Hauptbild
Die King's Singers. Foto: Stefan Klingele
Die King's Singers. Foto: Stefan Klingele
Hauptrubrik
Banner Full-Size

Nicht nur im 20. Jahrhundert: „Goldene 20er“ als kreatives Jahrzehnt? Dresdner Musikfestspiele mit kühner These

Publikationsdatum
Body

Jedes Kind muss einen Namen haben. Und jedes Festival ein Thema? Dass nicht jede Angela ein Engel sein kann, ist bekannt. Festspiele jedoch sollten das bieten, wofür ihre Themen stehen. Oder? Die Dresdner Musikfestspiele blicken dennoch auf einen gelungen Jahrgang zurück.

Als die Dresdner Musikfestspiele 1978 erstmals antraten, offiziell gegründet auf Geheiß der DDR-Regierung, da widmeten sie sich thematisch Genrefragen. Mit „Kammeroper“, „Oper des 20. Jahrhunderts“ und „Tanztheater heute“ waren die ersten Jahrgänge überschrieben. Später standen Komponisten wie Weber, Verdi und Wagner im Mittelpunkt, in den 90er Jahren kamen mystisch verklärende Begriffe wie „Apokalypse“, „Aufklärung – Traum der Vernunft“ sowie „Aufbruch“ ins Spiel. Zuletzt wurde regional sortiert, nun reichen die Himmelsrichtungen und Kontinente nicht mehr aus, also unternahm man 2014 eine Zeitreise. „Goldene 20er“ assoziierte natürlich erst einmal die gar nicht so güldene Epoche der 1920er Jahre. Gemeint aber war mit diesem Motto der Anspruch, dass just die 20er Jahre auch in früheren Jahrhunderten eine besonders kreative Phase gewesen seien.

Für die Zwischenkriegszeit des vorigen Jahrhunderts mag das plausibel klingen. Da wurde nicht nur der Begriff der „Goldenen 20er“ geprägt, da gab es auch Reibungspunkte ohne Ende, die den von wilhelminischem Ungeist zertretenen Aufbruch des 20. Jahrhunderts wieder aufleben und fortsetzen wollten. Was hätte das für eine Ära werden können, wären nicht Europa und die Welt gleich zweimal binnen kurzer Zeit von deutschen Stiefeln geschändet worden.

Bevor der braune Dummenfang alles als „undeutsch“ verbot und verfolgte, was eine „hart wie Kruppstahl“ gefräste Ideologie nicht verstand, lebte die Kunstszene tatsächlich in wohl nie dagewesener Form auf. Jazz und Swing, Chanson und Kabarett, die Verquickung von Genres sowie von damals noch nicht so benannten U- und E-Bereichen – all das war vielversprechend schillernd und sollte dann doch von Marschmusik und vermeintlich urdeutschem Gejohle übertönt werden.

„Goldene 20er“ von Brecht bis Dix

Mit Ute Lemper und einer Hommage auf Brecht/Weill sowie auf Edith Piaf und Marlene Dietrich wurde das Thema bestens bedient. Dass ihr Konzert vom Vogler Quartett mit Musik von Erwin Schulhoff eingeleitet worden ist und zudem mit bildender Kunst von Otto Dix und seinen kritischen Zeitgenossen bebildert wurde, schien den konsequenten Anspruch zu verdeutlichen. Aber schon die Ausflüge der Actrice zu Jacques Brel oder gar zu Astor Piazzolla lösten das gegebene Versprechen umgehend wieder in Beliebigkeit auf. Ganz zu schweigen von dem mit großen Erwartungen begleiteten und ausverkauften Auftritt der Sitar-Spielerin Anoushka Shankar in der Semperoper – ein netter und sehr lauter Mix aus indischer Folklore und westlichen Pop, hübsch anzusehen, aber frei von jedem Bezug zum selbstgegebenen Thema.

Wie sollte das erst mit den 20ern anderer Jahrhunderte gelingen? Gewiss, Beethovens „Missa solemnis“ entstand um 1820 und wurde vom Dresdner Festspielorchester unter Ivor Bolton auf historischem Instrumentarium aufgeführt. Ein Treffer auch Vivaldis „Vier Jahreszeiten“ aus dem Jahr 1725, die den jüngsten Festspielbesuchern in einem Kinderkonzert des La Folia Barockorchesters mit zielgruppengerechten Erläuterungen nahegebracht wurden. Fast alle anderen 20er bezogen sich aber wieder aufs 20. Jahrhundert, etwa die umjubelten King's Singers, die den Comedian Harmonists als erster Boygroup huldigten oder die gemeinsam mit der Staatsoperette Dresden erarbeiteten „Radiomusiken“ von Walter Gronostay und Edmund Nick.

Fast alle? Halt, da sind ja auch 20er Jahre thematisiert worden, die es noch gar nicht gibt! Das Festspielprojekt „Bohème 2020“ wagte einen Blick nach vorn und sollte dem Publikum eine Ahnung der nächsten künstlerischen Avantgarde vermitteln. Das Ergebnis jedoch enttäuschte mit gut gemeintem Mittelmaß. Wenn dieserart Poetry Slam, Tanz und Lichtinstallation für die Kreativität des nächsten Jahrzehnts sprechen sollen, dann wird es kein Goldenes.

Trotz zweier Pferde: Viel Laufen ist angesagt

Um der tatsächlichen Qualität der Dresdner Musikfestspiele 2014 gerecht zu werden, muss man sich dem zweieinhalbwöchtigen Aufgebot also anders annähern und nicht über das Motto „Goldene 20er“. Denn: Die thematische Spannbreite war gewaltig, der Zulauf enorm, das Niveau des Gebotenen hoch. Schon zum Eröffnungskonzert mit der Staatskapelle Berlin unter Chefdirigent Daniel Barenboim lag die Latte sehr hoch. Orchesterkonzerte mit der Dresdner Philharmonie unter Michael Sanderling, dem Leipziger Gewandhausorchester unter Riccardo Chailly, mit The Knights aus New York, dem von Heinrich Schiff geleiteten Bruckner-Orchester Linz sowie dem BR-Symphonieorchester unter Eliot Gardiner und dem hr-Sinfonieorchester unter Paavo Järvi – das alles waren große Ereignisse, festspielwürdig und von internationalem Wert. Unvergessen die innige, von keinen technischen Schwierigkeiten gezeichnete Interpretation des Brahmsschen Violinkonzerts durch Hilary Hahn, der diesjährigen Preisträgerin des Glashütte Original Musikfestspielpreises.

In diesem Reigen von außerordentlichem Wert war auch das Gedenkkonzert an Claudio Abbado, das vom durch ihn gegründeten Mahler Chamber Orchestra bestritten worden ist, etwas Bleibendes. Herausragend zudem – neben aller kammermusikalischen und solistischen Kost, die das Festspielprogramm obendrein noch garnierte – die als Koproduktion mit der Semperoper Dresden quasi wiederentdeckte Oper „Feuersnot“ von Richard Strauss. Für deren halbszenische Umsetzung wurde im Schlosshof gar eine neue Spielstätte gefunden. Seit den 1920er Jahren konnte dort nicht mehr so ausgelassen gefeiert werden.

www.musikfestspiele.com

Weiterlesen mit nmz+

Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.

 

Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50

oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.

Ihr Account wird sofort freigeschaltet!