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Debatte um Jedem Kind ein Instrument in NRW und Hamburg

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In der aktuelle Ausgabe von politik und kultur, der Zeitung des Deutschen Kulturrates, wird die Aktion "Jedem Kind ein Instrument" in NRW und Hamburg kritisch debattiert.

Im Editorial "Turbokinder" schreibt der Geschäftsführer des Deutschen Kulturates, Olaf Zimmermann:

"Die Anforderungen an Kinder und Jugendliche steigen unaufhörlich. Spätestens nach dem vermeintlichen PISA-Test-Desaster wurde die Leistungsschraube angezogen. Für Gymnasiasten die neuerdings in acht Jahren zum Abitur gescheucht werden, ist eine Wochenarbeitszeit für den Unterricht und die Erledigung der Hausaufgaben von bis zu 50 Stunden keine Ausnahme mehr.

Schon im Kindergarten wird Englisch gelernt, das letzte Kindergartenjahr heißt Vorschule und soll zunehmend schon Schule sein, in der Grundschule fallen immer mehr Kinder auf, die dem Leistungsdruck nicht nur wegen der immer früheren Einschulung nicht mehr standhalten und schon in der ersten Klasse Angst davor haben, sich durch schlechte Leistungen ihren Weg in eine weiterführende Schule zu verbauen.

Natürlich sind gerade diese Ängste eigentlich die Ängste der Eltern, aber die Kinder müssen mit ihnen leben. Und, mit fünf Jahren eingeschult, mit 17 das Abitur in der Tasche, werden sie im Turbotempo, Bachelor und Master sei Dank, ihr Studium abschließen, um ohne jemals den geraden Weg verlassen zu haben, dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen.

Und dann wollen wir, dass diese Turbokinder auch noch, am besten alle, ein Instrument lernen. Wann sollen sie das denn noch machen? Wenn ein Instrument spielen können nicht nur eine weitere Zusatzqualifikation sein soll, weil Musik die Synapsen im Gehirn auf wunderbare Weise so ordnen soll, dass noch mehr und noch schneller, der allgemeine Schulstoff hineinpasst, brauchen die Kinder Muße. Freie Zeit, auch Nichtstun gehört zur Persönlichkeitsbildung ebenso dazu, wie die Beschäftigung mit Lernstoff und auch mit der Kunst. Ein Instrument zu erlernen, Musik zu erfühlen, Kunst zu machen, braucht viel Zeit.

Hören wir auf, unsere Kinder immer mehr zu überfordern. „Jedem Kind ein Instrument" ist eine wunderbare Idee, wenn damit die Lust auf Musik, die Lust auf die eigene Kreativität gefördert wird. Die Forderung „Jedem Kind ein Instrument" kann, sollte nicht gleichzeitig eine Rücknahme des Leistungsdrucks in der Schule eingefordert werden, aber auch eine weitere Zumutung für überforderte Jugendliche und ihre Eltern sein."


In der selben Ausgabe von politik und kultur schreibt der Landesvorsitzender des Arbeitskreises für Schulmusik (AfS) Hamburg/Schleswig-Holstein, Udo Petersen, unter dem Tiel: "Leuchtturm oder Hüpfburg?" über die neue Aktion "Jedem Kind ein Instrument" in Hamburg:

"Auf einer Pressekonferenz am 9.10.2007 haben die Hamburger Bildungssenatorin Alexandra Dinges-Dierig, die Kultursenatorin Karin von Welck und der Wissenschaftssenator Jörg Dräger bekannt gegeben, dass im August 2008 ein sponsorengestütztes Projekt zur musikalischen Breitenförderung gestartet werden soll. Unter dem Motto .Jedem Kind ein Instrument . JeKi. soll irgendwann einmal jedes Hamburger Grundschulkind Gelegenheit zum Erlernen eines Musikinstruments bekommen – ein ähnliches Projekt wird in Nordrhein-Westfalen bereits seit längerer Zeit erprobt.

Den Arbeitskreis für Schulmusik (AfS) freut das sehr. Setzt er sich doch seit vielen Jahren für die Rechte der Kinder auf eine musikalische Bildung ein. Allerdings ist einiges nötig, damit das Projekt „JeKi“ zu einem Leuchtturm wird. Ein Leuchtturm benötigt ein stabiles Fundament. Im Moment sieht das Projekt eher wie eine Hüpfburg aus: außen mächtig, innen heiße Luft.

Der Kauf von Instrumenten alleine macht noch kein gelungenes Projekt. Mit 600.000 Euro kann man etwa 700 Instrumente kaufen (etwa drei pro Grundschule). Zugegeben, das ist schon ein Anfang, aber Hamburg steht vor ganz anderen Herausforderungen: Noch nicht einmal die Grundversorgung der Grundschüler mit Musikunterricht ist gesichert. Die weitaus meisten erhalten bisher gar keinen Musikunterricht, da an den Grundschulen zu wenige ausgebildete Musiklehrer arbeiten. Ohne die Musiklehrer vor Ort ist keine kontinuierliche Betreuung der Instrumente und ihrer Spieler an den Schulen gegeben. Es bleibt bei der isolierten Maßnahme „Instrumentalunterricht“, die sich leider schnell erledigt, denn ohne dass die Kinder ihr Instrument auch außerhalb des Instrumentalunterrichts im Klassenmusizieren benutzen, also ohne dass der Instrumentalunterricht in ein musikpädagogisches Konzept der Schulen eingebunden ist, verlieren die Kinder schnell die Lust. Erst die Musiklehrerin, der Musiklehrer vor Ort kann die Motivation sichern und so Kontinuität herstellen. Diese werden aber zu wenig ausgebildet, die ausgebildeten Musiklehrer werden – immer noch – zu selten eingestellt. Ohne die Betreuung durch Musiklehrer vor Ort in den Schulen bleibt der Leuchtturm eine Hüpfburg, das Projekt ein Wahlkampfgeplänkel.

Instrumentalspiel ist nur ein – wenn auch wesentlicher – Baustein des Musikunterrichts. Ohne Singen, Tanzen, Hören, ohne Konzertbesuche fehlen den Kindern wesentliche Erfahrungen. Auch dieser Aspekt muss Berücksichtigung finden.

Schön, dass so viele Instrumente angeschafft werden sollen. Es gibt die Instrumentallehrer aber nicht, die über die notwendigen Fähigkeiten und Methoden des Instrumentalunterrichts in den geplanten Gruppengrößen verfügen. Diese sind auch nur längerfristig zu erlernen. Es ist völlig unklar, wo in der Weise qualifizierte Instrumentallehrer in der benötigten Anzahl herkommen sollen, die für die Durchführung des Projekts notwendig ist. Ist die landesweite Umsetzung überhaupt wirklich geplant? In Kenntnis der Politik der vergangenen Jahre zweifeln wir daran. Es wäre sehr schade, wenn sich das Projekt „JeKi“, das aus unserer Sicht eine echte Chance darstellen könnte, als Luftnummer der Vorwahlzeit herausstellte. Der angerichtete Schaden wäre bedeutend höher als der Kauf von 600 Instrumenten heute einen Nutzen darstellt. Es wäre zynisch den Kindern, den Wählern und auch den Mäzenen gegenüber, wenn es hier nur um den Gewinn einiger Wählerstimmen ginge."


Lesen Sie nach unter: http://www.kulturrat.de/puk/puk06-07.pdf (6,1 MB)



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politik und kultur Hg. von Olaf Zimmermann und Theo Geißler.

Erscheint sechsmal jährlich. Erhältlich in Bahnhofsbuchhandlungen, an großen Kiosken, auf Flughäfen und im Abonnement. Einzelpreis: 3,00 Euro, im Abonnement: 18,-- Euro (incl. Porto)


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