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Jaroslav Brezina als Brouček in Brno. Foto: Jana Hallová, NDB
Jaroslav Brezina als Brouček in Brno. Foto: Jana Hallová, NDB
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Im freien Lauf der Fantasie: Das Janáček Festival in Brno beginnt traumhaft

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Das eine ist ein absurder Traum aus Angst, das andere ein Traum aus redseligem Übermut im blauen Bierdunst einer Winternacht im schiefen Wirtshaus auf dem Berg der Prager Burg. Den Angstraum als Oper von Janáček nach einer Komödie von Karel Capek präsentierte ein Gastspiel aus Moskau im alten Mahen-Theater von Brno, dem ehemals deutschen Theater in bürgerlich-plüschiger Neorenaissance. Das Ensemble der international bekannten und geschätzten Helikon-Oper wagte es erstmals „Die Sache Makropulos“, 1926 in Brünn uraufgeführt, nach Russland zu bringen. Da passt es natürlich ausgesprochen gut ins Programm des Festivals in Janáčeks Stadt, dieses Experiment zu präsentieren.

Helikon Chefregisseur Dmitrij Bertman wagt für seine Sicht auf die Geschichte der über 300-jährigen Sängerin Emilia Marty, alias Elina Makropulos, als Opfer eines medizinischen Experimentes, einen clownesken Totentanz tragikomischer Gestalten. Er dreht sich in der gespenstischen Kulisse eines alten Logentheaters aus den Papieren unzähliger Dokumente von denen eines das Rezept der Lebenstinktur enthält, die nach all den Jahren für die eiskalte Diva dringend vonnöten wäre. Natalia Zagorinskaja wird für ihre Leistung als Emilia Marty mit viel Beifall bedacht. Sie zeigt am stärksten im Ensemble der Gäste aus Moskau jenes nötige Maß musikalischer und darstellerischer Facetten, und vermag es als kühler Vamp, als unnahbare Künstlerin oder als aufgetakelte Kantinenfurie im Renaissancekostüm und letztlich verlöschend in den Kulissen aus Papier, die existenziellen Ambivalenzen des Stückes zu vermitteln.

Am Ende quillt aus dem brüchigen Dekor des ächzenden Theaters eine dicke Träne aus feurig glühendem Blut und kleine Flämmchen zündeln gierig und gefräßig im Papier, das keiner mehr braucht. Das Orchester der Helikon Oper unter der Leitung von Vladimir Ponkin brauchte einige Zeit um untereinander zusammenzufinden und auch zu Janáček, dann überraschte es aber mit resolutem Zugriff, vor allem bei den grellen Passagen der Partitur.

Am nächsten Abend, wenige Meter weiter, im großen Janáček-Theater aus sozialistischer Zeit, das gleiche Sicht für alle bietet, ungewöhnlich großzügige Beinfreiheit und bequeme Sitze, in denen man fast zu tief versinkt, macht erst einmal das Orchester des Janáček-Theaters unter der Leitung von Jaroslav Kyzlink seinem Namen Ehre. Da sitzt man sofort aufrecht in den Polstern, wenn die Eröffnungsfanfare der beliebten „Sinfonietta“ ertönt und man lehnt sich nicht entspannt zurück, wenn das ganze Orchester dazu kommt, die Streicher warm und elastisch den melodisch-tänzerischen Passagen der folgenden Sätze Formen geben bis zum grandiosen Finale, wenn sich die seltsam, gebrochenen Figuren der elf Blechbläser auf der Bühne mit denen des Gesamtklanges mischen.

Im originalen Bühnenbild gibt es zum dritten Satz einen Teil der wunderbaren Heimweh-Choreografie von Jirí Kylián, die er 1978 für das Nederlands Dans Theater schuf. Zu den anderen Sätzen haben die Videokünstler Tom Rychetský und Pavel Hejný tänzerische Bildsequenzen mit den Dekka Dancers geschaffen, in denen die Kunstwelten des Tanzes öffentliche Räume der Stadt, das Theater oder Landschaften und letztlich eine wolkennahe Himmelsstürmerfantasie durchziehen. Am Ende ein streitbares Ereignis auf hohem Niveau.

Dass es in Janáček Stadt selbst noch gilt Entdeckungen zu machen zeigte dann die Premiere der in Tschechien seltener gespielten, in Deutschland so gut wie unbekannten Oper „Ausflüge des Herrn Brouček“. Welch wunderbar purzelnde Traumhandlung um einen meckernden Spießer, dessen vom Bierdunst geschwängerte Träume ihn auf den Mond, in die Zeit der Hussitenkriege und wieder zurück ins Wirtshaus zu den Krügen und den geliebten Prager Würsten führen. Die Engländerin Pamela Howard hat dieses Werk ganz aus der Traumperspektive und den Assoziationen der Klänge inszeniert. In ihrer Ausstattung muss man das Wirtshaus nur drehen und schon gibt es den Raum im Kunstdesign der 20er-Jahre für die Szenen auf dem Mond und im Prag der Hussitenkämpfe. Fantasie kennt keine Grenzen, die der Träume schon gar nicht.

So ist der Pegasus für Broučeks Reisen ein blaues Tandem, in einem tonlosen Orchester mit absurdem Instrumentarium dienen übergroße Sicherheitsnadeln als Geigenbogen und eine Armee, die auf der Stelle tritt, trägt klappernde alte Schreibmaschinen als Waffen. Jaroslav Brezina singt und spielt den Brouček mit dunkel getönter Tenorstimme, gewitztem Unterton und letztlich in allen Traum- und Lebenslagen mit Gelassenheit.

Eine besonders erfreuliche Leistung präsentiert der jugendlich-lyrische Tenor Ondrej Saling als Maler Mazal, dazu an seiner Seite die vom Brouček verehrte junge Málinka, wie sie von Adriana Kohútková mit frischem Spiel und ebensolchem Gesang dargestellt wird. Dazu ein großes Ensemble mit Chor und Statisten und vor allem wieder das Orchesters des Janacek Theaters, gerade in den zarten, verschwimmenden Passagen der traumhaften Übergänge, mit Klängen, bei denen man die Augen schließen möchte. Es wäre sträflich, denn hier gehen Bild und Klang immer wieder Allianzen ein in dieser menschlichen Komödie, die uns lachen lässt, bei der aber keiner ausgelacht wird. Das ist ein Traum.

Der diesjährige Festivaltraum in Brno, bei dem Janáček im Licht des Expressionismus zu erleben ist, währt noch bis zum 28. November. In zwei Jahren, zur gleichen Zeit, findet das nächste Festival statt.

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