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Kamel Daoud, Reinbert de Leeuw, Johan Simons, Aernout Mik: Die Fremden / Ruhrtriennale 2016 Foto: JU/Ruhrtriennale 2016 vlnr.: Elsie de Brauw, Sandra Hüller, Risto Kübar, Benny Claessens, Pierre Bokma
Kamel Daoud, Reinbert de Leeuw, Johan Simons, Aernout Mik: Die Fremden / Ruhrtriennale 2016 Foto: JU/Ruhrtriennale 2016 vlnr.: Elsie de Brauw, Sandra Hüller, Risto Kübar, Benny Claessens, Pierre Bokma
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Im Staub der Behauptung – Die Ruhrtriennale mit Johan Simons „Die Fremden“

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Nach dem Gründer Gerard Mortier und seinen Nachfolgern Jürgen Flimm, Willy Decker und Heiner Goebbels ist der holländische Theatermacher Johan Simons der fünfte Dreijahresintendant, der das Ruhrgebiet ein paar Wochen mit ambitionierten Kunstprojekten abseits des normalen Repertoirebetriebes auf seine spezifische Weise als Kulturregion leuchten lässt. Diesmal machen sie’s nicht unter einem Klassiker-Gesamt-Motto im Großformat: „Seid umschlungen Millionen“.

Auch die Überschrift für Simons’ mittleren Triennalejahrgang  „Liberté? Egalité? Fraternité?“ hat es in sich. Hinter dem 70jährigen liegt die Intendanz der Münchner Kammerspiele, vor ihm die des legendären Schauspiels in Bochum – eine ziemlich erstaunliche, deutsche Karriere. Mit ausgeprägt sicht- und hörbarer flämischer Einfärbung. Was man vor allem bei seiner Schauspieltruppe je nach dem für weltläufig oder einseitig halten kann. 

Für sein neues Stück zwischen den Genres „Die Fremden“ (auf dem Programmheft steht in arabischen Schriftzeichen „Brüder“) hat er die imponierende Kohlenmischhalle der Zeche Auguste Victoria in Marl, die erst im vorigen Jahr außer Betrieb genommen wurde, den illustren Spielstätten der Ruhrtriennale hinzugefügt, die vor allem mit dem Charisma der Erinnerung an ihre einstige Größe und Bedeutung spielen. Die 245 Meter lange Halle selbst liefert denn auch die packendsten Momente dieser mit ziemlichem Tamtam und einer Premierenteilnahme des deutschen Bundespräsidenten aufgewerteten Inszenierung.

Genau in der Mitte des Abends gibt es das einzige gesungene Solo von Katrien Bearts. Vor ihr sitzt das Asko/Schönberg Orchester unter Leitung von Reinbert de Leeuw und spielt Claude Viviers (1948-1983) „Bouchara“ (1981). Das Orchester mit Inbrunst und die Sopranistin in einer erfundenen Phantasiesprache. Dabei beginnt sich zunächst unmerklich die riesige Kohlenmischmaschine, die bis dahin den Raum begrenzte, in die Tiefe der Halle zu bewegen und den Raum noch mehr zu weiten. Ein grandios ausgeleuchteter, atemberaubend autonomer Theatereffekt! Mit den Musikern als dämmrig beleuchteter Insel in einem funkelnden (Kohlen-)Staubmeer von beklemmender Leere. 

Hier hat Bühnenbildner Luc Goedertier zum Glück für den Abend einfach bei dem, was er in Marl vorfand, zugegriffen. Auch die Musik davor und danach passte in diesen Raum und zu den Videos. 

Im ersten Teil des gut neunzigminütigen Abends erklangen „Osten“ (1988-1989) und „Nordwesten“ (1991) aus Mauricio Kagels (1931-2008) „Die Stücke der Windrose für Salonorchester“ und danach György Ligetis (1923-2006) Kammerkonzert (1969-1970) und die Soundscapes von Wouter Snoei. Diese in einigen Passagen überraschend unterhaltend illustrative Musik entfaltet zusammen mit den eingespielten Videos von Aernout Mik einen Assoziationsraum, der zum Nachdenken über das Fremde, respektive die Fremden herausfordert. Zuerst mit dokumentarischen Bildern aus der Zeit der Loslösung Algeriens aus der Bevormundung der französischen Kolonialherren. Und dann mit den vor Ort nachgestellten Szenen aus einer Flüchtlings-Massenunterkunft von heute, die dem Motto folgen: stellt euch vor, Ihr selbst wärt im Aufnahmelager und würdet von Beamtinnen mit Kopftuch so behandelt, wie es dort üblich ist. Die Botschaft dieses aufwändig gemachten Films ist klar, wird aber dann doch überdeutlich ausgestellt.

Das Problem des Abends ist die eigentliche Geschichte, die die bunte Simons-Truppe von der famosen Sandra Hüller über Elsie de Brauw, Benny Claessens und Risto Kübar bis Pierre Bokma zu erzählen versuchen. Wenn sie nicht vom Kampf mit dem Kohlendreck, der unendlichen Weite der Halle und der deutschen Sprache davon abgehalten werden. Man kriegt zwar in etwa mit, worum es in dem von Vasco Boenisch und Tobias Staab für die Bühne bearbeiteten, 2014 erschienen Roman „Der Fall Meursault – eine Gegendarstellung“ von Kamel Daoud geht. Der von Fundamentalisten bedrängte algerischen Autor bezieht sich auf Albert Camus Klassiker „Der Fremde“ aus dem Jahre 1942. Dem dort ermordeten, namenlosen Araber gibt er von heute aus den Namen Moussa, ein Gesicht, eine Geschichte und eine Familie. Sein Bruder Haroun spricht in Marl mit gleich fünf verschiedenen Stimmen. Aber so sehr sich diese Harouns, die Mutter oder die junge Meriem auch mühen, sie finden keine Form für die Sprache und damit die Geschichte, der sie im Kohlendreck und mit den Exkursen über Gott und die Welt dann doch nur hinterherrennen. Die verbalen Kraftakte (oder die ausgestellte Manieriertheit die Benny Claessens ins Extrem treibt) bleiben theatrale Behauptungen, die nicht ankommen gegen den Raum und die Musik. Der semiprofessionelle Aufsagecharme verfliegt so schnell, wie sich der aufgewirbelte Staub wieder legt und zieht den nicht mal überlangen Abend künstlich in die Länge.

  • „Die Fremden“, Weitere Vorstellungen bei der Ruhrtriennale, in der Zeche Auguste Victoria 3/7 in Marl, am 3., 4., 8., 9. und 10.9., www.ruhrtriennale.de

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