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Cristina Damian als Margarita in Hamburg.  Foto: Jörg Landsberg
Cristina Damian als Margarita in Hamburg. Foto: Jörg Landsberg
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Der Meister lässt euch sagen: „Meine Zeit ist da“ – York Höllers „Der Meister und Margarita“ in Hamburg

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Der Arzt Michail Bulgakow (1891–1940) aus Kiew machte sich in den Jahren nach der Oktober Revolution einen Namen als Schriftsteller. Bald aber fühlte sich die Partei und Staatsführung durch die Ironie und den Sarkasmus seiner Schilderung der neuen Verhältnisse provoziert, ließ ihn die den Intellektuellen zugedachten Mittel des Leninismus spüren. „Der Meister und Margarita“, unter schwierigen Bedingungen in den 30er Jahren entstanden und bis 1940 achtmal umgearbeitet, trägt leicht verschlüsselt autobiographische Züge.

Bulgakows Hauptwerk ist ein Buch voll Wut über die Intellektuellenverfolgung und Trauer über den Gang der sozialistischen Verhältnisse, voll Melancholie über den Kulturverlust und die verordnete Nivellierung der Literatur, voll bösem Spott über die Nomenklatura und deren Privilegien. Der Text ist erfüllt von abgründiger Lust an jenen vorrationalen und antiaufklärerischen Momenten in der großrussischen Gesellschaft, die weder durch Sowjetmacht noch Elektrifizierung einfach gebannt waren (die eben weitergeisterten) – getragen von der Liebe zur Kompliziertheit der russischen Seele, den Ungleichzeitigkeiten in der Woge der gewaltsamen Modernisierung, dem verqueren Denken in den Köpfen (die im zweiten Drittel des 20. Jahrhunderts psychiatrisiert oder abgeschnitten wurden).

„Der Meister und Margarita“ erschien mit mehr als vier Jahrzehnten Verspätung zunächst als Fortsetzungsroman in einer Moskauer Zeitschrift. Die Publikation „schlug ein“ – und das vielschichtige Sujet lag sofort auch für Komponisten in der Luft. Es bot sich in seinem Changieren zwischen Phantastik und sarkastischem Realismus für die Weiterentwicklung zur Oper förmlich an. Gleich nach Erscheinen griff der Komponist Sergej Slonimski in Moskau zu und vertonte zentrale Episoden des vielschichtigen literarischen Meister-Werks. Seine Oper konnte zunächst nicht aufgeführt werden, denn die Verhältnisse, die Bulgakow ironisch vorführte, dauerten an. Die Uraufführung wurde 1991 bei den Dresdner Maifestspielen nachgeholt.

Rainer Kunad, ein aus der DDR in die Bundesrepublik emigrierter Tonsetzer, brachte seine Oper „Der Meister und Margarita“ 1986 in Karlsruhe heraus. Er stützte sich in eindeutiger Intention auf Bulgakow und wollte auf seine Weise mit dem Terror und der Gängelung der Künste, mit der Lächerlichkeit der Literaturplanung und dem abergläubischen Vertrauen auf rationale Aufklärung und Atheismus abrechnen. Sein musikalisches Kauderwelsch war freilich nicht geeignet, dieser Meister-Oper einen länger andauernden Erfolg zu bescheren.

Der bahnt sich mit einer dritten musikalischen Fortschreibung des Stoffs an: Hans Neuenfels brachte 1989 in Paris York Höllers Version der Bulgakow-Story mit der artifiziellen Musik des Kölner Komponisten auf die Bühne des Palais Garnier, ein halbes Jahr vor der Implosion des Systems, das der Romancier so entschieden wie subtil attackiert hatte. In der französischen Metropole war man von so viel östlicher Kunstfertigkeit und deren Wucht durchaus angetan: Von den Turbulenzen der Handlung und deren noch deutlich erkennbaren politisch-gesellschaftlichen Brisanz; vom elaborierten Aufwand der Partitur, die neue Musik in großer Form zeitigte mit vielschichtigen Traditionsbezügen. Elektronische Elemente wurden integriert, anspielungsreiche Zitate und Quasi-Zitate (gemessen an neuerer Zitat-Wut allerdings vergleichsweise sparsam gesetzt). Gut hörbar nehmen sie Bezug auf prunkvolle Festlichkeit der Spätrenaissance und Hector Berlioz („Satansball“) oder Dmitri Schostakowitsch („Marsch im Varieté).

Auch Höller zielte, wie er anlässlich der Uraufführung erklärte, in erster Linie auf die Figur des Meisters – allerdings aus einer gewissen sicheren Distanz. Es ging ihm generell um die „Situation des Künstlers in der Diktatur, der einen Roman über die Frage von Macht und Schuld schreibt, beim Versuch der Veröffentlichung kläglich scheitert, massive Konflikte mit der Staatsgewalt bekommt“. Der 1944 in Leverkusen geborene Kölner Komponist war tief affiziert vom Schicksal des zwar fiktiven, aber durchaus nach realen Vorbildern portraitierten Schriftstellers, der – es ist eine realrealistische Komponente – ins Irrenhaus gesteckt wird, weil er zum Verdruss der Funktionäre über den legendären Pontius Pilatus schrieb und die Frage, was denn Wahrheit sei, dann von seiner (mit einer einflussreichen Persönlichkeit zuverlässig verheirateten) Geliebten Margarita „und einer metaphysischen Person namens Voland aus dieser Isolationshaft befreit wird“. Doch geriet Höller das Werk streckenweise zum Mephisto-Stück.

Denn Monsieur Voland ist in seiner Oper so präsent wie Mephistopheles in den gelungenen Ausformungen des „Faust“-Stoffs: Er erscheint als Magier aus der Tiefe der Geschichte. Vielleicht ist er der Teufel selbst, der sich auch gleich in der ersten Szene einmischt. Da erschüttert er den platten Materialismus des mäßig talentierten Literaten Besdomny und des Kritiker-Papstes Berlioz. Dieser Vorsitzende des privilegierten Schriftstellerverbandes verliert seinen Kopf, wie es Voland vorhersagt. Ironie des Schicksals: durch die Straßenbahn, das Vehikel des Fortschritts. Anders als in der Uraufführungsinszenierung, die den Literatur-Spitzenfunktionär noch eine kopflose Runde drehen ließ und dem Fußvolk im Massolit-Feinschmeckerkeller den Appetit verdarb, bleibt die neue Hamburger Produktion gegenüber dieser heiteren Grausamkeit abstinent und lässt keinen Kopf rollen. Ersatzweise zeigt sie die Liquidation des Katers Behemoth durch ein Spezialkommando, also leicht trashig eine der Komponenten des staatliches Terrors.

Höllers Partitur basiert insgesamt auf einer zwölftönigen „Grundgestalt“, einer flexibel zu handhabenden Tonfolge, die als Generalformel eine imaginäre Einheit im Gestaltenreichtum der Musik schafft. Auf der Grundlage von deren themenstiftender Struktur organisierte der Komponist ruhige, quasi rezitativische Passagen und dichtgedrängte Momente der Aufgeregtheit, fast lautmalerische Situations-Schilderungen. Die kunstrussische Revoluzzerhaftigkeit des jungen Strawinsky blitzt auf, wenn es darum geht, das Groteske, Übernatürliche, Wahnwitzige zu skizzieren oder den Surrealismus der Story laut werden zu lassen. Höller schreckte vor Varieté-, Kaffeehaus- oder Rockmusik-Anklängen nicht zurück. Mit den Tonband-Zuspielungen erweis er der im Umfeld des Westdeutschen Rundfunks Köln und dessen elektronischem Studio entwickelten elaborierten Orchester-Kompositionskünsten Reverenz (insbesondere bei „Margaritas Flug“).

Die Verhandlung des Pontius Pilatus gegen den wegen Landfriedensbruchs, Aberglaubens und Majestätsbeleidigung angeklagten Jeschua von Nazareth, dessen Partie Dietrich Henschel in Hamburg ebenso wie die Titelpartie bestreitet, gehört fortdauernd zu den musikalisch intensivsten Passagen. In dem mit Verderben und Tod endenden zweiten Teil erhebt sich ein Wärmestrom der Musik. Auch er eröffnet Margarita und dem Meister, die von Asasello mit vergiftetem Wein traktiert werden, eine „Freiheit jenseits der realen Zwänge“ (das Theater muss dergleichen nicht genau vorstellen, da es hinsichtlich des Zwanghaften ebenso freie Hand hat wie gegenüber der Realität).

Bemerkenswert erscheint, dass sich die Wahrnehmung der vor zwei Dutzend Jahren als entschieden modern rezipierten Musik veränderte. Sie hat das einst noch Gewöhnungsbedürftige abgelegt. Die neue Musik des 20. Jahrhunderts ist insgesamt historisch geworden, diese aber im besten Sinn: Was jetzt an der Hamburger Staatsoper unter der Stabführung von Marcus Bosch aus dem Orchestergraben aufsteigt, wirkt jetzt ungleich „schöner“ und einvernehmlicher. Jedenfalls selbstverständlicher und verständlicher in der Form und Weise, die der höchst souveräne Meister Dietrich Henschel herausprozessiert oder der gekonnt diabolische Derek Welton als Voland. Die rumänische Mezzosopranistin Cristina Damian unterstreicht, dass sie ebenso mütterlich fürsorglich für das luftige Romanprojekt zu sein hat wie die bodenständige Geliebte des Autors, den man ihretwegen beneiden mag. Damian trifft das Mittellot zwischen kontradiktorischen Anforderungen. Sie erscheint – was vielleicht das Phantastischste an dieser Oper ist – als „wahre, treue, ewige Liebe“ in Person. Den Meister, der sich in der Klinik zunächst von ihr verlassen glaubt, straft sie Lügen – und es brennt in ihrer Stimme wie „in ihren Augen beständig ein rätselhaftes Flämmchen“ (Bulgakow).

Bei allem Zeit- und Lokal-Kolorit, das in York Höllers Hauptwerk einfloss, ging es mit ihm vor einem Viertel Jahrhundert bereits in der Hauptsache in allgemeinerer Form um das Verhältnis von Künstlern und Gesellschaft. Diese Tendenz verstärkt die Inszenierung von Jochen Biganzoli im Bühnenbild von Johannes Leiacker. Ein gleißend weißer Raum, umringt von Leuchtröhren, beherbergt die unterschiedlichsten Szenen und abstrahiert von Moskau und der Zeit der Schauprozesse. Das unterstreicht auch die Kleiderordnung, die der Gegenwart verpflichtet ist. Nur Tigran Martirossian in der purpurnen Toga des römischen Präfekten Pontius kontrapunktiert und der im Tütü popowackelnde Nobelcounter André Watts als Behemoth. Auf neuere Bildwahrnehmung spielt auch die Einlieferung von Iwan Besdomny in die geschlossene Anstalt an: er wird am Hundehalsband vorgeführt wie die Gefangenen in Abu Ghuraib. Um die Gespaltenheit des Meisters zu signalisieren, gesellte Biganzoli dem Bariton Henschel einen Tänzer und einen Schauspieler zu. Sie helfen, die anfängliche Textmenge in ein genuin musikalisches Schauspiel hinüberwachsen zu lassen. Da wurde – es stellt einen erheblichen Eingriff in die Partitur dar – eine Varieté-Szene hineingebastelt, die unmittelbar auf Hamburger Unpässlichkeiten der Gegenwart (wie Taxipreise, Falsch- und Steuergeld sowie den Bau der Elbphilharmonie) anspielt. So wurde der inzwischen ‚alten’ Musik mit etwas schalem Entertainment neu auf die Sprünge geholfen. Dabei verfügt Höllers Musik fortdauernd über hinreichend Sprung- und Schlagkraft, hat die Aufbereitung durch eine „Lustige Person“ nicht nötig.
 

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