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The Irrepressibles. Foto: Stefan Pieper
The Irrepressibles. Foto: Stefan Pieper
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7000 Musikfans erleben in Haldern musikalische Kontraste und ländliche Idylle

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Da lässt sich einer nicht beirren, weder von unsensiblem Gerede im Publikum, noch von der Unruhe, die von draußen durch die dünnen Wände des Spiegelzeltes herein dringt: Gravenhurst alias Nick Talbot ist sich in seinen Balladen auf bezwingende Weise selbst genug. Weit reicht sein Atem in den empfindsam introvertierten Phrasen. Auch sein Gitarrenspiel geht einen bezwingenden, nichts dem Zufall überlassenden Weg. Verinnerlichte Emotionen und Lyrik in der Musik – das sind seit jeher große Themen beim Halderner Popfestival im ländlichen Idyll der niederrheinischen Landschaft.

Und wo bleibt der Rock and Roll? Gravenhurst bleibt sich nichts schuldig in diesem Moment, lässt auf den Gefühlsfilm die Rebellion folgen. Er reißt die Regler auf, überantwortet die Poesie einem nun auflodernden Mahlstrom aus Rückkopplungen und Loop-Effekten. Ein starker Moment auf der Nebenbühne des Festivals, der dazu taugt, Wolfgang Linnewebers im Pressegespräch geäußertes Veranstalter-Credo von einer „Weltherrschaft der schrägen Klänge“ beim Halderner Popfestival zu erfüllen.

Der Gravenhurst-Auftritt wirkte dafür so idealtypisch, da man sich kurz vorher so unendlich weit davon entfernt gefühlt hatte: Die ebenfalls britischen „Athlete“ schienen sich als geschniegelte Musterschüler in Sachen aalglatter Risikoarmut selbst überbieten zu wollen. Derart konsequent bei Arrangements und Wahl der Sounds jeder Spannung aus dem Weg zu gehen, dürfte auch wieder eine Kunst für sich sein- vielleicht muss man einfach nur genug Formatradio hören!

Geschmäcker sind verschieden und wollen polarisiert sein bei diesem „kleinsten großen Festival“, dem „kuscheligsten Indie-Ereignis“, welches längst zum Branchentreff der Szene mit internationaler Ausstrahlung geworden ist und sich auch 26 Jahre nach seiner Gründung ein Höchstmaß ökonomischer und konzeptioneller Unabhängigkeit erhalten konnte. Junge Bands und Künstler stehen in ihren Wohnwagen Rede und Antwort, zugleich schweifen die Booker von Agenturen und Labels umtriebig umher. Alles ist betont entspannt und friedlich – ja ländlich beschaulich irgendwie.

Manchmal gar zu beschaulich, wenn – wie in der aktuellen Ausgabe- wieder einmal auf ein hohes Übergewicht sanfter Folk-Acts gesetzt wurde.

Dennoch ist es selten weit bis zur nächsten spannenden Entdeckung: Da brachte das schwedische Duo „Wildbirds und Peacedrum“ den Blues durch ganz obskure Hintertüren zurück – der Name ist Programm! Sängerin Mariam Valentin deklamierte merkwürdig verschachtelte Düsterjazz-Balladen, dazu schlugen Drummer Andreas Merlins und manchmal auch sie selbst archaische Trommeln. Pop als Maskerade ist in Haldern ein nicht minder großes Thema: Bei den „Irrepressibles“ mit ihren barocken Perücken und spitzen Hüten waren die Bläser- und Streicherarrangements nicht nur Beiwerk, sondern tragendes Element ihrer zerbrechlichen Folkpop-Epen. Das lässt fast schon einen imaginären Pop des  18. Jahrhunderts assoziieren, der noch authentischer überkäme, würde sich ihr Frontsänger nicht so viel am unerreichbaren Anthony and the Johnsons orientieren wollen.

Zu den ganz großen Lieblignlingen in Haldern gehört Patrick Watson aus Kanada, der nach seinem Debut im Spiegelzelt nun die Hauptbühne wählte. Zuverlässig entführte er das Publikum in seine doppelbödigen Traumwelten – ja, der Mann hat Musik und Musiken studiert, weiß so grenzenlos über manchmal recht vorhersehbaren Schemata vieler seine Mitstreiter hinauszugehen. Es holpert lasziv im Walzermetrum, und ein ganzes Sextett zentriert sich um die eigenen ausdrucksstark gespielten Piano- Harmonien. Ein gewichtiges Potenzial für einen „Tagträumer, der dem Paradies näher kommt“, wie es in  seiner Songlyrik heißt. 

Übrigens hat der Fotograf Gerrit Starczewski eine ganz eigenwillige Portraitserie von Popmusikern zusammengetragen, die nun unter dem Titel „Dancing Shoes“ zu sehen ist: Starczewski rückte ausschließlich dem Schuhwerk der Bühnenartisten im Konzert zu Leibe. Viele seiner Fotos sind beim Halderner Festival entstanden und dokumentieren, wie man (und frau) hier auf dem oft schmalen Grad zwischen Pop und seiner Verweigerung unterwegs sind. 

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