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Alles ist überschaut, die Entscheidung ist frei

Untertitel
„Zwischen Bergen und Meer“, Teil II – Der Komponist Leon Schidlowsky
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Teil I des Berichtes über den chilenischen Komponisten Leon Schidlowsky finden Sie in der neuen musikzeitung Juli/August 2001. In dieser Ausgabe beschließt Errico Fresis sein ausführliches Schidlowsky-Feature.

Der Geist von Südamerika ist in meiner musikalischen Spra- che wiederzufinden, dieses besondere‚ Etwas‘, das aus dem Dröhnen von riesigen Bergen, Erdbeben, Seen entstanden ist“, so Schidlowsky. Bei solchen Sätzen, muss ich sofort an das jüdische Konzept der „Toraklula“ denken, der „unentfalteten Tora“, der „Ur-Tora“: die vorbestehende Tora, für deren Beherbergung die Welt erschaffen wurde und daher den Sinn der Welt selbst darstellt, wurde mit „weißem Feuer“ geschrieben, unsichtbar und unlesbar. Eine sinnliche Kenntnis können wir nur vom „schwarzem Feuer“, die fixierte Tinte, haben.

Das „Etwas“, das hinter das Aussprechliche und Erkennbare sich birgt, das ist was Schidlowsky suchte und auch seine Schüler aufforderte, mit ihm zu suchen. „Mein musikalisches und ideologisches Leben hat in Chile begonnen. Dort habe ich Musik studiert und war Mitglied von ‚Hashomer Hatzair‘ (eine links-orientierte zionistische Jugendorganisation) und dort fing die Rebellion gegen mein Geburtsland an. Ich war Schüler von Free Focke, der mit Webern studiert hatte und mir die Tore zur Zweiten Wiener Schule öffnete. Von der anderen Seite gab mir ‚Hashomer Hatzair‘ Antworten auf die existentiellen Fragen meiner Jugend. Aus künstlerischen Gründen bin ich 1952 nach Deutschland gekommen, nachdem ich Musik, Philosophie und Psychologie studiert hatte. Ich habe das geistige Vermächtnis von Benjamin, Adorno, Schönberg, Tucholsky, Kafka, Trakl, Rilke, Kandinsky, Klee, Kokoschka absorbiert.“ Die zwiespältige Bindung Schidlowskys mit Deutschland blieb auch später durch Einladungen des Deutschen Akademischen Austauschdienstes erhalten: einige Jahre hielt sich Schidlowsky in Deutschland auf, wo manche seiner wichtigsten Kompositionen und Gemälde entstanden.

Trotz der Einwände seines Freundes Nono zog er 1969 in das „einzige Land, wo man als Jude frei leben kann“, Israel, wo er seitdem als Professor für Komposition an der Rubin-Akademie der Universität in Tel Aviv tätig ist. Dort hielt er sich der Vermarktung fern und suchte eigene kompositorische Wege; und dort lernte ich ihn vor fast 20 Jahren kennen. Das erste Mal besuchte ich sein Seminar an der dortigen Musikhochschule, weil ich von seiner Persönlichkeit fasziniert war. In seinen intensiven Unterrichtsstunden eröffnete er uns neue Welten und lehrte uns das Denken. Er kombinierte Analyse bis zur Erschöpfung mit seinem tiefen Wissen über Literatur, bildende Kunst, Philosophie und Geschichte. Wir lernten, dass Musik ein politischer Akt ist, der mit großer Verantwortung verbunden ist. Gleichzeitig öffnete er uns den Blick für mystische Verbindungen. Bei der Arbeit am Repertoire war das Musizieren und das Wissen wie „die Flamme verbunden mit der Kohle“ – eine Einheit von Ursache und Phänomen, die nicht gespalten werden kann. Schidlowsky verdanke ich auch die Grundlagen der Dirigiertechnik – er hat sie selber von Hermann Scherchen gelernt.

Betrachtet man das reiche Schaffen Schidlowskys, nehmen seine grafischen Kompositionen einen sehr wichtigen Platz ein. In einer grafischen Partitur kann man der Einheit des musikalischen Raumes (ein Prinzip, das natürlich von der Flämischen Schule über Bach bis Schönberg nicht unbekannt ist) durch die Umwandlung des mathematischen Raumes der konventionellen Notation zum geometrischen der grafischen Notation viel näher kommen. Die Linearität ist nicht mehr vorhanden, die Tonhöhen sind nicht festgelegt, sondern durch die geometrischen Verhältnisse subjektiv abzuleiten, genauso wie Dauer, Dynamik und Anschlag. Der Klang selbst, seine Parameter und entstehende Strukturen sind im Gegensatz zur seriellen Praktik nicht mehr als absolut zu betrachten.

Der Interpret wird vor neue Aufgaben gestellt: seine Vorstellungskraft und Kreativität sind unverzichtbare Voraussetzungen. Der Interpret wird selber zum Mitschöpfer und das bei jeder einzelnen Aufführung in einem für den klassischen Musikbetrieb ungewohnten Ausmaß. Synästhetische Fähigkeit wird zur Grundlage eines Gesamtkunstinterpreten, der sich nicht mehr allein auf seine technische Fertigkeit als Instrumentalist verlassen kann. Die geometrische Darstellung macht die Klangstrukturen ersichtlich, die Farbe (die im späteren grafischen Werk Schidlowskys hinzugekommen sind) spielt eine zwingende Rolle, die Freude an die Entdeckung des Planes hinter der Grafik ist ein Teil der Interpretationsarbeit, für die mehr als musikalische Kenntnisse erforderlich ist. Das „Zufallsprinzip“ der wissenschaftlichen Weltanschauung wird hier mit dem metaphysischen Prinzip des schöpferischen Planes hinter dem Zufall in Verbindung gebracht. „Alles ist überschaut, und die Entscheidung ist frei“, der Ausspruch des legendären Rabbi Akiba, des Tannaiten, findet hier eine erstaunliche Umsetzung.

Schidlowsky lässt jedoch nicht zu, dass solche Konzepte zum Selbstzweck werden wie in der seriellen Musik, die eine objektive Wahrheit beansprucht (damit auch bequemer wird, weil sie unkritisch der Umwelt gegenüber bleibt). Schidlowsky lässt sein (im breiten Sinne) politisches Engagement durchblicken. Die sieben Grafiken seines Werkes „Deutschland, ein Wintermärchen“ sind ein nüchterner, kritischer Spiegel der deutschen Gesellschaft der Nachkriegszeit. Und wenn in seine „Missa sine nomine“ die Teilen der Liturgie mit „weltlichen“ Teile gegenübergestellt werden, bekommt das Beten einen neuen Sinn (wie Schidlowskys geistiger Meister Arnold Schönberg wollte: „beten zu lernen“!). Dieses Werk fängt mit dem Schöpfungskapitel der Genesis an. Dem anschließenden „Kyrie“ folgt das „Lied“ (Text: George Grosz), „Gloria“ wird von „Chile“ erwidert. Und diese letztere Grafikpartitur enthält ein Dokumentarfoto von chilenischen Milizen, die wehrlose Bürger schlagen. Dieses Foto ist natürlich nicht im engeren Sinne musikalisch darstellbar und doch spielt es eine unverzichtbare Rolle für den Interpreten. Und wenn Schidlowsky eine Passion komponiert, nennt er sie „Greise sind die Sterne geworden –eine moderne Passion“, mit Texten von Heine, Amos, Trakl, Lasker-Schüler, Joel, Kaléko, Fried, Novalis und anderen.

Eine Passion, die nicht das menschliche Leiden sondern die „Tragödie des Mensch-Seins“ thematisiert, „gespiegelt in der Poesie des 20. Jahrhunderts und in dem Buch der Bücher: Die Prophezeiung des Menschen für den Menschen und durch den Menschen“, wie Schidlowsky schrieb. Dafür war eine Musik notwendig, die „alle Tonhöhen, alle Rhythmen, alle Klangfarben und Harmonien, die unsere Seelen überfallen, einschließen kann. Eine Musik, die den gesamten menschlichen Ausdruck umfasst“.

Leon Schidlowsky, der Maler, hat in mehreren Ausstellungen auch in Deutschland sein malerisches und grafisches Werk gezeigt: 1979 in der Staatsgalerie Stuttgart, 1980 im Künstlerhaus Hamburg, 1982 im Wilhelm Hack Museum Ludwigshafen, 1993 in der Galerie im Hof Berlin/Bardowick, 1996 in der Stadtgalerie Saarbrücken. Falsch wäre es, sich seinem Schaffen nur durch das grafische nähern zu wollen. Viele Werke in „konventioneller“ Schrift sind nicht minder wichtig. Daraus kann man einige finden, die seiner südamerikanischen „Identität“ entsprungen sind (wie „Triptique“, „Amerindia“ und „Amereida“) oder seiner jüdischen Identität („Kristallnacht“, „Babi Yar“ und „Nacht“) – um nur manche davon zu nennen. Im Jahr 1993 erfüllte er in Berlin eine „Mizwa“ (Gebot, Pflicht): er komponierte eine Oper – ein Meisterwerk, das noch auf seine Uraufführung wartet – „Der Dibbuk“ (nach An-Ski), in dem seine musikalische Welt sich mit der jüdischen Mystik vereint. Ein weiteres Meisterwerk, das ebenfalls noch auf seine Uraufführung wartet, ist das 1998 komponierte Monodram „Vor dem Frühstück“ nach Eugene Neill, seine eigene „Erwartung“. Und ein Schlusswort ist dem Komponisten vorbehalten: „Ich nehme den Weg, den Luigi Nono gewählt hat: zuerst muss man etwas innerlich hören, erst dann verschlüsselt man es in Zeichen. Man könnte es als meinen Expressionismus bezeichnen: eine Zeichensprache, welche die Wirklichkeit so widerspiegelt, wie ich in sie mittels meiner eigenen Vision eindringe. Bei der schöpferischen Arbeit bin ich fasziniert von der menschlichen Fähigkeit, unbewusst mit Elementen, die doch a priori als bestimmt gelten, umzugehen.

Musik ist Politik, ist Engagement für das Leben der Menschen. Sie wird vom Menschen geschaffen, belebt, mit dem Ziel, andere Menschen zu erreichen. Ich glaube, dass Kunst ein Weg zu uns selbst ist; schöpfend habe ich gelernt, die Welt in mir auszudrücken, ohne Angst und ohne Kompromisse. Ich betrachte die Welt in ständigem Erstaunen, trachtend, das Unzugängliche und Unerreichbare zu erreichen“.

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