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Die Nachtschwalbe: Premiere 10.10.2015 // Harry, Vorstadtkavalier (Sergey Pisarev) & Nelly, Näherin (Olena Tokar). Foto: © Tom Schulze
Die Nachtschwalbe: Premiere 10.10.2015 // Harry, Vorstadtkavalier (Sergey Pisarev) & Nelly, Näherin (Olena Tokar). Foto: © Tom Schulze
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Eine Schwalbe macht noch keinen Nach(t)krieg – Einakter von Blacher an der Oper Leipzig

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1948 hatten die Menschen sicherlich anderes im Sinn, als sich mit experimenteller Oper zu beschäftigen. 2015 könnte die Zeit reif sein, den Ursachen für die seinerzeit so gründlich missratene Uraufführung von Boris Blachers Einakter „Die Nachtschwalbe“ auf den Grund zu gehen. Es soll damals einen ähnlich heftigen Opernskandal wie 18 Jahre zuvor bei Brecht/Weills „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ gegeben haben.

Sogar von Ohrfeigen ist die Rede, von absichtlichen Störungen mit Trillerpfeifen und einer vorzeitig abgebrochenen Premiere wird berichtet. War es nur die katholische Studentenschaft, die drei Jahre nach Kriegsende Morgenluft witterte und ein ihr nicht genehmes Musiktheater vehindern wollte?

An der Musik von Boris Blacher, dem späteren Kompositionslehrer unter anderem von Gottfried von Einem, Günter Kochan, Aribert Reimann und Isang Yun, kann es kaum gelegen haben. Sie birgt einen Kleinstkosmos aus allzu Vertrautem und wenigem Wagnis. Das Libretto von Friedrich Wolf mochte da schon – ungewollt – provokanter gewirkt haben. War es dessen seichte Anspielung auf freie Liebe in einem Gangstermilieu, die das prüde Volk erregt hat, oder sind es die literarisch eher dürftigen Konstrukte des Mediziners und Möchtegern-Dramatikers („Cyankali“, „Die Matrosen von Cattaro“, „Professor Mamlock“) gewesen, die für Anstoß gesorgt haben?

Aus heutiger Sicht ist eins wie das andere kaum mehr nachvollziehbar – und die Oper Leipzig hat sich nun wohl auch kaum an dieses Experiment gewagt, um forschende Musikgeschichte zu betreiben, sondern vielmehr, weil „Die Nachtschwalbe“ gerade ins Programm gepasst hat. Das findet derzeit nämlich unmittelbar vor dem Opernhaus statt, während das Innere des 1960 eröffneten Neubaus teilsaniert und für den anstehenden Opernball gewienert wird. In einem possierlichen Spiegelzelt wird ein extra dafür ausgewähltes Repertoire geboten, das mit Leonard Bernsteins „Trouble in Tahiti“ schon einen raren Außenseiter parat hatte und mit Boris Blachers „Nachtschwalbe“ nun ein Stück völlig vergessener Musikgeschichte auffuhr.

Ein Akt nur, keine ganze Stunde lang, die an einem Oktoberabend im dünnen Zelt aber tüchtig kühl wirken kann. Weil sie in keinster Weise einzuheizen vermag. Die Bühnenhandlung in einem Berliner Amüsierlokal namens „Amorsäle“ (J.W.D. = janz weit draußen) soll aber irgendwie Heiß und Kalt verbinden. Denn man will wieder Freude haben am Leben, will tanzen und trinken, will lieben und leichtfertig sein. In diese Atmosphäre gerät die erst 17-jährige Nelly, verliebt sich dort in einen Ganoven namens Harry, der das Mädchen mit einer Goldkette beschenkt und sie so für sich einnehmen kann. Psychologische Holschnitzerei halt, aber musikalisch durchaus achtbar gezimmert. Da klingt jede Menge Kurt Weill durch, da steckt Operette mit drin und wird streckenweise auch über klangliches Niemandsland gerudert.

Der Uraufführungsdirigent Paul Schmitz, seinerzeit Generalmusikdirektor in Leipzig, legte zur Premiere vorzeitig den Taktstock aus den Händen, nachdem selbst eine besänftigende Ansprache des Intendanten nichts half. Sogar der damals noch junge Hamburger „Spiegel“ berichtete über dieses Desaster.

„Die Nachtschwalbe“ wird seitdem nur sehr selten gespielt. Der Rehabilitationsversuch lässt dieses Stück einmal mehr abgleiten. Das Notturno wird von Mitgliedern des Gewandhausorchesters unter Christoph Gedschold sehr anständig zum Klingen gebracht, keine Frage. Auch Regisseur Kristof Spiewok macht seine Sache handwerklich sauber, schafft im Zelt ein Ambiente des Nachtkriegs-Berlin (Bühne Norman Heinrich, Kostüme Andrea Seidel) und bewegt die Protagonisten aus den vorderen Publikumsreihen heraus auf die kreisrunde Drehbühne. Dort nun finden sich Nelly und Harry, geraten in eine Polizeirazzia, sollen verhaftet werden, bis, ja bis der Kommissar feststellt, dass dieses Mädchen seine Tochter sein muss. Ansatzweise wird damit schon die scheinheilige Moral der Nachkriegsdeutschen berührt, im Ansatz bleibt auch das Kriminalstück stecken, das „Die Nachtschwalbe“ ja ist, und natürlich gehen auch die Charakterisierungen der Figuren über hölzerne Ansätze kaum hinaus. Dabei spielt und singt Olena Tokar ihre Nelly bezwingend, ist Kathrin Göring als Tante Holzschuh eine gouvernantenhafte Ehrenretterin mit situativem Spiel und Gesang. „Vorstadtkavalier“ Harry wird von Sergey Pisarev so einfältig hölzern gegeben wie der Kommissar Schmoerl von Tuomas Pursio, dem ein spielerischer Wandel erst gelingt, als er seine Vaterschaft entdeckt. Die kleine Nelly ist also gar nicht allein …

Das wird alles brav abgespult, vom Bühnentresen fließt eine Menge Bier, wodurch das Stück weder durchschaubarer noch verworrener wird. Es ist und bleibt simpel. Diesmal ohne Trillerpfeifen und Ohrfeigen.

Keine Ursachenforschung, was die damalige Pleite (und das aktuelle Versagen) betrifft. Offensichtlich haben die Menschen heute anderes im Sinn. Wie damals.

  • Termine: 16., 17. und 18. Oktober 2015

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