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Ein Blick auf Deutschland: Sebastian Baumgarten entrümpelt Carl Maria von Webers „Freischütz“ gründlich

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In der Pressekonferenz zur ersten Spielzeit ging an den neuen Bremer Intendanten Michael Börgerding die Frage, wie er sich das denn überhaupt vorstelle, erst Ende März die erste „richtige“ Oper zu bringen? Denn bis dahin gab es eine Kinderoper („Wo die wilden Kerle wohnen“ von Oliver Knussen), Jacques Offenbachs Opera Bouffe „Die Banditen“, eine Videofassung von Gustav Mahlers „Dritter Sinfonie“ unter dem Titel „Mahler III“, „Mahagonny“ von Kurt Weill und mit „Wunschkonzert“ eine szenische Montage von Klavierliedern der Romantik. Nun also endlich die „richtige“ Oper: „Der Freischütz“ von Carl Maria von Weber, jener gewaltige Anstoß für Richard Wagner. Doch die wurde vom 1969 geborenen Ruth Berghaus-Schüler Sebastian Baumgarten derart einer sezierenden politischen Analyse unterzogen, dass es viele Buhs gab. Börgerdings Linie wird klar: Mitdenken erwartet er von einem experimentierfreudigen Publikum.

Vorbei mit Försterhaus, Trachtenjankergemütlichkeit und Jägerkranz, Jungfernchor und romantischem Wald: Das allerdings ist nicht neu und hat noch alle Freischütz-Regisseure herausgefordert. Es ging Baumgarten in dem Stück nach Beendigung des dreißigjährigen Krieges um eine Sicht auf die Grundlagen des deutschen Faschismus: Gehorsam gegenüber Obrigkeit und Kirche verbunden mit den Urängsten gegenüber dem Fremden, dem anderen, das man ja unterdrückt und im Kolonialismus unterjochen wird: „Verzeihen Sie, Herr Vater“, wird auf dem Titelblatt des anregenden Programmheftes Michael Haneke zitiert.

Max hat den schwarzen Kasperle im Rucksack und der Gang in die Wolfsschlucht ist der in die unbewusste Angst und (koloniale) Schuld, personifiziert durch Schwarze, die Menschenopfer zelebrieren In einem großartigen Bühnenbild (Natascha von Steiger), das durch Drehtechniken alles war – das Försterhaus, der Wald, die Kammer von Agathe und die Eremitenklause – lief mit Projektionen militärischer Art der Hintergund der gar nicht mehr märchenhaften Erzählung ab. Kaspar, der ironisierende Außenseiter, Max, der heilsuchende Außenseiter, Agathe, die die Katastrophe ahnende, Ännchen, die lustig Verdrängende, Kuno, der strenge Erbförster, Ottokar, der prinzipienreitende, kriegsgeschädigte Fürst: sie alle müssen sich in einem System, das als militärische Hintergrundprojektion und im Jungfernchor durch einen funktionierenden Bienenstaat repräsentiert wird, bewähren bzw. kommen darin um, wie die Titel der Bilder nach der katholischen Totenmesse – ohne Gloria und Credo – suggerieren. 

Kaspar ist zwar tot, er streckt aber am Ende, wenn oben alles wieder im Lot zu sein scheint, die Zunge heraus: Nichts ist gut, die gesellschaftliche Repression geht genauso weiter. Denn der Probeschuss ist mit Anstoß der Geistlichkeit zwar abgeschafft, aber nun muss der arme Max mit einem „Probejahr“ sich denselben Kontrollmechanismen unterziehen wie vorher auch: eine einziger Schein ist dieses C-Dur-Finale und situiert exakt die Entstehungszeit der Oper 1820 mit den Repressalien des so genannten Vormärzes. Und das war in jeder Hinsicht großartig gemacht. Auch wenn Baumgartens kluge und explosive Fantasie im Zeigen der drei Schichten Vergangenheit, Kompositionszeit als Gegenwart und Zukunft manchmal zu viel wollte und manchmal mit dem erklärenden Zeigefinger dem Zuschauer zu wenig eigene Assoziationen erlaubte – wie das Hervorzaubern der schwarzen Puppe zu „Doch mich umgarnen finstre Mächte“, wie Agathe als Bienenkönigin, gefangen in einem System, wie auch Kaspars „Ätsch“ am Schluss. Aber das ist einem überzeugenden Ansatz untergeordnet.

Erheblichen  Anteil an der szenischen Deutung hatte die musikalische Interpretation durch die Bremer Philharmoniker unter der Leitung von Markus Poschner. Die Musiker kosteten die Heterogenität der Partitur mit einer an die Grenze gehenden Konsequenz aus: die Arien von Max und Agathe, die stocken und nicht weiter gehen, die braven Kirchengesänge, die wiederum ganz andere, ungeheuer wilde Musik der Wolfsschlucht oder das von Dialogen durchbrochene Trinklied des Kaspar. Extreme Schroffheit und extreme Lautstärken schon in der bedrohlichen Ouvertüre, auch das ist alles andere als leicht zu hören. Das Ganze ist wunderbar eingebettet in von Baumgarten und dem Dramaturgen Ingo Gerlach neu geschriebene Dialoge, die von Stefan Kosinski musikalisch kommentiert sind.

Die Besetzung ist eine Klasse für sich, alle singen mitreißend: Heiko Börner als tumber, eifriger und rotbackiger Max, Loren Lang als faxenschneidender Außenseiter und Agent des Bösen, Patricia Andress als puppenartige Agathe, die nie bei sich selbst ist, Steffi Lehmann als quirliges Ännchen, die so manche Szene lustig aufmischt, Martin Kronthaler als stimmgewaltiger, nach dem Krieg im Rollstuhl sitzender Fürst, Daniel Wynarski als eifriger Erbförster, der dem ungehorsamen Max auch mal das Ohr umdreht, und Christian Andreas Engelhardt als holzgeschnitzter Kilian. Christoph Heinrich als Eremit kommt schon eingangs in einem Stummfilm vor, indem er Agathe die Rosen überreicht. Ein anregender und bedenkenswerter Abend, der unbedingt einen zweiten Besuch verdient. 

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