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oben: Graham F. Valentine, Marc Bodnar, Ueli Jäggi; unten: Catriona Guggenbühl, Charlotte Clamens, Nikola Weisse, Carina Braunschmidt. Foto: © Simon Hallström
oben: Graham F. Valentine, Marc Bodnar, Ueli Jäggi; unten: Catriona Guggenbühl, Charlotte Clamens, Nikola Weisse, Carina Braunschmidt. Foto: © Simon Hallström
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Vergifteter Boulevard – Christoph Marthaler kredenzt in Basel „Das Weisse vom Ei“

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Worum es genau an diesem Abend gehen soll, verrät uns immerhin das Programmheft. Eigentlich ist es aber völlig egal, denn wir befinden uns ja bei Christoph Marthaler und seinem diesmal achtköpfigen Ensemble, das sich zwei Stunden lang tapfer schlägt. Bewaffnet mit unzähligen T(r)icks, teils bewusst verschluckter Sprache und einer großen Portion Musikalität, agiert die Truppe skurriler Geschöpfe in einem zwischen abgeblätterter Tapete und übertriebenem Plüschpomp schwankenden Salon (Bühne: Anna Viebrock).

Wir begegnen einem offenbar wohlhabenden Patriarchen, der ständig mit Augen und Mundwinkeln zuckt, seiner tristen Frau, die versonnen ins Weite schaut, einem anderen Paar, welches vermutlich prekären Verhältnissen entstammt sowie zwei Kindern, die – vielleicht – zueinander finden sollen. Oder wollen. Oder auch nicht. Wer weiß.

Christoph Marthaler hat zwei französische Boulevardstücke von Eugène Labiche als Vorlage genommen und mit Einsprengseln von Lewis Carroll, Gert Jonke und Gustav Meyrink ergänzt. Man spielt zweisprachig, Deutsch und Französisch. (Die Übersetzung eines der Stücke stammt von Elfriede Jelinek.) Marthalers Grundidee ist nun, die Hau-Drauf-Komik der Dialoge einerseits noch zu verstärken, andererseits durch Langsamkeit und Künstlichkeit zu konterkarieren. Die zu verehelichende Tochter leidet an einer fürchterlichen Sprachbehinderung (allerdings nicht nur daran), ihr eventuell künftiger Ehegatte ist reichlich autistisch. Auf der rechten Bühnenseite steht eine Harfe, die aber nie zum Einsatz kommt. Stattdessen singt Graham F. Valentine (nicht nur) britische Spaßsongs, während er ausgestopfte Tiere herum trägt und übel gelaunt glotzt. Der Rest schlägt sich mit Quietschen und Summen und einem kurzen Choral so durch. Immer wieder dröhnen drohende Kirchenglocken, die Valentine mit einer Fernbedienung aus- und wieder anschalten kann. Er kann übrigens auch die sonstige Musik steuern, tut dies indes eher selten.

Es gibt ein paar nette Verwirrungen zwischen den Sprachen, so klagt eine Partei über Migräne, während die andere ein Problem mit Migranten hat, doch insgesamt ist „Das Weisse vom Ei“ eine eher träge Angelegenheit, die auch durch Brachialgags (man verheddert sich an beziehungsweise in einem Stuhl) nicht wirklich lustiger wird. Der vom Band kommende Soundtrack tendiert dabei arg ins James-Lastige. Aber vielleicht geht es Marthaler hier gar nicht so ums Witzige, im Laufe des gut zweistündigen Abends fließt nämlich Blut, und zwar reichlich. Fast alle Protagonisten verletzen sich ‚versehentlich’, außerdem herrscht eine wahre Nasenbluten-Epidemie. Lakonisch endet die Chose, das Ensemble räumt die Bude leer und dann heißt es „Licht aus!“.

Einen Tag vor Christoph Marthalers jüngster Kreation zeigte das Theater Basel ein spannendes Jugendprojekt: „Die Klasse“ (Regie: Sebastian Nübling). Ein Haufen wilder Schulmädchen (später kommt ein eher schüchterner Junge hinzu) kämpft mit der Lehrerin um Macht und den Sinn des Lernens und Lebens. Auch hier wird zweisprachig gespielt, Hochdeutsch und in Schweizer Mundart. Auch hier hat die Musik eine wichtige Rolle, die Gruppe holt sich ihre Energie in sehr präzise skandiertem oder gesungenem Protest. Mehr noch als bei Marthaler liegen Witz und Gewalt nahe beieinander, ja „Die Klasse“ hat deutlich mehr Biss.

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