Gesamtkunstwerk mit Streichquartett: die Kinderoper „Die zertanzten Schuhe“ von Mario Wiegand in Kassel
Die Kindermusiktage, 2005 von der Ärztin Tamara Lehmann unter dem Dach des Kammermusikvereins Kassel (heute Konzertverein) gegründet, haben der Schul- und Kulturszene in Kassel und der darumliegenden Region einen gehörigen Impuls gegeben. Die Idee: Ältere Schüler erarbeiten für jüngere, zum Teil unter Mitwirkung des in Sachen Musikvermittlung verdienten Vogler Quartetts aus Berlin, musikalische Darbietungen. Neue Kompositionen, Tanz, Schauspiel, Pantomime – an Ideen mangelte es in den ersten sechs Jahren wahrlich nicht. Inzwischen sind die Kindermusiktage eine Institution, von politischen Institutionen umworben, mehrfach dekoriert und zunehmend auch von Wirtschaftsunternehmen gefördert.
Beim siebten Mal sollte alles anders werden. Statt in einen bunten Abend mit Einzelbeiträgen sollten alle Anstrengungen in ein einziges Stück münden: „Die zertanzten Schuhe“ nach dem Grimm-Märchen von den zwölf Prinzessinnen, die immer nachts verschwinden und mit ruinierten Schuhen zurückkommen. Wer es herausfindet, dem verspricht der König eine der zwölf nach freier Wahl zur Frau und das halbe Königreich dazu. Gelingt es nicht, endet der Bewerber einen Kopf kürzer. Einer schafft es schließlich: der Schustergeselle (bei Grimms ist es ein Soldat). Die zwölfte Prinzessin findet sogar Gefallen an dem nicht standesgemäßen Jüngling. Hochzeit. Ende.
Mit Mario Wiegand wurde ein Komponist gefunden, der sich der Sache annahm und ein Libretto von Marec Béla Steffens vertonte, das recht frei mit der Vorlage umgeht. Die Musik Mario Wiegands für vier Sänger (Anna Bürk, Annegret Hoos, Mathias Monrad Møller und Philipp Mehr) und sechs Instrumente (neben dem Vogler Quartett Thomas Rimes, Klavier, und Olaf Pyras, Schlagzeug) ist auf höchst unterhaltende Weise eklektizistisch und meilenweit entfernt von der guten alten Kinderoper. Schräge Walzer werden von Schnulzen à la 20er Jahre und Musicalhitverschnitten gefolgt und immer wieder einmal durch eine Prise „neuer“ Musik gewürzt. Die Kinderchöre sind ebenso einfach wie wirkungsvoll.
Die Regie führte in dem kurzen, intensiven Probenprozess Nino Sandow, der offensichlich stressresistente Berliner Vollbluttheatermann, stets auf der Suche nach etwas, das er noch nicht gemacht hat. In zwei unterschiedlichen Besetzungen spielten und sangen jeweils zwei Schulklassen, zum Teil mit bewegendem Engagement.
Als sei dies alles noch nicht genug, wurde vorab ein Kompositionswettbewerb für Schüler ausgeschrieben. Eine Leerstelle im Stück – der Tanz der zwölf Prinzessinnen vor dem unterirdischen Schloss – sollte mit einer Komposition für Streichquartett gefüllt werden. Die beiden siegreichen Beiträge der jungen Polin Aleksandra Chmielewska und des Leistungskurses Musik des gastgebenden Friedrichsgymnasiums Kassel wurden in jeweils zwei der vier Aufführungen eingebaut.
Viermal war die Sporthalle voll, um die 1.500 Zuschauer sahen das Spektakel, dessen didaktische Absicht – die Hinführung zur Oper – so dezent verpackt war, dass der erhobene Zeigefinger diesmal keine Rolle bekam.
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Kinderoper "Die zertanzten Schuhe" bei den Nordhessischen Kinde
Zum Kommentar von Mathias Monrad Moeller im Bad Blog of Musick (http://blogs.nmz.de/badblog/2011/03…):
Lieber Mathias,
wie im Vorfeld besprochen, sind die „Nordhessischen Kindermusiktage mit dem Vogler Quartett“ ein künstlerisch-pädagogisches Projekt, bei dem es darum geht, neue Wege in der Musik- und ganz allgemein Kulturvermittlung in Schulen zu suchen. Dort, wo alle Kinder sind, nicht nur die, welche auf Grund des kulturellen Interesses ihrer Eltern sowieso in Konzerte gehen oder ein Musikinstrument erlernen. „Hut ab!“, das ist häufig meine erste Reaktion, wenn ich sehe, was heute von Pädagogen im Unterricht gefordert wird. In einem der vorhergehenden Jahre hat mir eine Grundschullehrerin berichtet, dass sie einen Teil der Elternschaft ihrer vierten Klasse erstmals im Zusammenhang mit den Proben zu den Kindermusiktagen kennen gelernt hat, da diese zuvor die Schule noch nie betreten hatten. Vielen Kunstschaffenden ist diese gesellschaftliche Schere vielleicht gar nicht richtig klar, und ich denke, dass wir alle nur davon profitieren können, mal über den „Tellerrand“ zu schauen.
Wenn Du Dich eigentlich als Komponist ansiehst, dann versetze Dich bitte in die Lage, eine Kinderoper mit den folgenden Vorgaben zu komponieren:
Grundschüler im Klassenverband ohne musikalische Vorbildung sollen Kinderchöre einstudieren zusammen mit ihren Klassenlehrern, die typischerweise keine Musiklehrer sind (die gibt es in den Grundschulen nämlich kaum noch) und keine Noten lesen oder Klavier spielen können. Die Musik soll kurzweilig und mitreißend sein, aber nicht den Pop-Hörgewohnheiten der Kinder entsprechen, sondern für Oper und das Musiktheater begeistern. Der Schwierigkeitsgrad der Gesangspartien soll von Studenten zu meistern sein (möglicherweise eine interessante Erfahrung für die Studenten und von der inhaltlichen Ausrichtung der Kindermusiktage her sinnvoll sowie vom Budget her nicht anders möglich). Ein festes Ensemble, ein professionelles Streichquartett ist das künstlerische Zentrum und zieht den musikalischen roten Faden durch die Oper, während Klavier und Perkussion Klangfarben beisteuern.
Und jetzt, der Knackpunkt: Es gibt nur zwei Proben für die Schulklassen vor der Aufführung zusammen mit den Profis, alles muss so gestrickt sein, dass die Kinder es vorher erarbeiten können. Dass die Grundschüler während der Proben und Aufführungen weniger auf den Dirigenten achten, sondern zu ihrer Lehrerin gucken werden, ist eine zusätzliche Schwierigkeit. Ach ja, und zwei Schülerkompositionen müssen auch noch irgendwie in die Kinderoper eingepasst werden …
Es ist von Deiner Seite ein völliges Missverständnis, dass so eine Komposition anspruchslos ist. Kinder sind besonders anspruchsvoll, und wir bekommen seit Jahren sofort von ihnen gespiegelt, wenn auch nur für einen Moment die Spannung nachlässt.
Ca. 100 mitwirkende Kinder haben zusammen mit ihren Lehrerinnen und Lehrern die Kinderoper begeistert mitgemacht und sicherlich lebenslange Erinnerungen gesammelt, und an die 1500 Schüler haben die Kinderoper erlebt und im Publikum begeistert beklatscht. Darum ist es uns Organisatoren gegangen. Nicht Publikum zu züchten, sondern Kinder (nicht nur aus ausgesuchten Elternhäusern) aktiv an Kultur teilhaben zu lassen. Ihnen vielleicht einen spaltbreit die Türe zu diesem ganzen Universum der Musik zu öffnen, welches sie vielleicht gar nicht kennen gelernt hätten.
Und auch das: „Die Kinder wachsen an der Zusammenarbeit mit den Musikern und dem Regisseur“ O-Ton einer Grundschullehrerin.
Aber abgesehen von diesem zentralen Anliegen, hat es für mich überhaupt keinen faden Beigeschmack, etwas dafür zu tun, dass sich möglichst viele Menschen für Oper interessieren, denn Oper ist doch kein reiner Selbstzweck, sie hat etwas zu sagen und muss dafür Publikum erreichen. Und bezahlt werden muss sie auch, und da das Geld hierfür durchaus schwer verdient wird, muss sie auch immer wieder beweisen, dass sie wichtig ist. Für den einen z.B. an den eigentlichen Sinn des Lebens rührt, oder für den anderen einfach eine Quelle der Lebensfreude ist.
Natürlich hättest Du, da Du den Klavierauszug ja im Vorfeld vorliegen hattest, nicht mitmachen müssen, wenn Dir die Musik nicht gefällt, wobei ich allerdings fürchte, dass man gerade im künstlerischen Bereich doch das ein oder andere Zugeständnis machen muss, und tatsächlich macht auch mir in meinem (nicht künstlerischen) geliebten eigentlichen „Brotberuf“ nicht alles Spaß.
Wobei für mich allerdings der „Funke“, also der Grund, warum wir Organisatoren ehrenamtlich uns die ganze Arbeit antun, doch immer von Euch Künstlern ausgeht: Dass wir das, was die Musik für jeden von uns ausmacht, an die nächste Generation weitergeben wollen.
Glücklicherweise habe ich, wenn ich Dich (Siehe unten Video-Dokumentation) beim Schlussapplaus zusammen mit Deinem Schüler-Schustergesellen auf der Bühne sehe, den Eindruck, dass es Dir ausgesprochen gut geht, und da es der Applaus nach der Uraufführung war, kann es nicht die Erleichterung gewesen sein, dass jetzt alles vorbei ist …
Hier der Link zu „Oper geht zur Schule“, einer kurzen Video-Dokumentation zur Entstehung der Kinderoper: http://kindermusiktage.org/qkmtv_op…
Ich fand jedenfalls, dass Ihr Studenten es toll gemacht habt, und wenn Du Dich eigentlich als Komponist definierst und gute Ideen für Musikvermittlungsprojekte hast, dann finde ich das einfach hervorragend, denn in diese Richtung kann es gar nicht genug Initiativen geben, und ich wünsche Dir sehr viel Erfolg!
Immerhin hat Dein Schreiben im Blog ausgelöst, dass ich zum ersten Mal in einen Blog schreibe, und vielleicht ergibt sich hierüber ja die Möglichkeit, sich mit anderen Interessierten über Musikvermittlung auszutauschen.
Wer sich für unsere „Nordhessischen Kindermusiktage mit dem Vogler Quartett“ interessiert, findet weitere Informationen sowie unser Handbuch unter www.kindermusiktage.org oder kann mich gerne ansprechen: admin@kindermusiktage.org
Eine Zusammenstellung von Effekten, die sich im Laufe unserer Kindermusiktage eingestellt haben, finden Sie in der Folge:
- 2011 wurden im März wurden die „Nordhessischen Kindermusiktage mit dem Vogler Quartett“ schon zum siebten mal veranstaltet.
- Durch die jährliche Ausrichtung sind viele nachhaltige Effekte entstanden: Streicherklasse und Musik AG in Schulen, Seminarveranstaltung zu den Kindermusiktagen in der Lehrerausbildung an der Universität Kassel sowie Vorstellung des Konzepts beim Kongress der Europäischen Kammermusiklehrer Vereinigung im November 2009 in Mannheim.
- Das Vogler Quartett hat als Lehrstuhlinhaber „Kammermusik“ an der Musikhochschule Stuttgart ein Modul „Musikvermittlung“ mit in die Ausbildung von Ensembles aufgenommen.
- Der für den Transfer der „Nordhessischen Kindermusiktage mit dem Vogler Quartett“ gegründete Verein QuArt@Kindermusiktage e.V. hat mit Hilfe von Christian Hanf, Institut für Musik der Universität Kassel, ein Handbuch „Kindermusiktage“ erstellt und auf www.kindermusiktage.org online gestellt. Das Echo hierauf ist sehr positiv.
- „Nachahmer“ von Kindermusiktagen bei München und in Berlin zeigen, dass unser Konzept funktioniert und gut an die jeweiligen Gegebenheiten angepasst werden kann.
- Regional und bundesweit ausgeschriebene Preise, darunter 2009 „Kinder zum Olymp!“ der Kulturstiftung der Länder in Berlin, 2008 Preis Verband Deutscher Schulmusiker in Stuttgart sowie in Kassel der Kulturförderpreis der Stadt Kassel und der Jubiläumspreis der Kasseler Sparkasse „Jugend profitiert“, sind ein weiterer Beleg dafür, wie erfolgreich unser Musikvermittlungskonzept ist.
Und des weiteren möchte ich noch auf das Musikvermittlungsprojekt classic-clip www.classic-clip.de für Jugendliche hinweisen, das noch in den Kinderschuhen steckt, für das wir aber auch Kontakt zu anderen Interessierten suchen.
Dr. Tamara Lehmann
Projektleitung „Nordhessische Kindermusiktage mit dem Vogler Quartett“
für den konzertverein kassel e.V., Am Gutshof 9. 34270 Schauenburg