtung von Bildungsmaßnahmen eingeräumt. Damit wir überhaupt dialogfähig blieben, sagten wir zum Beispiel: „Kulturelle Bildung ist politische Bildung mit anderen Mitteln.“ Man musste sich in den allgemeinen politischen Dialog einklinken und war gezwungen, sich in Formulierungen und Denkkategorien einzumischen, ohne die Ziele der kulturellen Bildung einzuschränken oder aufzugeben.

Geißler: Gab es ein Spannungsfeld zwischen „Hochkultur“ und der kulturellen Bildung, wie Sie sie beschrieben haben? Haben diese beiden Bereiche völlig aneinander vorbei existiert?

Tetzner: Ein solches Spannungsfeld ist notwendig und es ist unsere Aufgabe, es fruchtbar zu gestalten. Gerade in der heutigen Zeit, die in fast allen Bereichen eine Abwehrposition, was Kultur, Gesellschaft und Kommunikation betrifft, verlangt, brauchen wir die Professionalität der Künstler in allen Bereichen auch zur Weiterentwicklung elementarer Basisarbeit. Im Deutschen Musikrat haben wir schon früh diese Durchlässigkeit ermöglicht. Heute werden Kinder und Jugendliche durch Medien und Umwelt so stark geprägt, dass sie einen anderen Sozialisationsweg durchschreiten als die mittlere und ältere Generation. Die Bildungsreform der 70er-Jahre hat manch gute Entwicklung unterstützt. Aber wir stehen heute vor neuen Herausforderungen. Hierzu nur zwei Beispiele:
Erstes Beispiel: 1964 verfasste der Deutsche Musikrat eine Denkschrift „Gefahren für das deutsche Musikleben und Wege zu ihrer Überwindung“. Wenn man sie heute liest, ist man verblüfft, wie der Musikrat mit seinen Mitgliedern – ich möchte sagen – aus eigener Kompetenz diese Gefahren längst behoben und in produktiv gestaltetes dynamisches Musikleben umgestaltet hat bis auf zwei Punkte: „Musik in der Schule“ und „Musik in der Lehrerbildung“. Nun hat es aber in diesen Jahrzehnten bis in die Gegenwart nicht an uneingeschränkter Zustimmung der Politiker (bis zum Bundespräsidenten) und Ministerien für einen Musikunterricht in allen Schulgattungen gemangelt. Dennoch: die Schulmusik(er) sind heute in ungleich schwierigerer Situation und wir dürfen sie nicht allein lassen! Ich meine, dass die Anstrengungen des Musikrates und seiner Mitglieder gerade jetzt hier gefordert sind, zu einer Klimaverbesserung beizutragen und etwa die Ausbildungsstätten darin zu unterstützen, dass die Studenten für die heutigen Erfordernisse an „Musik in der Schule“ besser qualifiziert sind und umfassende Fort- und Weiterbildungen angeboten werden. Das können wir, wenn wir es wirklich wollen, selbst zuwege bringen.
Zweites Beispiel: Am 12. Februar 2000 hat das Präsidium des Deutschen Musikrates ein „Memorandum zur Ausbildung für musikpädagogische Berufe“ – ein sehr lesens- und empfehlenswertes Papier – verabschiedet. Am 10. Januar 2002 hat die KMK dem Deutschen Musikrat wohlwollend geantwortet, und das Schreiben schließt: „Die Ländervertreter sind daher übereingekommen, den Musikhochschulen das Memorandum des Deutschen Musikrates mit der Empfehlung zuzuleiten, die darin enthaltenen Vorschläge in die aktuellen Diskussionen zur Studienreform einzubeziehen“. Damit ist der Ball wieder beim Absender. Denn die Musikhochschulen sind ja im Deutschen Musikrat nicht nur vertreten, sondern ihre Vertreter haben maßgeblich an dem Memorandum mitgewirkt. – Was läuft da falsch? Verlagern wir die notwendige eigene Anstrengung zu Veränderungen auf Erwartungen nicht einfach an die Politik? – In die gleiche Richtung zielt auch die Resolution der ADC vom 28. März 2002. – Wir können und müssen Forderungen zu Veränderungen in erster Linie an uns selbst richten und sie selbst auch konsequent umsetzen.
Hier müsste kultur- und musikpolitisch gearbeitet werden; alle Institutionen der Aus- und Fortbildung sind im Deutschen Musikrat konzentriert. Wir können innerverbandlich viele Probleme lösen, das ist auch unser gesellschaftlicher Auftrag. Alle finanziellen und personellen Ressourcen, auch Stiftungen, müssten sich dann einmal auf solche Schwerpunkte einschwören. Hier wird sich erweisen, ob ein Zusammenschluss wie der Deutsche Musikrat wie in früheren Jahrzehnten Probleme erkennt und selbst auch kraftvoll zu übergreifenden Lösungen führen kann oder ob er sich weiterhin in seinen guten Erfolgen sonnt und es sich ansonsten nur um eine Addition von Organisationen handelt. Was wir im Deutschen Musikrat jetzt (wieder) brauchen, sind eine gegenseitige Ermutigung zur gewollten, eigenen Veränderung, eine gegenseitige Unterstützung auf den veränderten Wegen, eine Bereitschaft, eigene konzeptionelle, personelle und finanzielle Ressourcen hierfür einzusetzen, eine Bereitschaft, die hierfür erforderlichen Anstrengungen im gegenseitigen Vertrauen einzubringen und zu kooperieren.

Geißler: Sie haben zwei wichtige Herausforderungen der Gegenwart dargestellt. Sehen Sie auch neue für die nähere Zukunft?

Tetzner: Wir haben beobachtet, wie die Musikschulen im Laufe der Zeit ihre Häuser Kindern mit immer früheren Lebensalter geöffnet haben. Das war wichtig und richtig. Nun vermittelt uns die Forschung, dass die Fähigkeiten, die es uns ermöglichen, etwas über die Welt und uns selbst zu lernen, ihren Ursprung im Säuglingsalter haben. Daher ist es sinnvoll und wichtig, Kleinkinder schon vom vierten Lebensmonat an mit Musik in vielfältiger Weise in Berührung zu bringen. – Hier sehe ich eine große Herausforderung an alle Verantwortlichen unseres Musiklebens. Hier betreten wir Neuland, denn es kann sich nicht um eine Vorverlagerung von Musikunterricht handeln. Aus vielen Gesprächen habe ich abgeleitet, dass wir hier auf eine neue (bisher nicht im Blick gehabte) und hoch motivierte Zielgruppe treffen: Eltern, die erkannt haben, dass die Beschäftigung mit Musik in mehrfacher Hinsicht für die Entwicklung ihres Kindes von Vorteil ist. Einrichtungen unterschiedlicher Art, darunter auch Musikschulen, die sich diesem Thema öffneten, konnten sich vor Nachfrage nicht retten. – Die positiven Auswirkungen auf unsere gesamte Musikerziehung kann man sich leicht vorstellen.

Geißler: Mitte der 80er-Jahre war der Deutsche Musikrat einer Reihe einschneidender gesellschaftlicher Entwicklungen ausgesetzt wie zum Beispiel dem Aufkommen der Privatfernsehsender, der Medien- oder Informationsgesellschaft und der beginnenden Computerisierung. War der Deutsche Kulturrat damals schon in der Lage, mit gesellschaftlichen Entwürfen auf diese Entwicklungen zu reagieren?

Tetzner: Als die Medienlandschaft sich entfaltete, beschäftigten wir uns im Kulturrat sehr damit und haben auch interveniert. Es gab damals zum Beispiel ein Gespräch zwischen dem Sprecherrat und dem ZDF-Intendanten Stolte, worin wir mehr Kultur, auch in den aktuellen Sendungen, reklamierten. Stolte war sehr offen und sagte zu, dass zukünftig jede Nachrichtensendung einen Kulturbeitrag haben sollte, was in etwa unserer Forderung entsprach. Das hat auch die ARD positiv beeinflusst. – Der Kulturrat muss aber auch Neuentwicklungen aufmerksam begleiten und sich zum Beispiel jetzt auch mit Computerspielen auseinander setzen, die für die junge Generation essenziell sind und auch von Erwachsenen mittlerweile als interessant empfunden werden. Die Medien sind Bestandteil unserer kulturellen Substanz geworden und wenn wir sie übersehen, können wir nicht unterstützend oder korrigierend eingreifen.

Geißler: Im Musikbereich sind Teile dieser Jugendkultur fremdsprachig, vor allem englisch oder amerikanisch. Es handelt sich um eine importierte Kultur. Kommt das daher, dass es uns nach dem Krieg und bis heute schwer fiel, eine eigene kulturelle Identität zu entwickeln?

Tetzner: Als Kirchenmusiker war mir die Vermittlung in der Muttersprache immer sehr wichtig. In früheren Jahrzehnten wollte man anscheinend eine neue Identität auch mit der (englischen) Sprache herstellen. Für die heutige Generation ist dies Geschichte; sie findet, dass das Englische dem Gesang andere gestalterische Möglichkeiten bietet als das Deutsche. Vielleicht wird diese Entwicklung wieder abklingen. Künste sind an sich Kommunikationsmedien. Die Frage der Sprachlichkeit oder der Regionalisierung halte ich aber nicht für eine künstlerische oder kulturpolitische Frage, sondern für eine Frage des Sozialverhaltens, des Umdenkens, des notwendigen Ausgleichs zur Globalisierung, der wirtschaftlichen und politischen Unsicherheit. Deshalb halte ich die Pflege der regional-spezifischen kulturellen Ausprägung für wichtig; hier wird Kultur wieder Binde- und Hilfsmittel für das Sozialgefüge einer Region.

Zukunft der Kulturverbände

Geißler: In den 80er-Jahren folgte auf die Zeit der Politisierung wieder die Zeit der Entpolitisierung; man nennt das wohl das postmoderne Jahrzehnt, Motto: Alles geht, alles ist möglich. Da hat es die Kultur ja besonders schwer.

Tetzner: Ich konnte diese Spannung nicht so sehr wahrnehmen. Beim Deutschen Musikrat sind bis ins Präsidium die Komponisten integriert. Sie sind be- und geachtet und wurden nie infrage gestellt. In der Gründungsphase des Deutschen Kulturrates waren auch die bildenden Künstler und die Literaten gestaltend beteiligt und blieben nicht außen vor. Danach kamen Bereiche der Soziokultur und der kulturellen Bildung dazu, die vorher gar nicht im Blickfeld standen. Ich wünsche den Deutschen Kulturverbänden, dass einerseits das Wächteramt oder die Signalfunktion nicht vernachlässigt werden, andererseits aber kulturelle und kulturpolitische Fragen weiter aufgegriffen werden. Die können wir nicht dem Lauf der Dinge oder der kulturell weniger interessierten Öffentlichkeit überlassen. Hier müssen wir Impulse setzen, es muss die Bugwelle dieses Schiffes nach außen dringen. Es reicht nicht aus, Vorhandenes bewahren zu wollen. Ein italienischer Dichter sagte: „Wenn ich alles behalten will, dann muss ich alles verändern.”
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