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Gidon Kremer. Foto: Kremerata Baltica
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Wider die Sprachlosigkeit – Gidon Kremer und die Kremerata Baltica mit „Mein Russland“ in der Semperoper

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Dass die neue Konzertsaison der Sächsischen Staatskapelle Dresden mit der Berufung des Geigers Gidon Kremer eine außergewöhnliche werden würde, war klar als man bereits vernahm, dass als Hauptwerke seiner Residenz die beiden Violinkonzerte von Sofia Gubaidulina programmiert wurden. Dem Porträtkonzert, das am Donnerstag in der Semperoper mit Kremers Orchester, der „Kremerata Baltica“ stattfand, verlieh Kremer kurzerhand ein neues Programm – angesichts der dramatischen Lage im Russland-Ukraine-Konflikt sah sich Kremer außerstande, ein auf seine eigene Biografie ausgerichtetes Programm namens „All about Gidon“ zu spielen und stellte ein neues unter dem Titel „Mein Russland“ zusammen, wandte sich in einem Statement an sein Publikum und baute im Konzert eine Gesprächsrunde ein, an der auch der Komponist Leonid Desyatnikov teilnahm.

„Wenn wir wegschauen, sind wir bereits mit dem Gewissen beteiligt“, so begründete Kremer die Programmänderung und unterstrich damit sein Credo, seinen Beruf des Interpreten auch als Berufung zu verstehen – auf der Bühne stehen und zu einem Publikum in Tönen zu sprechen schließt für ihn die Positionierung, Ausdruck und die Auseinandersetzung mit der Welt ein – damit bleibt Kremer auch sich selbst treu, denn seine musikalische Biografie vereint eine lange Reihe von Uraufführungen, Grenzgängen und vielfältiger, intensiver Beschäftigung Musik aller Couleurs.

Falsche Töne gibt es nicht

Mit Tönen auf das Grauen antworten – geht das? Der Abend in der Semperoper bewies, dass Kultur und erst recht die Musik eine Sprache zu sprechen imstande ist, in der ein Bewusstsein, vielleicht sogar eine Art Weckruf beim Hörer entstehen kann. Mit den Tönen kann sich jeder persönlich auseinandersetzen, sich nah oder mit Distanz positionieren und überlegen, was die bessere Variante ist: „falsche Töne“ gebe es in der Musik nicht, so Kremer – man spiele jede Musik mit authentischem Anspruch. Das sei in der Politik mit ihren Floskeln leider anders. Mit Bedacht ist also zu wählen, wem zuzuhören sei. Kremer weiter: „Kunst hat die Aufgabe, uns von der Gleichgültigkeit, die wir über die Massenmedien und durch Entertainment entwickelt haben, abzuwerben.“ Gidon Kremer ist baltischer Herkunft, hat aber prägende Jahre seines Lebens in Moskau verbracht. Mit dem Konzertprogramm wolle er die schwermütige, nachdenkliche, auch ethische Seite von Russland vorstellen.

Als im Gespräch der Satz fiel „Es gibt keinen Weg, aber wir müssen ihn gehen,“ wurde offensichtlich, dass es keiner weiteren Worte bedurfte, und dass die vorgestellte Musik am Ende stärker war, wo sich im Gespräch – vor allem bei dem etwas lakonisch argumentierenden Desyatnikov („Musik ist machtlos“) eine erschütterte Sprachlosigkeit anbahnte. „In der Musik ist kein Hass“, konstatierte Kremer und trotz aller stilistischen und thematischen Unterschiede und der unterschiedlichen Wurzeln der Komponisten standen die vier vorgestellten Werke in friedlicher Koexistenz nebeneinander. Die „Reflexionen über ‚B-A-C-H‘“ der aktuellen Capell-Compositrice Sofia Gubaidulina eröffneten den Abend und schärften gleich die Konzentration: ihre kompromisslose Reduktion des Materials erzeugt eine Klarheit des Geistes, die aufnahmefähig für Weiteres macht.

Leonid Desyatnikov ist Ukrainer und lebt in St. Petersburg – seine „Russischen Jahreszeiten“ für Sopran, Violine und Streichorchester sind ein faszinierendes Konglomerat aus Volksmusik, geistlichem Melos und bildhafter Zeichnung ursprünglicher Gefühle und Stimmungen – von Kremer, der Sopranistin Olesya Petrova und der Kremerata Baltica wurde das intensivst ausgekostet. Mieczyslaw Weinbergs (1919-96) späte 2. Kammersinfonie beeindruckt durch eine tiefernste Haltung, die sich nur ab und an zu einem freundlichen Lächeln oder untergründigem Humor lichtet. Kremer, der erst letztes Jahr ein Doppel-CD-Album mit Weinberg-Werken veröffentlichte, ist an der Renaissance des Komponisten maßgeblich beteiligt, und der gesamte Konzertabend zeigte, dass bei allem Respekt vor dem Œuvre von Dmitri Schostakowitsch die russische/sowjetische Musik des 20. Jahrhunderts in der Rezeption stark fokussiert auf sein Werk ist – hier sind noch viele Handschriften hinzuzufügen. Kremer, zuvor bereits solistisch aktiv, übernahm nun das Konzertmeisterpult – sein Orchester zeigte hier wie in allen Werken des Abends einen packenden Zugriff bis hin in die hintersten Geigenpulte. Klanglich verstehen sich diese Musiker blendend und Gidon Kremers Leitung blieb ebenso konzentriert wie kreativ-spontan, sein „sprechender“ Geigenton mit bronzener Färbung hatte stets eine unnachahmliche, einnehmende Präsenz.

Dass Russland einen besonderen Sinn für Humor und Satire hat, wissen wir schon seit der Futuristen der 20er Jahre, aber auch durch literarische Meisterwerke von Michail Bulgakow oder Viktor Jerofejew. Das letzte Werk des Abends setzte diese auch von Schostakowitsch und Schnittke verfolgte Linie fort: mit unverhohlenem Spaß nimmt Alexander Raskatov in „The Seasons' Digest“ Peter Tschaikowskys Klavierzyklus „Die Jahreszeiten“ auseinander – die auskomponierte Respektlosigkeit bewahrt dennoch ihren Charme: da wird getanzt, gejohlt, gepfiffen und über Väterchen Frost geklagt, dass es eine Wonne ist. Den großen Jubel des Publikums beantworteten Kremer und die Kremerata Baltica mit einem „Rausschmeißer“, wiederum von Mieczyslaw Weinberg. Gidon Kremers Konzert in der Semperoper hat deutlich gezeigt: es tut gut, wenn auch der klassische Musikbetrieb sich nicht in Selbstrotation des ewig gleichen Repertoires erschöpft. Wir brauchen die Auseinandersetzung mit Musik, mit Kunst dringender denn je, und da sind nicht nur mutige Interpreten gefordert, sondern wir selbst als nicht nur konsumierende, sondern aktiv nachvollziehende Zuhörer.

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