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Dirigent Michael Harneit. Foto: Michael Hudler
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Entfaltung raumfüllender Subtilität und meditativer Konzentration: Luigi Nonos „Prometeo“ in Darmstadt

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„Höre, schwingt hier nicht noch ein Hauch in der Luft, / die die Vergangenheit atmete?“ Wer nach mythischen Orten sucht, kann überall fündig werden, warum nicht auch in einer Halle, die dem Mannschafts-Ballsport gewidmet ist wie die Böllenfalltor-Halle in Darmstadt, die übrigens nur wenige Meter entfernt von dem etwas niedergewohnten Stadion liegt, in dem die so genannten Darmstädter Lilien bald Erstliga-Fußball spielen werden.

Die Halle wurde schon mehrfach für spezielle musikalische Ereignisse genutzt, im Rahmen der Ferienkurse oder auch beim „Cresc...“-Festival. Jetzt hat das Staatstheater Darmstadt hier Luigi Nonos „Prometeo“ aufgeführt und gezeigt, dass diese Musik keinen speziellen Raum braucht. Vielmehr wird der Raum im Laufe der Aufführung zu einer Qualität der Musik selbst.

Es geht darum, in möglichst jedem Hörer den Raum für Nonos Arbeit am Mythos entstehen zu lassen. Dazu wendet das Staatstheater einen kleinen Inszenierung-Trick an: Das Publikum wird mit Augenmasken ausgestattet und quasi blind in Vierergruppen zu den Sitzen geleitet, wo die Augenmasken erst nach dem Prolog abgenommen werden sollen. Das funktioniert natürlich nicht lückenlos, lenkt aber die Aufmerksamkeit wirksam von der profanen Umgebung auf eine andere Ebene der Wahrnehmung. Wer sich auf die temporäre Blindheit einlässt, spürt nach kurzer Zeit, dass in der Konzentration auf das Hörbare ein Raumeindruck entsteht, der durchaus beunruhigende Anteile hat.

Nonos „Tragedia dell’ascolto“ reflektiert den Mythos des Prometheus, eine überaus ambivalente Leitfigur menschlicher Selbst-Befreiung und Aufklärung. Nono thematisiert darüber hinaus das Hören selbst, das für unsere Weltwahrnehmung gegenüber dem Sehen weit ins Hintertreffen geraten ist. Das hat Folgen, denn wir können die Ohren nicht schließen wie die Augen, und was wir hören, wird in viel geringerem Maße einer Reflexion und Überprüfung unterzogen als Gesehenes.  

„Prometeo“ ist ein Hochamt der Musik des 20. Jahrhunderts und in den gut drei Jahrzehnten seit seiner Uraufführung selbst zu einem Mythos des Konzertbetriebs geworden. Aufführungen hat es bisher stets nur im Rahmen von Festivals gegeben, und in der Regel waren sie rare, umraunte Großereignisse. Das Staatstheater Darmstadt ist die erste öffentlich-rechtliche Bühne, die das Werk in den Spielplan aufgenommen hat und seinem angestammten Publikum anbietet.

Nono negiert das konventionelle Einander-Gegenüber-Sitzen der Konzert-Situation, indem er das Publikum mit mehreren Klang-Gruppen – Chören, Instrumentalgruppen und Lautsprechern – umgibt. Die Musik ist hoch-komplex, steckt voller Mikrotonalität, Fermaten und komplizierter elektronischer Effekte, aber ihre grundsätzliche Absicht ist es, weniger gespielt zu werden als vielmehr zu geschehen. Das gelingt in Darmstadt über weite Strecken ausgezeichnet. Zwischendurch wird in kleinen Pausen das Publikum zu einem choreografierten Wechsel des Sitzplatzes gebeten.

Der technische Aufwand für Färbung, Verteilung und Bewegung des akustischen Geschehens ist erheblich. Für die Klangregie hat das Staatstheater Darmstadt auf das Know-how des Experimentalstudios des SWR zurückgreifen können, das  gewissermaßen zu den Nachlassverwaltern von Nonos Musik gehört. Reinhold Braig, Michael Acker und Joachim Haas sorgen für feinsinnig gestaltete Bewegungs- und Hall-Effekte. Unter der musikalischen Leitung von Johannes Harneit sind als Co-Dirigenten Joachim Enders und Thomas Eitler-de-Lin beteiligt sowie eine überaus kompetente Reihe von Gesangssolistinnen und –solisten, Instrumentalsolisten sowie das komplette Staatsorchester Darmstadt, Opernchor und Statisterie. Trotz des Aufwandes betreibt die Einrichtung, die Intendant Karsten Wiegand dem Werk angedeihen lässt, keine Überwältigungs-Ästhetik. Alles dient hier der Entfaltung raumfüllender Subtilität und meditativer Konzentration. So schafft die Musik gegen jede Sporthallen-Banalität ihren eigenen Raum, ähnlich wie eine archaische Höhlenmalerei ihre Höhle in einem bestimmten Sinne auch erst erschafft.

Das Anliegen des „Prometeo“ ist nicht die Verständlichkeit der diskursiven Ebene. Wer wissen will, wie Luigi Nono und Librettist Massimo Cacciari die Geschichte der Menschheit als Tragödie im Sinne einer Dialektik von Mythos und Aufklärung, Befreiung und Gewalt entwerfen, kann sich zu einer längeren Lektüre-Strecke einladen lassen. Das Programmheft enthält hierfür Hinweise. In den Böllenfalltor-Hallen wird es im Laufe des Abends langsam dunkler. Keine theatralen Schweinwerferbatterien werden gegen diesen Naturvorgang in Stellung gebracht. Wer will, kann das als einen transzendenten Kommentar zur Situation der Aufklärung am Beginn des 21. Jahrhunderts lesen. Andererseits wäre es vielleicht gut gewesen, im Gegenzug eine „Prometeo“-Aufführung morgens um drei Uhr anzusetzen und in den beginnenden Tag hinein ragen zu lassen. Vielleicht gelänge es Nonos Komposition auch, ihre eigene Zeit zu schaffen.

  • Weitere Aufführungen am 17. und 19. Juli 2015.

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