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Ironie statt strukturanalytischer Arbeit. Das Esnemble Modern mit acht Uraufführungen in München. Foto: Astrid Ackermann
Ironie statt strukturanalytischer Arbeit. Das Esnemble Modern mit acht Uraufführungen in München. Foto: Astrid Ackermann
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„Die Folklore ist gestorben“: das Ensemble Modern mit Uraufführungen zum Thema „Mythen, Nation, Identitäten in Mittelosteuropa“

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Musik, heißt es, habe im östlichen Europa seit dem 19. Jahrhundert oft eine bedeutende Rolle für die Konstitution nationaler Identität gespielt. Das ist bekannt, aber vorbei. Die Goethe-Institute in Mittelosteuropa haben sich nun gefragt, ob es für das Verhältnis von Musik und nationaler Identitätsbildung auch eine aktuelle Diagnose gibt, und haben mit dem Bayerischen Rundfunk, dem Ensemble Modern und der BHF-Bank-Stiftung die Veranstaltungsreihe „Woher? Wohin? Mythen, Nation, Identitäten in Mittelosteuropa“ kreiert.

Es war der slowenisch-französische Komponist Vinko Globokar, Jahrgang 1934, der in einer vorgeschalteten Diskussionsveranstaltung das Motto vorgab mit dem apodiktischen Satz: „Die Folklore ist gestorben.“ Gegenwärtige Musik hantiere nicht mit ererbten Emotionsvorräten, sondern wahre den kritischen Blick auf das  Material. Die meisten mittelosteuropäischen Nationen sind noch recht neu auf der Landkarte, Konstitutions-Mythen aber brauchen sie nicht. Mythen sind Ausdruck unerfüllter Wünsche und Begleiter des Unfriedens.

Europa bedeutete für die Aufbruchsgeneration nach 1990 eine Horizonterweiterung und die Chance zur Regeneration eigener Identitäten in zurück- oder neu gewonnenen politisch-kulturellen Räumen. Gegenüber dem Bierernst einer Mythenbildung setzen die jungen Komponisten Mittelosteuropas, deren Arbeiten jetzt in zwei Konzerten von dem Ensemble Modern in der Münchner Muffathalle unter der Leitung von Peter Eötvös uraufgeführt wurden, eher auf Ironie, auf strukturanalytische Arbeit, auf das Konzept der Selbstverantwortung, auf eine politische Kultur des Aushandelns, der freundlich-zugewandten Distanzierung von alten Geistern. Niemand spitzt hier seine Arbeit affirmativ oder legitimatorisch zu. Einige bleiben ernst und problemorientiert, ohne Pathos zu entwickeln, andere ziehen es vor, sich lustig zu machen, ohne auf ernsthafte Reflexion zu verzichten.

Bei den drei lettischen Komponisten fiel ein plastischer, zuweilen durchaus theatraler Zugang zum Thema auf. Kristaps Petersons („Money“ für dirigiertes Ensemble) griff das Thema der scheinbar identitätsstiftenden Wirkung einer Landeswährung auf: Schnell schlägt der feierliche Klang der Münzen um in eine Vervielfachung der Position des Dirigenten; allein die Tatsache, dass trotzdem kein unfassbares Chaos ausbricht, gibt noch Anlass zu Hoffnung. Voller Ironie und Geräuschhaftigkeit steckte die Auseinandersetzung Andris Dzenitis' mit dem Phänomen des Nationalgerichts („Latvian Cookbook“), und Janis Petraskevics macht in „Darkroom“ das Suchen selbst zum Thema.

Die Ungarin Judith Varga zeichnet in „Entitas“ eine dialektische Beziehung zwischen der Ent-Traditionalisierung von Techniken der Klangerzeugung einerseits und einer daraus resultierenden Vereinheitlichung des Ensembleklanges andererseits. Pawel Hendrich aus Breslau nähert sich mit „Sedimetron“ dem Konzept des Individuums rückwärts, indem er Identitätsbildung als Sedimentierungsprozess auffasst. Die Slowenin Nina Senk hat Material unter Kulturschaffenden ihres Landes für „Twenty in Five“ gesammelt, in dem sich Widersprüche nicht auflösen: Sie zu ertragen, erscheint als eigentliche Zukunftsaufgabe. Der Tscheche Frantisek Chaloupka greift als Einziger in „Masin Gun – Seven Rituals for Purging the Czech Lands From the Spirit of Communism“ eine Art Mythos auf, eine tief ambivalente Heldengeschichte aus dem nationalen Widerstand der frühen fünfziger Jahre, allerdings nicht, um sie zu bewerten, sondern um den Vorgang der Ritualisierung auszuleuchten.

Das reifste und dramaturgisch konsequenteste Stück des Uraufführungszyklus heißt lapidar „Kaleidoscope“ und stammt von dem slowenischen Komponisten Matej Bonin: eine raffiniert gearbeitete Konfrontation von liegenden Klängen mit punktuell-ungeordneten Klangereignissen; beide Seiten machen eine feinsinnig ausgehörte Entwicklung durch, bis nahe an ihr Gegenteil, ohne dass Einheitsbrei entsteht oder das Gesamtgefüge aus dem Lot geriete.

Was bleibt von dieser groß angelegten, bestandsaufnehmenden Anstrengung, ist vor allem der beharrliche Hinweis, dass politische Aufklärung und ästhetische Redlichkeit sich nach wie vor nicht ausschließen.

Die acht Kompositionen sind am 22. Januar und 2. Februar 2013 in Frankfurt sowie anschließend auch in Budapest, Warschau und Riga zu erleben.

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