Banner Full-Size

11. Tag: Schlangestehen für Wolle

Publikationsdatum
Body
1998 erzählte mir mal ein Komponist von einer Uraufführung eines Stückes von ihm, auf die man einen als regressiven Misanthropen bekannten Musikkritiker angesetzt hatte. Die Uraufführung sollte (zusammen mit einem anderen Werk) in der ersten Konzerthälfte erklingen. Nach der Pause wartete man dann gespannt u. a. auf "Verklärte Nacht" von Arnold Schönberg. Man hatte dem Kritiker, der es vorgezog, in der Pause zu gehen, verschwiegen, dass das Schönberg-Werk kurzfristig ausfallen musste, so dass der besagte Uraufführungs-Komponist überrascht war, am übernächsten Tag in der Zeitung zu lesen, sein Werk sei nicht sonderlich bewegend, das Stück vom Großmeister Schönberg aber der alles überstrahlende Höhepunkt des Konzert gewesen. Damit mir so etwas nicht passiert, gebe ich hier zu: ja, ich habe gesündigt, ich war gestern nur bei einem Sechstel der drei Konzerte. Nach dem Konzert der Darmstädter Schlagzeugklasse in der Sporthalle am Böllenfalltor habe ich mir sowohl ein weiteres reines Kurtág-Konzert, als auch ein Nachtkonzert mit dem immer depressiv ausschauenden Klaus Lang ("einfalt. stille" - der Titel spricht zumindest für ein gewisses Maß an Selbsterkenntnis) gespart. Stattdessen konnte ich mich in meinem Hotelzimmer für eine TV-Dokumentation über Delphine begeistern, um anschließend auf Eurosport festzustellen, dass wir im Fußball sehr wohl gegen Spanien gewinnen können – wenn auch im gestrigen Falle nur mit dem U-19-Team bei der derzeit laufenden Junior-Europameisterschaft. Es liegt bestimmt an mir, dass ich hier alles durch die Negativ-Kritik-Brille sehe. Oder bin ich nur der einzige Teilnehmer der Darmstädter Ferienkurse, der seinem Frust Luft macht? Dafür spricht jedenfalls, dass in den Gesprächen mit Kollegen sehr wohl allerorten Unzufriedenheit zu spüren ist. Mich veranlasst das zu (manchmal überzogener) Kritik, andere ziehen (was bestimmt auch Vorteile hat) Passivität und stille Resignation vor. Ich bedanke mich übrigens sehr herzlich an dieser Stelle für die vielen Emails von möglichen Sponsoren zum Einkauf der "fehlenden Geige" (das war wohl der Grund für die Absage der Aufführung meines im Vorfeld der Ferienkurse eingereichten Werkes). Die Unterstützung, die ich bekommen habe und die Kontroversen, die ich vielleicht hier und da anstoßen konnte, sind mir letztlich viel wichtiger, als die Aufführung meines Quintetts - und über die Nicht-Aufführung der Werke einiger zurückhaltender (aber sehr hörenswerter) Kollegen könnte ich mich genauso aufregen. Gestern bin ich dann wieder in das Festivalbüro gegangen und habe letztmals nach der Aufführung meines eingereichten Werkes gefragt. Endlich stand wenigstens einmal etwas fest: und zwar, dass es nicht gespielt wird. Und, ja, mit der Begründung, es gäbe zu wenige Geigen. Ich verweise auf die Möglichkeit, eine Geige schnellstmöglich fremdfinanziert aufzutreiben und bekomme die Antwort, das entspräche nicht den Vorschriften. Komisch eigentlich, jedes Ensemble muss doch ab und zu einen Gast einkaufen; im Musikgeschäft ist das völlig normal und ich möchte einmal die Geschäftsbedingungen eines Ensembles oder eines Veranstalters sehen, in denen so etwas ausgeschlossen wird. Jetzt ist es eh zu spät. Man beachte: die Ferienkurse begannen am 5. Juli und erst heute (zwei Tage vor dem ersten Studiokonzert) stand halbwegs fest, welches Werk gespielt wird und welches nicht. Als ich mit einem Mitarbeiter auf die schlechte Organisation zu sprechen komme, weicht er mir einfach nur aus. So blind muss man erst einmal sein, sich für etwas zu verteidigen, was anhand der Stimmung vieler Teilnehmer so offenkundig ist, wie das - von mir hiermit prophezeite - erneute Scheitern des stets sonnenbebrillten Stabhochspringers Tim Lobinger bei den olympischen Spielen in Peking. Wann beginnen die eigentlich? Wieder schalte ich zu Eurosport um und lehne mich entspannt zurück. Am 16.07. um 15.30 Uhr darf ich mein Quintett wenigstens im Young Composers Forum vorstellen. Wegen einer privaten Wette werde ich gezwungen sein, während meiner Präsentation ein kühles Pils zu mir zu nehmen. Vorhin warteten mehr als 50 Kompositionsstudenten zwei Stunden auf die Einschreibung in die Unterrichtsliste des Roger Federers der Neuen Musik: Wolfgang (liebevoll "Wolle" genannt) Rihm. Mädchenhaft kreischend und jubelnd verlasse ich (der ich ausnahmsweise einen Platz recht weit vorne in der Schlange ergattert habe) nach erfolgreicher Einschreibung das Festivalbüro, als hätte eine Vierzehnjährige die Karte für ein Konzert von Tokio Hotel bekommen. Meine Reaktion wird einmal mehr nur eher verstört wahrgenommen. Showtime statt Shadowtime - das ist hier nur mit wenigen möglich. Gestern las ich einen Artikel über die Darmstädter Ferienkurse in den 70er Jahren. Aus der Krise befreite man sich damals, indem man die unzufriedenen Studenten einfach fragte, was sie selbst verbessern würden. Wäre das nicht jetzt auch wieder wünschenswert?

Weiterlesen mit nmz+

Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.

 

Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50

oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.

Ihr Account wird sofort freigeschaltet!