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Camerata Berlin. Foto: Stefan Pieper
Camerata Berlin. Foto: Stefan Pieper
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Futurismus auf der Überholspur – Andrew Normans „Gran Turismo“ in Berlin

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Wenn der amerikanische Komponist Andrew Norman sein Stück für acht Violinen „Gran Turismo“ nennt, gibt es dafür ein Schlüsselerlebnis: Im Jahr 2003 war der gerade 24jährige in die Lektüre der Manifeste des italienischen Futurismus vertieft, als er auf ein Autorennspiel für die Playstation stieß. Alles, was die Futuristen zu Beginn des 20. Jahrhunderts begeistert stilisierten, schien im Spiel „Gran Turismo“ wie selbstverständlich verkörpert: Geschwindigkeit und röhrende Motoren. Dynamische Interaktionen und hellwaches Reagieren sind gefragt. Wie beim Musikmachen auch.

Für Norman war nicht etwa Spielsucht, sondern eine zündende kompositorische Idee die logische Konsequenz. Soeben hat die Berliner Camerata, ein ambitioniertes junges Streicherorchester das Stück „Gran Turismo“ im Kammermusiksaal der Berliner Philharmonie und damit zum ersten Mal in Deutschland aufgeführt.

Start frei für acht Violinen, also Instrumente mit denselben Startbedingungen. Die Ausführenden sind nicht zum Publikum gewandt, sondern bilden einen Kreis. „Pedal to the Metal“ steht als Vortragsbezeichnung über der Partitur – zu deutsch etwa: „Das Gaspedal bis zum Bodenblech durchtreten.“ Aber die Teilnehmer preschen nicht ungeordnet vor. Vielmehr vereint das vorgegebene Reglement, nämlich Normans Partitur mit ausgeprägt repetitiven Mustern und Unisono-Parts sämtliche Violinen zu einem hochpräzise getakteten Motor. Mindestens 140 Viertelschläge pro Minute sind ein Wort. Vor allem, wenn darüber nahezu durchgehend Sechzehntelarpeggien zu spielen sind. Oft unisono, manchmal auch gegeneinander versetzt oder in mutiger harmonischer Reibung zueinander und fast ständig in offensiver, wechselnd betonter Bogentechnik.

Glissandi haben hier durchaus lautmalerische Aspekte. Mittendrin bremst ein ruhiger Mittelteil die instrumentale Hetzjagd vorübergehend aus. Dann geht es höher, schneller und weiter – schließlich in konsequentem Accelerando und dreifachem Fortissimo in die Zielgerade hinein. Wenn Musik im Sinne des musikalischen Futurismus die Schönheit der Geschwindigkeit ästhetisiert, beschleunigt dies auch die Wahrnehmungs- und Denkprozesse bei den Hörenden. Ebenso wie sich Lebensaspekte auch weiter beschleunigen, formuliert der in Los Angeles lebende Komponist im Gespräch sein Anliegen. Und „The material is packed around the ensemble“ beschreibt er seine Methode, die Töne jenseits des allzu linearen zu setzen.

Die Camerata Berlin lässt bei ihrer Erstaufführung dieses kompakten Stücks Musik viel eigene interpretatorische Handschrift einfließen. Dadurch wird das Mechanistische etwas zurückgenommen. Man könnte – was eine vorliegende Vergleichseinspielung demonstriert– dieses Stück viel „technischer“ darbieten, um damit vor allem Normans eigene Prägung durch den amerikanischen Minimalismus stärker zu betonen. Die acht Streicherinnen und Streicher, zu denen als Gastmusikerin auch die junge, aus Singapur stammende Ausnahmeviolinstin Jordan Hadrell gehört, lassen die Phrasen atmen und sich expressiv aufladen. In der ruhigen Mittelsequenz ist sogar so etwas wie innige Wärme gestattet. Dieses virtuelle Rennen, das im Kammermusiksaal der Berliner Philharmonie den Atem nimmt, ist im Kern immer noch Musik, die von Menschen kommt.

Das Konzert der Berliner Camerata demonstrierte zudem, dass Andrew Normans kompositorische Sprache genug Qualitäten besitzt, um sich mit Werken anderer Epochen zu plausiblen Dramaturgien zu vereinen. Solche Bedingungen zahlten sich im weiteren aus, um mit dem Solisten Adolfo Alejo in Max Bruchs Kol Nidrai erst mal einen romantischen Ruhepul zu liefern, um danach in Mendelsohns Violinkonzert die vielen enthaltenene barocken Bezüge so unmittelbar wie selten erlebbar zu machen. Auch in Antonio Vivaldis Vierjahreszeiten sorgte die leichtfüßige Herangehensweise der Berliner Camerata für ein aufgefrischtes, sehr dynamisches Live-Erlebnis: Jeder bekam in der Abfolge von gleich vier Solokonzerten „seinen“ Solopart. Entsprechend traten Marina Graumann, Olga Pak (die Leiterin und Begründerin der Camerata), Alexey Naumenko und schließlich Irina Pak mit ansteckender Bühnenpräsenz solistisch heraus. Dieser Vivaldi rockte den Kammermusiksaal im besten Sinne – und die Tongebung wies an manchen Stellen eine spürbar moderne, manchmal regelrecht neutönerischere Färbung auf.

Alte künstlerische Verfahren in die Gegenwart holen und damit auf die Zukunft weisen – darum geht es ja auch Andrew Norman in seinem rasanten Streicherstück!

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