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Regisseur Anselm Dalferth fokussiert sich auf Bea Antons Harfenspiel. Foto: Andreas Etter
Regisseur Anselm Dalferth fokussiert sich auf Bea Antons Harfenspiel. Foto: Andreas Etter
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Mit Ohrstöpsel und Schlafbrille auf dem Staatstheater-Dach

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„Nichts klingt, wie es klingt. (...) Denn unser Auge hört mit.“ So lautet die Kernidee der „Hörtheater“-Reihe am Staatstheater Mainz. Im dritten Programm der Serie lädt Regisseur Anselm Dalferth nun ein zu einem „Abend über Hörwahrnehmung und das Zusammenspiel der Sinne mit wissenschaftlichen und musikalischen Beiträgen und Versuchen zur akustischen Raumwahrnehmung.“

Der beginnt mit dem ungewöhnlichen Aufstieg über ein kaum genutztes Treppenhaus direkt auf die Dachterasse des Staatstheaters – und von dort weiter in die 2001 eröffnete Glaskuppel, die seit der letzten Spielzeit vor allem als Probebühne der Tanzkompanie genutzt wird. Das Produktionsteam begrüßt jeden einzelnen Zuschauer persönlich im sogenannten „Glashaus“ und überreicht ihm eine Papiertüte. Darin befinden sich außer dem Programmzettel zwei Ohrstöpsel und eine Schlafbrille, die auch gleich genutzt werden. Das Publikum soll einmal mit verschlossenen Ohren, dann mit geschlossenen Augen verfolgen, wie die Harfenistin Bea Anton aus dem Philharmonischen Staatsorchester ein Adagio von Carl Philipp Emanuel Bach spielt. Neu ist die Erfahrung nicht, einmal fast gar nichts und dann besonders intensiv zu hören, aber sie legt die Basis für aufschlussreichere Experimente.

Wie wirkt es, wenn Bea Anton und der Countertenor Alin Deleanu ein Lied in verschiedenen Konstellationen musizieren? „Hör ich das Liedchen klingen“ aus Robert Schumanns „Dichterliebe“ klingt tatsächlich anders, wenn die beiden dem Publikum den Rücken zudrehen, oder wenn die Harfenistin im Hintergrund auf einem unsichtbaren zweiten Instrument spielt, oder wenn sich Anselm Dalferth demonstrativ unkonzentriert dazwischensetzt und aus seiner Thermosflasche trinkt. Dabei sind die einzelnen Wahrnehmungen durchaus unterschiedlich – was natürlich auch für John Cages berühmtes Schweigestück „4'33“ gilt. Mit einem Partner, dem Arzt und Psychotoniker Paul Schmincke, demonstriert der Regisseur den McGurk-Effekt: Dalferth kauert sich hinter Schmincke und spricht wieder und wieder die Silben „ba-ba, ba-ba“, während dieser stumm verschiedene Konsonanten vor dem „a“ artikuliert. Und so hört manch einer lippenlesend plötzlich „wa-wa“ oder „fa-fa“, obwohl sich die klingende Silbe nicht geändert hat. Leider verrät Schmincke in seinem für Laien wenig anschaulichen Kurzvortrag zu Hör- und Sehsinn nichts über diesen spannenden Grenzbereich, in dem das Sehen die Hörwahrnehmung zu dominieren beginnt.

Neben diesen tatsächlich zum universitären „Hörsaal“ tendierenden Phasen enthält das Programm aber auch Workshop-Elemente. Gerhard Stäblers „Gehörsmassage für tätiges Publikum“ beinhaltet die Aufforderungen, ein oder beide Ohren ganz oder halb zu verschließen und durch wedelnde Handbewegungen oder schnelles Drücken und Loslassen des Tragus (des „Ohrdeckels“) einen „Triller“ zu erzeugen. Später lädt Dalferth das Publikum ein, sich auf der Spielfläche zu verteilen und stehend mit den Handflächen als „Empfänger“ zu signalisieren, aus welcher Richtung ein gesungener Ton kommt. Anspruchsvoller wird die Aufgabe, als es darum geht, zunächst zwei unterschiedliche Töne und diese dann noch innerhalb eines vierstimmigen Akkordes zu verfolgen.

Alle vier Akteure wirken endlich auch singend mit, als die Hörer sich dem jeweils lautesten Ton und dessen Erzeuger zugruppieren sollen – eine Übung, die Gehör, Sicht und Raumwahrnehmung sinnvoll verbindet.

Mit John Cages freundlich-meditativem Harfenstück „In a Landscape“ klingt der Abend aus: Hier darf sich das Publikum die Hörposition aussuchen, und sie reicht vom interessierten Blick in die Noten oder auf die Finger der Harfenistin bis zur nachdenklichen Schau über das nächtliche Stadtpanorama zwischen Dom und St. Stefan. Wie angenehm wäre es, denkt man da, wenn man in Konzerten häufiger diese Wahl hätte. Wie spannend könnte es sein, ein und dieselbe Musiktheater-Szene in verschiedenen Inszenierungsvarianten zu erleben!

Und auch wenn, wer im Glashaus sitzt, nicht mit Steinen werfen soll: Wie nötig wäre es für manchen Regisseur, sich einem derartigen Hörtraining auszusetzen. Oder sollte das Staatstheater künftig häufiger Schlafbrillen verteilen? Für die Mainzer „Hörtheater“-Reihe eröffnet sich ein weites Feld.

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