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Bejun Mehta (Orfeo), Anna Prohaska (Euridice) und Nadine Sierra (Amor). Foto: Matthias Baus
Bejun Mehta (Orfeo), Anna Prohaska (Euridice) und Nadine Sierra (Amor). Foto: Matthias Baus
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Glucks „Orfeo ed Euridice“ an der Berliner Staatsoper

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Während Daniel Barenboim im halbhoch gefahrenen Orchestergraben mit Christoph Willibald Glucks Fest-Ouvertüre zur Azione teatrale per musica „Orfeo ed Euridice“ die Festtage 2016 an der Staatsoper eröffnet, fährt Orfeo bereits seine tote Frau im weißen Ballkleid auf einer Bahre vorbei. Das sieht der Zuschauer durch einen Sichtschlitz vor brennendem Trauerholzstoß. Nachdem sich der Vorhang mit der Aufschrift „Das hoffnungslos offene Tor“ gehoben hat, zieht Orfeo der Gattin das weiße Ballkleid aus.

Einheitlich trägt die schwarze Trauergesellschaft (Kostüme: Florence von Gerkan) weiße Blumen. Obgleich der Trauerchor Euridices Urne besingt, wurde diese in einem ausgehobenen Grab von Sargformat bestattet. Da hinein werden Blumen geworfen, eine Frau bekreuzigt sich. Und Orfeo, selbst im Grab stehend, verstreut Asche aus seinem Geigenkasten; offenbar hat er seine Violine verbrannt – mit dem Vorteil, dass er sich bei den Passagen der im nächsten Akt folgenden Klänge seiner Leier optisch nicht selbst begleiten muss. Denn als unser Zeitgenosse macht man so etwas nicht. Dafür versucht er, sich an einem der herabhängenden Mikrofonkabel zu erhängen.

Als der Chor der trauernden Freunde des Orfeo die Szene verlassen hat, bleiben nur zwei Trauergäste auf den Bänken sitzen – ein junger Mann, der sich bald als Amore herausstellt und so stimmlich in den Stöckelschuhen der Verstorbenen die androgyn weibliche Komponente der Hosenrolle hervorkehrt, daneben ein stummer Herr (Hades?) als Drahtzieher der Auflage, welche Orfeo verbietet, sich bei der Rückholung Euridices nach ihr umzusehen.

Nach ihrem Tod geistert Euridice in dieser Inszenierung häufiger durch die Szene. So löst sie etwa dem blutüberströmten Orfeo die Lederbänder, mit denen ihn drei groteske Vertreter der Unterwelt an die Bahre gefesselt hatten, wonach mit Messern auf Orfeo eingestochen wurde. Verschobene gläserne Mauern und Plexiglas-Polizeischilder des Chores in schwarzen Ku-klux-klan-Gewändern signalisieren die Hermetik der Unterwelt, aber dann lüften die Hades-Bewohner, von Orfeo kraft seines künstlerischen Willens besänftigt, ihre Spitzmützen. Die Szenerie weitet sich zu einer bunten, chaotischen Spielzeugwelt (Bühnenbild: „in Kooperation mit Gehry Partners, LLP“). Hier ist der Reigen seliger Geister ein bewegungsmäßig witzig aufgepeppter Tanz einer Brautpaar-Reihe (Choreographie: Gail Skrela). Euridice wirft dazu per Übertragung Küsse (Video: Robert Pflanz).

Der dritte Akt zeigt die Liebenden nicht auf einem Weg durch Felsen, sondern der heutige Ehekonflikt findet in den Mauern eines B-Hotel-Zimmers statt. Da wirft Euridice, da Orfeo sie partout nicht ansehen will, die Kopfkissen gegen eine nur gemalte Schlafzimmerlampe. Orfeo schaltet frustriert den Fernsehapparat ein und zieht sich eine Flasche rein. Danach versiegt das gegenteilige Bemühen des Paares. Er wirft sich aufs Bett, sie baut sich am Portalrand ein Notlager. Diesen gesamten Konflikt verfolgen Amore und sein Begleiter. Der junge Liebesgott raucht dazwischen mal eine, dient den Beiden aber auch immer wieder als direkter Ansprechpartner. Schließlich nimmt Orfeo auf dem Bett seine Euridice doch in die Arme – und prompt stirbt sie wieder. Da greift er zur Pistole, aber Amore verhindert den Suizid.

Den finalen Chor singen weiße, verschleierte Bräute mit ihren Bräutigamen in kreisendem Schreittanz. Dann aber besinnt sich der Hausherr der Staatsoper, Jürgen Flimm als sein eigener Regisseur, dass das Happyend von Gluck und seinem Librettisten Ranieri Simone Francesca Maria de’ Calzabigi im Jahre 1762 doch nur ein Zugeständnis an das Namenstagsfest des Kaisers war und dem Mythos gründlich zuwiderläuft. Daher fügen Barenboim und Flimm – aus der Pariser Fassung dieser Oper die elysäische Musik mit Flötensolo an: dazu erfolgt der erneute Abschied Euridices, und Orfeo verstreut wiederum die Asche aus seinem Violinkasten.

Neben der durchdachten und gut umgesetzten Lesart des szenischen Altmeisters Flimm wird die pausenlose, knapp 90-minütige Aufführung getragen von einer exzellent spielenden Staatskapelle, dem diesmal klanglich gar nicht so sehr ins Gewicht fallenden Chor (einstudiert von Martin Wright), insbesondere aber von drei exquisiten Solisten.

Die ursprünglich für einen Kastraten, erst für die Wiener Fassung für einen Tenor gesetzte Titelpartie gestaltet Bejun Mehta in der Altlage hinreißend, mit enormen Differenzierungen und mit schwebenden Piani. In der Reformoper, zumindest in Glucks Wiener Fassung, ungewöhnlich und eigentlich den Bestrebungen des Komponisten zuwiderlaufend, gestattet er sich, Koloraturen einzubauen. Die Darstellerin des Amore versucht es ihm diesbezüglich gleich zu tun: Nadine Sierra erscheint stimmlich und im Spiel als eine kraftvolle, junge Idealbesetzung. Anna Prohaskas Euridice-Partie ist szenisch aufgewertet; stimmlich rundet sie den Abend zu einem großen sängerischen Erlebnis. Barenboim leitet die Staatskapelle mit langem Dirigentenstab, weist so auch optisch den Weg von Gluck zu Wagner und Berg.

Erfreulich, dass die Nummern szenisch so gut und spannend mit einander verzahnt sind, dass kein Szenenapplaus, nicht einmal nach der sattsam bekannten Trauerarie des Orfeo im dritten Akt, den pausenlosen Ablauf des frühen Musikdramas unterbricht. Dafür um so mehr Applaus mit begeisterten Bravorufen am Ende.

  • Weitere Aufführungen: 27. März, 22., 24. Juni, 1., 3. Juli 2016.

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