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Carmen (Paula Murrihy). Foto: Monika Rittershaus
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Ein neuer „Carmen“-Maßstab – Carydis und Kosky in Frankfurt mit einer „Carmen“ für Hier und Heute

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Unser Kritiker war geradezu aus dem Häuschen. Die „Carmen“ von Georges Bizet an der Oper Frankfurt hat ihn glücklich gemacht. Der „außerordentlichen musikalischen Interpretation entsprach eine kongeniale Szene“, meint Wolf-Dieter Peter.

Jaja, „Carmen“ – etwa mit der von Karajan einst für Salzburg engagierten großen Flamenco-Truppe und den dampfenden Emotionen des Duos Bumbry-Vickers – später auch glutvoller Verismo etwa von Troyannos-Domingo und ähnlichen Paarungen … gut, dann der fern gebliebene Versuch Walter Felsensteins einer „Entschlackung“ in Moskau, auch die ernstzunehmenden Aufnahmen der Dirigenten Beecham und Cluytens mit Künstlerinnen wie Victoria de los Angeles und Maria Callas. Liebhaber haben irgendwann die stilistisch dem Werkcharakter nahekommende frühe Aufnahme mit Solange Michel aufgetrieben. Puristische „Carmen“-Spezialisten verweisen auf Peters Brooks radikale Reduktion in seiner „Tragédie de Carmen“… aber so auf den Bühnen? Als Trost bleibt da oft nur viel gute Fachliteratur zum Typus „Opéra comique“…

Doch jetzt können Musiktheaterfreunde wie der Großteil des Frankfurter Premierenpublikums beeindruckt und hingerissen jubeln. In einer über die dreieinviertel Stunden hör- und sichtbaren, ja geradezu greifbaren Einheit von Musik und Szene haben Dirigent Constantinos Carydis und Regisseur Barrie Kosky aus Michael Rots kritischer Ausgabe eine Fassung für das Theater und Menschen von Heute erstellt. Erste bestechende Grundentscheidung: heutige internationale Sängerensembles würden den in der Opéra comique selbstverständlichen französischen Dialog eher nur unbefriedigend sprechen – also erzählte die schön dunkle, aber eben nicht „opern-verruchte“ Carmen-Stimme von Claude de Demo Wichtiges zu Personen und Orten. Vielfach aus einem Pianissimo-Nichts kommend setzte dann Carydis mit dem gezielt und gekonnt ebenso straff wie unsentimental aufspielenden Frankfurter Museumsorchester ein – und dann stieg der Rauch der Zigarettenarbeiterinnen klang-ätherisch auf, wurde die Einleitung zur Szene in den Bergen ein duftiges Genre-Bild und das ja für die Hauptfigur zentrale Karten-Terzett bekam lastende Tiefe ohne auf Wagner-Verdi zu zielen.

Dass er auch „fulminant“ und „federnd“ kann bewies Carydis mit einem „coup de foudre“ zu Beginn: wie durch einen Stromausfall erlosch blitzartig alles Licht und gleichzeitig setzte Fortissimo Bizets geniale Beschwörung allen spanischen Corrida-Trubels ein, der ungesehen hereingeschlichene Carydis tauchte am Pult hoch und forderte Becken, Schlagwerk und Blech bis zum Äußersten. Vergleichbares gelang im heiklen Quintett: So wie heutige „Finanz-Schmuggler“ ja kess ihre Tricks erklären, so saßen drei keck-selbstbewusste schöne Frauen und zwei mafios gestylte „Hedge-Fond-Fuzzis“ frontal zum Publikum und rasselten dann ihr Raffinessen runter – von Strophe zu Strophe im Tempo beschleunigt bis an der Grenze des Noch-Singbaren - und damit fast so unverständlich wie heutiges Finanz-Steuer-Chinesisch - hinreißend!

Carydis gestattete auch, dass in den Gesang von Partnern mal verächtlich geschnaubt oder sogar gelacht wurde. Aus den agil-frischen Tempi, dem immer wieder eingedämmt schlanken Gesamtklang und seiner durchweg detailliert klaren Zeichengebung erwuchs jener lockere, mitunter wie hingeworfen wirkende, mal spröd-freche, mal verführerisch aufblühende Tonfall, den Bizet in seiner Opéra comique anstrebte. Ein singuläres Stil-Erlebnis, das den ebenso ernsthaft-uneitlen Constantinos Carydis neben Kirill Petrenko in die erste Reihe heutiger Dirigenten stellt.

Doch der außerordentlichen musikalischen Interpretation entsprach eine kongeniale Szene. Barrie Kosky, seine Ausstatterin Katrin Lea Tag und Choreograf Otto Pichler konstatierten „Carmen: ein unsterblicher Mythos – auch heute – und von antiker Größe“. Folglich bildete eine bühnengroße Treppe wie aus dem antiken Tragödientheater das Einheitsbühnenbild. Darauf saß gleich zum „La mort“-Thema der Ouvertüre Carmen als „Torera“ in rosafarbenem Satin oben und kam verführerisch-lockend gleitend Stufe für Stufe herab. Später trampelte „Volk von Heute“ herunter, der Kinderchor imitierte mit Instrumenten die Militärkapelle, die Mannsbilder bedrängten und attackierten Micaela. Nichts von Folklore und realem Ambiente, sondern „Vorführung von mythisch Immergültigem“. Also trat Carmen zur „Habanera“ in der musikalisch differenzierteren Erstfassung wie eine hypergestylte Flamenco-Tänzerin auf, holte zum Höhepunkt aus ihrer hautengen schwarzen Hose rote Blütenblätter, die sie traumverloren in ihre Liebesbeschwörung über sich streute – die José betört einsammelte – später zur „Blumen-Arie“ mit beiden Händen aus dem Militärmantel holte – die ihm aber zwischen den Händen herunterrieselten – so wie die Liebe zu Carmen einst verrinnen wird.

Zahllose derartig fein gearbeitete Spielzüge aber durchtanzten, veralberten, kommentierten, bespaßten und durchwirbelten sechs Tänzerinnen und Tänzer: mal als Grotesk-, mal als Burlesque-, mal als Banderillos-Piccadores-Figuren kostümiert, vor allem aber von Choreograf Otto Pichler zum Militärmarsch automatenhaft, mal furios spielerisch, mal grell böse, immer aber rasant und atemberaubend exakt geführt – da grüßte kühle „Crazy-Horse“-Erotik, da gab es bissige Sänger-Kommentierung und Flamenco-Persiflage, da steigerten die gereihten Arme Carmen mal zur Göttin Kali – dieser pfiffige Hauch von „Unterhaltungsshow“ war stilgerecht „Opéra comique heute“ – bis hin zum Moment, dass Carmen zwar die „Liberté“-Beschwörung am Ende des 2.Akts wie einen Rausch erlebt, dann kess nach vorne kommt, in die Hände klatscht und „Entreacte - Pause“ ruft. Höhepunkt dieses „als Mythos unsterblich“ ist das Finale: im schwarzen Kleid mit bühnengroßer Schleppe wird sie von José niedergestochen, er geht klagend die Treppe wie zum Garotte-Schafott hoch – doch dann steht Carmen auf, steht im letzten Spot von Joachim Kleins hochintelligenter Lichtregie – und zuckt die Achseln: „So endete es mit dem da … aber Carmen lebt ja ewig …“ – stupend! Prompt ein wenig Buh über so viel frech gelungene Opéra comique und begeisterter Jubel: denn all das wurde hinreißend „ge-sing-schauspielert“ von insgesamt acht Rollendebütanten, bis hin zu Karen Vuongs gezielt bodenständiger Micaela, dem mehrfach in der Höhe zu „Lyrisme Francaise“ findenden, bulligen Macho José von Joseph Calleja – alle überragt - durch hinreißende Bühnenerscheinung, lockeren Comique-Tonfall, feinen Sexappeal und ernste Farben für eine Frau auf dem immer noch und wieder nötigen Weg zur Selbstbestimmung – von der kaum mehr anders vorstellbaren Carmen von Paula Murrihy. Ein Carmen-Maßstab – mehr als nur die Reise nach Frankfurt wert.

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