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Alle Zutaten um einhundertachtzig Grad gedreht?

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Zur Frage der (Links-)Händigkeit in der Streicherpädagogik
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Das Phänomen der Händigkeit gehört zu den grundlegenden Themen und Problembereichen der Musik- und Instrumentalpädagogik. Insbesondere im Streicherbereich stellt sich immer wieder die Frage, ob linkshändige Streicher den Bogen grundsätzlich mit der linken Hand führen sollten. Dies wäre nur allzu nahe liegend, denn rechtshändige Streicher halten den Bogen in der rechten Hand. Deren Bogenhand wird in der Regel von der gegenüberliegenden linken, dominanten Hemisphäre gesteuert. Was aber ist zu tun mit linkshändigen Streichern, deren dominante Gehirnhälfte die rechte ist? Alle Zutaten um einhundertachtzig Grad drehen, wie es die Firma McDonalds vor etwa zehn Jahren in ihrer nicht ganz ernst gemeinten Werbung für den Hamburger für Linkshänder vorgeschlagen hat?

Die Frage nach den instrumentalpädagogischen Konsequenzen der Händigkeit bei Streichern kann auf verschiedenen Ebenen gestellt werden. Zum einen spielen instrumentalpraktische Überlegungen eine Rolle, zum Beispiel die Frage nach der Körperhälfte mit den komplexeren Anforderungen beim Instrumentalspiel. Zum anderen müssen die neurophysiologischen Voraussetzungen der Spieler berücksichtigt werden. Obwohl unser Gehirn extrem flexibel, lernfähig und formbar ist, reagiert es unter Umständen empfindlich, wenn man den zerebralen Gegebenheiten nicht entspricht. Aussetzer, Verwirrung, Störung, Angst und andere unerfreuliche Reaktionen sind die Folge. Spätestens dann ist die Pädagogik gefordert, nach neuen methodischen Wegen zu suchen.
Bogenhand versus Greifhand

Oberflächlich betrachtet, könnte man sagen, rechtshändige Streicher führen den Bogen mit rechts, weil sie auch mit der rechten Hand schreiben. Direkt von der Schreibhand auf die Bogenhand zu schließen, ist aber etwas zu einfach. Denn die beiden Tätigkeiten unterscheiden sich nicht unerheblich. Beim Schreiben führt die eine Hand sehr komplexe Bewegungen aus, während die andere nur auf dem Blatt ruht und es von Zeit zu Zeit etwas weiter schiebt. Analog dazu führt auch die Bogenhand sehr komplexe Bewegungen aus, aber die Bewegungen der Greifhand sind um einiges anspruchsvoller als die der „Nicht-Schreibhand“.

Das Schreiben ist per se eine stark einseitige, lateralisierte Tätigkeit, im Gegensatz zum Spielen eines Streichinstrumentes. Hier müssen zweifelsfrei beide Hände schwierige, wenn auch unterschiedliche Aufgaben übernehmen, so dass man unvoreingenommen schließen könnte: Wenn beide Seiten komplexe Aufgaben bewältigen müssen, dann ist es folglich gleichgültig, welche Hand den Bogen führt.

Sehen wir uns die unterschiedlichen Aufgaben der beiden Körperhälften beim Streichinstrumentenspiel etwas genauer an: Der linke Arm muss die Hand mit den Fingern exakt zu den Positionen bringen, wo die Töne liegen, und zwar in allen Lagen und auf allen Saiten. Die Finger der linken Hand müssen stets alle – bei Cello und Kontrabass drückt auch der Daumen in den höheren Lagen die Saite nieder – in ständig wechselnder Abfolge und unabhängig voneinander auf den Millimeter genau agieren. Auch der zusätzliche technische Aufwand für die unterschiedlichen Arten des Vibratos und das Bewältigen von Doppelgriffen muss mit in Betracht gezogen werden. Die rechte Hand hingegen muss den Bogen mit jeder Bogenstelle auf jede mögliche Kontaktstelle auf allen Saiten bringen und dabei hochsensibel Druck und Geschwindigkeit stets neu aufeinander abstimmen, verschiedene rhythmische Kombinationen von Auf- und Abstrichen ausführen und dies alles noch in unterschiedlichen Artikulationen. Ebenfalls eine immens komplexe Leistung, wenngleich die Finger der rechten Hand nicht in der gleichen Art und Weise wie die der Linken unabhängig voneinander agieren. Wir nehmen an, dass unser Gehirn nach Möglichkeit äußerst effizient und ökonomisch arbeitet, dass also auch hoch differenzierte und komplexe Abläufe anhand von gemeinsamen Grundaktivitäten und Mustern gespeichert und verfeinert werden. Diese Überlegungen zeigen, dass ein Urteil über die Frage nach der Seite mit den „höheren“ Anforderungen beim Instrumentalspiel nicht so leicht zu beantworten ist.

Ist der Frage auf diese Art nicht beizukommen, so könnte man sie womöglich von der Seite der zu spielenden Literatur aus angehen. Vielleicht liegt die Schwierigkeit in den Stücken selbst, die einmal schwerer sind für die Bogenhand, ein andermal schwieriger für die Greifhand? Je nach Epoche, Stil oder einzelnem Stück, ja sogar einzelnem Takt, wird man zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Barock und Klassik ob ihrer vitalen Artikulation als Herausforderung für die Bogentechnik, Romantik ob ihrer weit gespannten Melodie- und Legatobögen als Herausforderung für die Greifhand? Dieser spieltechnische Ansatz eignet sich, obgleich er nützlich ist für die methodische Kreativität, wohl eher für Gedankenspiele – eine tragfähige Antwort ist daraus nicht abzuleiten.

Dominanz einer Körperseite

Wenden wir uns also neurophysiologischen Überlegungen zu, in der Hoffnung, dass diese weniger anfällig für Subjektivität sind. Die Frage nach den komplexeren Anforderungen muss in eine wissenschaftliche Form überführt werden. Was heißt demnach neurophysiologisch betrachtet „höhere Anforderung“? Eine mögliche Antwort wäre: Diejenige Hand oder Körperhälfte, die beim Spielen mehr Nervenimpulse sendet oder empfängt, leistet mehr. Dieser Mehraufwand an Arbeit lässt sich anhand der Messung des zuständigen, steuernden Areals auf der Großhirnrinde quantifizieren. Demnach müsste die Hand, die die komplexeren Aufgaben bewältigt beziehungsweise intensiver beübt wurde, auf dem Cortex über eine vergrößerte Repräsentationsfläche verfügen.

Die Untersuchungen von Robert Jourdain und Thomas Elbert jedoch besagen unabhängig voneinander, dass bei Streichern, die den Bogen rechts führen, die Areale der linken (!) Hand auf dem Cortex vergrößert sind (siehe die Literaturangaben unten). Dies ist mit den obigen Annahmen jedoch kaum in Einklang zu bringen, da es ja bedeuten würde, dass bei rechtshändigen Streichern die linke Hand die höheren Anforderungen zu bewältigen hätte. Verglich man hingegen umgeschulte Linkshänder mit „normalen“ Rechtshändern, die die einfache Aufgabe hatten, mit der rechten Hand gezielt einen Knopf zu drücken, so zeigte sich, dass bei beiden Gruppen die gleichen Regionen im Cortex aktiviert wurden. Bei den Umgeschulten war die Aktivierung umso größer, je stärker die nicht dominante, rechte Hand trainiert war. Es wurde gefolgert, dass das Umlernen die angeborene Händigkeit nicht beseitigt, sondern lediglich den neuronalen Aufwand für die Hand- und Fingermotorik erhöht. Dies legt den Schluss nahe, dass eben die nicht-dominante Hemisphäre mehr leisten muss und zwar genau deswegen, weil sie per se nicht so leistungsfähig ist, während die dominante Seite die schwierigere Aufgabe ohne nennenswerten Mehraufwand bewältigen kann – eine Aussage mit nicht unerheblichen Folgen für die Pädagogik. Wiederum zeigt sich, dass auch hier keine eindeutige Antwort auf die Frage nach der „richtigen“ Bogen- beziehungsweise Greifhand zu erwarten ist. Die pädagogische und methodische Fragestellung kann demnach nicht lauten: In welcher Hand muss der Bogen geführt werden? Vielmehr muss hinterfragt werden: Was tun, wenn der Bogen links oder rechts geführt wird?

Konsequenzen für die Streicherpädagogik

Diese Frage mag vielen Streicherpä-dagogen nach wie vor missliebig sein, denn sie verlangt von ihnen eine erweiterte Sensibilität und Verantwortlichkeit dem Schüler gegenüber. Wie gehe ich also als Streicherpädagoge damit um, wenn ein Schüler links oder rechts streichen möchte? Zunächst ist zu klären, ob eine eindeutige rechts- oder linkshändige Präferenz vorliegt. Ist dies bekannt, sollte es tatsächlich gleichgültig sein, in welcher Hand der Bogen geführt wird. Hier können wir wiederum auf unser flexibles und lernfähiges Nervensystem bauen. Wir gehen davon aus, dass der Linkshänder überwiegend beziehungsweise dominierend mit links spielt (also greift!) und der Rechtshänder seinerseits dominant mit rechts spielt (also streicht!). Die Rechtshänder führen folglich ihr Spiel mit der rechten Hand über den Bogen. Dementsprechend sollte es für Linkshänder in Ordnung sein, über ihre Greifhand das Spiel führen zu dürfen.

Selbstverständlich ist es für beide Parteien notwendig, die spezifischen Fertigkeiten der jeweils nicht dominanten Seite gleichberechtigt zu erlernen, zu üben und zu automatisieren. Doch beim Spielen, in der Gesamtbewegung, kommt die Führung jeweils von der dominanten Seite und die automatisierten Bewegungen der anderen Seite werden von ihr initiiert und hängen sich gleichsam an die dominante Bewegung.

Es kann nicht richtig sein, dass vielerorts immer noch von der Streicherpädagogik der überwiegend rechtshändigen Pädagogen auf eine für alle – auch für Minderheiten – gültige Streicherpädagogik geschlossen wird. Die Voraussetzung für ein Umdenken beziehungsweise der notwendige Akt der Differenzierung besteht also zuallererst darin, die vorherrschende Streicherpädagogik, der bisher immer noch der Status der Allgemeingültigkeit zukommt, als eine spezifisch rechtshändige Streicherpädagogik einzuordnen. Leider bleiben in der Diskussion um das Streichen mit links oder rechts und den möglichen Umbau der Instrumente häufig auch Fragen der unterschiedlichen Wahrnehmung von Rechts- und Linkshändern unberücksichtigt. Die-se potenziellen Unterschiede zwischen dem Denken und Wahrnehmen von Rechts- und Linkshändern führen nicht selten zu unbewussten kommunikativen Reibungsverlusten im Lernprozess und in der Lehrer-Schüler-Beziehung, mit allen negativen Auswirkungen auf das Darstellen der Musik selbst.

Folgendes Beispiel zur rhythmischen Wahrnehmung und Verarbeitung sei stellvertretend für mögliche Unterschiede von Links- und Rechtshändern beim Instrumentalspiel angeführt: Für viele Rechtshänder ist der linear fortschreitende Puls die Basis des Lernens und Übens, auf der die musikalische Aussage aufbaut. Beim Linkshänder ist das vielfach genau andersherum. Erst wenn er einen Takt ganzheitlich erfasst hat, kann er die Musik stimmig rhythmisch hervorbringen. Da der Linkshänder oft vom Primat der harmonischen und vertikalen Struktur (etwa der Gliederung von Achtelketten) ausgeht, verleiht er der Musik zunächst andere Proportionen, die sich nicht immer direkt von der metrischen Anordnung her verstehen lassen. Diese stören mitunter das Rhythmusempfinden des rechtshändigen Pädagogen und können im weiteren Unterrichtsprozess leicht zu Irritationen führen.

Vertauschen der Hände als oberflächliches Manöver

Nach all diesen Überlegungen wird deutlich, dass sich die Frage nach der „richtigen“ Bogenhand so weder stellen noch beantworten lässt und dass es möglicherweise auch keinen eindeutigen neurophysiologischen Begründungsansatz für eine der beiden Varianten geben kann. Vielmehr können wir annehmen, dass grundsätzlich die Freiheit der Wahl besteht, diese aber seitens der Pädagogen die nötige Sensibilität sowie entsprechende methodische Konsequenzen erfordert. Hier wäre noch Bedarf an einer spezifischen Methodik des Lernens im Bezug auf die unterschiedlichen Händigkeiten der Schüler. Das bloße Vertauschen der Hände beim Spielen eines Streichinstrumentes bleibt sonst ein rein oberflächliches Manöver, das die wesentlichen Probleme weder erkennen noch lösen kann.

Literatur

Robert Jourdain: Das wohltemperierte Gehirn. Wie Musik im Kopf entsteht und wirkt. Heidelberg 2001

Thomas Elbert: Increased cortical representation of the fingers of the left hand in string players. (http://www.sciencemag.org/cgi/content/abstract/sci;270/5234/305)

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