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Foto: Andreas Etter
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Dada vom Dach: Das Mainzer Staatstheater setzt zur Bundestagswahl seine Hörtheater-Reihe fort mit dem Programm „Marsch Manipulation“

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Alternativlos waren die Mainzer am Sonntagabend des sogenannten Rededuells zwischen Angela Merkel und Martin Schulz nicht. Wer Karten bekam, konnte sich auf der schmalen Dachterrasse des Staatstheaters die neueste Hörtheater-Produktion „Marsch Manipulation“ anhören und ansehen. Nicht von ungefähr haben Regisseur Anselm Dalferth und Dramaturgin Elene Garcia Fernandez die Veranstaltung in die Endphase des Wahlkampfes platziert. Die vorerst letzte Aufführung ist auf den Abend der Bundestagswahl terminiert. Der rezitierte Text des englischen Autors und Aktionskünstlers Tim Etchells „Auch wenn wir gescheitert sind“ könnte dann sein Pendant in der Wirklichkeit finden: „Freunde, das ist nicht unser Tag!“

Musikalisches Zentrum des gut 80-minütigen Abends sind Mauricio Kagels „Zehn Märsche um den Sieg zu verfehlen“. Darum gruppiert sind Auftritte des Schauspielers Sebastian Brandes, die der Hauptfigur in Kagels Hörspiel „Der Tribun“ ziemlich nahe kommen. Eingeleitet durch Marschmusik und die Präsentation seines Konterfeis auf dem Werbeplakat der eigens gegründeten „Hörtheaterpartei“ (htp) tritt er geschniegelt in Anzug und Krawatte als Wahlkämpfer vor die eigenen Leute. Zwischendurch gibt er sich sitzend nahbar wie in einer Talkshow oder beim persönlichen Interview, um dann wieder sich mit großer Geste vom Rednerpult ans imaginäre Publikum auf dem Gutenbergplatz zu wenden. Dalferth und Fernandez haben Kagels Dadaismus von 1979 in die Gegenwart von 2017 übersetzt. Wir hören ganze Sätze, abgerissene Satzfetzen und sinnlos verstreute Einzelwörter. Immer wieder bleiben flammende Appelle, wirkliche politische Programmatik und persönlichen Anekdoten im Ansatz stecken oder werden abrupt fallen gelassen. Parolen aus der links- und der rechtspopulistischen Seite treffen sich mit den Phrasen der Funktionäre und Technokraten. Man erlebt einen Querschnitt durch den müden deutschen Wahlkampf und die demagogischen Überhitzungen im Ausland.

Martin Brandes beeindruckt sehr durch den flinken Wechsel der Rollen und das Auskosten der verbalen Pointen. Obwohl er manchmal sehr schnell redet, wirkt die Szene mit der Zeit etwas lang und die Mischung der Phrasen absehbar. Aber vielleicht sollen sie sich ja gerade totlaufen. Und dazwischen, manchmal auch parallel, haben wir ja noch Kagels Musik. Eine durchaus individuell uniformierte Militärmusik-Truppe des Philharmonischen Staatsorchesters unter Leitung von Michael Millard spielt mal von links, mal von rechts, mal von hinten. Zwischendurch marschiert sie, erst aufrecht, später hinkend und gesenkten Kopfes, an den zweieinhalb Sitzplatz-Reihen vorbei. Kagels verbogene Musik kommt präzise zur Geltung. Ein Teil der Besetzung spielt im Marschtakt, der andere verschiebt die Akzente und verunsichert den Schritt. Dabei gleicht keiner der zehn Pseudo-Märsche dem anderen. Was man wohl unten auf dem Platz noch davon hört? Auf die vernehmlich ins Mikrofon gesprochenen Phrasen sind manchmal Reaktionen zu hören: Gelächter, Gegröle oder Beifall. Letzteres besonders nach dem schönen Satz: „Der Grund, warum wir hier zusammen sind: Wir wollen feiern!“ Feiern, das tun die Mainzer gerne und frenetisch, mit und ohne Anlass. Aber wir haben hier den Blick von oben auf den Martinsdom und St. Stephan, die südliche Altstadt und die Hänge zur Oberstadt, und wir kommen ins Denken. Links und rechts sehen wir tote Dachterrassen, die einst gastronomischen Zwecken dienten, und lernen, dass mindestens ebenso wichtig wie die Architektur an sich der sinnvolle Gebrauch ist, den man von ihr macht.

Brandes‘ großer Auftritt hat ein längeres szenisches Vorspiel, in dem der Kontext zu Kagels Musik entfaltet wird. Marschmusik sorgt ja nicht nur für muntere Stimmung, sondern auch für militärische Disziplin, und die Übergänge zwischen innerer und äußerer Uniformierung sind fließend. „Synchron ausgeführte Handlungen fühlen sich gut an,“ hat dazu kürzlich der Londoner Experimentalpsychologe Daniel Richardson im Berliner „Tagesspiegel“ gesagt, „aber sie führen auch dazu, dass wir eher geneigt sind, Autoritätspersonen zu folgen und ihre Befehle nicht zu hinterfragen.“ Das entfaltet Brandes nun zusammen mit der Opernsängerin Maren Schwier auf kabarettistische Weise. Wo sie unbegleitet und ungeschützt Volksweisen oder Kunstlieder singt, fährt er mit Kommandos dazwischen. Manchmal werden die Stimmen elektronisch verzerrt und verfremdet, doch die Marschmusik kommt unversehrt aus dem Lautsprecher. Wissenschaftliche Definitionen werden ebenso zitiert wie dümmliche Internet-Kommentare und skurrile Werbespots. Komischer Höhepunkt ist die an Slapstick-Momenten reiche Umsetzung der Formaldienstordnung der Bundeswehr in die Anschauung. Schwier rezitiert in strengem Ton, und Brandes demonstriert in grotesker Einmann-Show die Weitergabe eines Liedes in der Marschkolonne. Dass aus den Lautsprechern auf die begeisterte Ankündigung von Sousas „Stars and Stripes forever“ der Mainzer Narrhalla-Marsch tönt, bezeugt, dass Regisseur Dalferth die an seinem derzeitigen Wirkungsort vorherrschende Stimmungslage gründlich erfasst hat.

Ganz am Ende sehen wir Maren Schwier noch einmal wieder. Brandes hält seine letzte Ansprache vom Rednerpult. Sie beginnt, jahreszeitlich etwas zu früh, mit „Herbst“ und endet, tageszeitlich etwas zu spät, mit „Sonnenuntergang“. Bei diesem Stichwort erlöschen die Lichter auf der Dachterrasse. Wir blicken in eine klare Sommernacht und aus dem lichtverschmutzten Himmel blinkt zumindest ein Stern. Von links kommt die Sängerin und singt leise das „Laterne“-Lied: „Mein Licht geht aus, wir gehen nach Haus, rabimmel rabammel rabumm.“ Vielleicht sind wir alle nur kleine Lichter, oder es gehen am Wahlabend auch die Lichter aus, oder wir folgen Tim Etchells und „arbeiten alle miteinander und gegeneinander, damit sich unser Land im Kreis dreht.“ Eines aber steht fest, mit Blick auf den Martinsdom: St. Martin feiern wir auf jeden Fall.

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