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Harfenistin Saskia Kwast im Zentrum des Bühnenbildes von »The Rape of Lucretia«. Foto: © Klaus Lefebvre
Harfenistin Saskia Kwast im Zentrum des Bühnenbildes von »The Rape of Lucretia«. Foto: © Klaus Lefebvre
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Die Hilflosigkeit gegenüber der Gewalt – Benjamin Brittens „The Rape of Lucretia“ im Kölner Staatenhaus

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Wie lange Köln sich noch mit Provisorien für seinen Musiktheaterbetrieb abfinden muss, steht in den Sternen. Doch anders als zu deren Konstellationen wagt am Niederrhein niemand mehr eine Prognose für die Wiederinbetriebnahme seines Opernhauses. Mitte November wurde mit dem „Staatenhaus“ auf dem Messegelände ein neues Ausweichquartier in Betrieb genommen. Es gab „Benvenuto Cellini“ von Hector Berlioz. „Viel Spektakel, aber auch viel Leerlauf“, resümierte der zuständige Feuilleton-Redakteur des Kölner Stadtanzeigers in der Frankfurter Rundschau die Produktion, mit der sich der neue Gürzenich-Kapellmeister François-Xavier Roth als GMD der Oper vorstellte. Der mit La Fura dels Baus berühmt gewordene Regisseur Carlus Pedrissa bereitete die großformatige Künstleroper mit ermatteter Theaterphantasie auf („Die Invasion der Quallen“, FR v. 16.11.2015).

Nun ließ die Intendantin Birgit Mayer als ‚Zwischenmahlzeit’ auf dem Weg zum nächsten Hauptgang („Jeanne d’Arc“ von Walter Braunfels ab dem 12.2.) eine Kammeroper servieren. Eine der AssistentInnen und SpielleiterInnen der Oper Köln durfte sich mit „The Rape of Lucretia“ von Benjamin Britten erproben. Allerdings bekam sie mit Rainer Mühlbach einen sehr erfahrenen Kapellmeister zur Seite gestellt. Mühlbach steht nicht nur dem 13köpfigen Instrumental-Ensemble vor, das zwischen den beiden jeweils hundert Sitzplätze fassenden Zuschauertribünen postiert wurde. Der Dirigent bestreitet zugleich den Klavierpart. Er singt vor und ‚fängt auf’ – gleich, wie weit die Sänger sich vom Zentrum des musikalischen Geschehens zu entfernen haben. Er hat, trotz der erheblichen Luftwege zwischen dem Orchesterchen und den Akteuren, die musikalischen Abläufe stets fest im Griff. Alle acht SängerInnen entstammen dem von ihm geleiteten Kölner Opern-Studio – eine ideale Voraussetzung für die Präzision des Zusammenwirkens und die klangliche Harmonisierung unter erschwerten Bedingungen. Bei allem energischen Führen trägt Mühlbach der Transparenz und Luzidität des Tonsatzes sensibel Rechnung. So wird die Aufführung der Partitur umfassend gerecht, die unmittelbar nach dem zweiten Weltkrieg entstand und einem eleganten Neoklassizismus ebenso verpflichtet ist wie einem Ausdruckswollen, das alle Kraft- und Poltergesten vermeidet.

Die in die Länge und Breite gezogene Anordnung des Kammerspiels scheint dessen epische Momente zu unterstreichen und kehrt den Lehrstückcharakter hervor. Der Chor wurde auf die Partien von zwei ErzählerInnen reduziert. Keith Bernard Stonum und Justyna Samborska nutzen die Reflexionsebene ihrer Rollen und spielen die von der Inszenierung vorgesehenen grotesken Momente virtuos – sie als sein Hund. Auch die sechs anderen werden allesamt ihren Partien nicht nur vollauf gerecht, sondern führen die Leistungsfähigkeit des Opernstudios auf bemerkenswerte Weise vor – vornan der koreanische Bariton In Sik Choi, der als „Hunne“ das Böse des Bösewicht Tarquinius unterstreicht, und Dongming Lee, die die Leichtfertigkeit der Dienerin hübsch herausspielt.

Was nur hat den bekennenden Pazifisten Britten geritten, angesichts der auch in London noch rauchenden Trümmer diesen Text Ronald F.H. Duncans in Musik zu setzte? Es handelt sich um die Bearbeitung einer Tragödie André Obeys („Le Viol de Lucrèce“, 1931), die ihrerseits die Bearbeitung des Shakespeare-Gedichts „The Rape of Lucrece“ darstellt, das auf Ovids Versepos „Fasti“ rekurriert. Wie zuvor schon der römische Geschichts- und Geschichtenschreiber Livius kolportierte Ovid die Sage von der schönen und tugendsamen Lukretia, die nach einer Wette von drei Feldherren bezüglich der weiblichen Treue vom Repräsentanten der etruskischen Besatzungsmacht überlistet und vergewaltigt wird, als Geschichtsprojektion: Die Legende gehört zu den Gründungsmythen des Imperiums. Den zeitweise überlegenen und über die Sieben Hügel herrschenden feindlichen Nachbarn ist der politische Impuls, der aus dem demonstrativen Suizid der Patriziergattin resultierte, nicht gut bekommen (als es den Römern mit einem Aufstand gelang, sich politisch-militärisch neu aufzustellen, rotteten sie die Etrusker aus – mit Stumpf und ganz stillos). Doch auf das historische Umfeld kam es bereits Benjamin Britten nicht an. Also muss auch eine Produktion heute darauf keine Rücksicht nehmen.

In der Inszenierung von Kai Anne Schumacher ist Rom am Wasser angesiedelt. Gespielt wird auf einem Sandstreifen rund um einen relativ großen quadratischen Zierteich, auf dem eine Flotte von Papierschiffchen dahindümpelt. Dekorativ wurden einige Steine und Totenköpfe der Wasserkante entlang angeordnet. Zugedeckt warten die Sängerdarsteller, bis das Stück sie aufruft. Von einer Plattform in der Mitte des flachen Wassers aus mischt sich die Harfenistin Saskia Kwast mit dem zarten silbernem Glanz ihres goldglänzenden Instruments in den Tonsatz ein. Auf diese Insel begibt sich Lukretia, die sehnsüchtig den geliebten Gatten erwartet, zur Nachtruhe – und in einem Zelt, das aus dem See in die Höhe gezogen wird, bedrängt der ungebeten hereindringende Tarquinius die begehrte Frau. Lukretia, die mit intensiv-voller Altstimme ausgestattete Judith Thielsen, ist auf Liebe eingestimmt. Jäh aus Träumen aufschreckend sieht sie sich dem falschen Mann konfrontiert. Sie schlägt zwar dessen Avancen geduldig ab, wehrt sich aber nicht körperlich, sondern belässt es – vergeblich – beim Argumentieren.

Die Kölner Inszenierung zeigt etwas Wasserschlacht (bei der die Musik aber dem Opfer nicht zu Hilfe kommt). Die Schlüsselszene ist bei Shakespeare dramatisch ungleich schärfer gefasst: Da droht der Sohn des etruskischen Tyrannen, Lucretia zu erstechen und ihren Leichnam neben den eines toten Sklaven zu legen, um dann zu behaupten, er habe die beiden in flagranti erwischt und durch die Tötung die „Ehre“ des Kollegen ,gerettet' – und hält sie dadurch von der Gegenwehr ab. Bei Duncan und Britten setzt der Vergewaltiger, in dem er mit Worten nichts erreicht, kurz und knapp das Schwert ein – und er bekommen mit blumigen Worten, was er begehrt.

Der Kapellmeister wies im Vorfeld der Aufführung auf die „bedrückende Aktualität“ des Stücks hin. Zeitbezug seit durch das gegeben, was die örtliche ,Qualitätspresse’ „die Ereignisse der Kölner Silvesternacht“ nennt: „Dass es hier wie dort um das Ausleben männlicher Allmachtsfantasien geht, um die Missachtung von Menschen und ihre Verletzbarkeit“. Er hätte ruhig hinzufügen dürfen: Dass es in beiden Fällen auch um ein vorprogrammiertes Versagen der „Sicherheitskräfte“ geht. Aber das wollte auch die Inszenierung nicht zur Kenntnis nehmen. Der immanent ästhetische Zugriff auf das Werk bietet keine Option, Brittens Werk und dessen Handlungskern in Zonen zu transferieren, in denen die behauptete „Aktualität“ ernsthaft „bedrückend“ werden könnte. Die offene Spielsituation in der großen Weite der Messehalle hätte hierzu durchaus Voraussetzungen geboten.

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