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Das Ensemblekollektiv Berlin mit „white wide eyes“ von Sarah Nemtsov. Foto: Kai Bienert
Das Ensemblekollektiv Berlin mit „white wide eyes“ von Sarah Nemtsov. Foto: Kai Bienert
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Alte und neue rote Fäden

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Das Ultraschall-Festival stellt einmal mehr die Sprengkraft des Alten gegen neue bunte Klangspektren
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Es scheint, als könnten Beschränkungen dem Berliner Ultraschall-Festival nichts anhaben. Auch in seiner neuen, auf fünf Tage eingedampften Form fanden kaum weniger Konzerte statt als früher im doppelten Zeitraum. Auch ihrem Konzept sind die Macher Rainer Pöllmann von Deutschlandradio Kultur und Andreas Göbel vom Kulturradio des rbb treu geblieben: der konsequenten Wiederaufführung als notwendiger Ergänzung des reinen Uraufführungs-Festivals, die das ehemals Brandneue, Spektakuläre, vielleicht sogar Skandalöse oder einfach nur beifällig Aufgenommene in Konfrontation mit der aktuellen Produktion erneut auf den Prüfstand stellt.

Auch in diesem Jahr waren 14 Uraufführungen zu verzeichnen, und auch diesmal stellte sich das bekannte Phänomen ein, dass das Neue alt aussehen kann in der Begegnung mit dem Früheren. Dahingestellt sei, ob Helmut Lachenmann „der größte heute lebende Komponist ist“, wie Göbel den Erfinder der „musique concrète instrumentale“ ankündigte. „Ein Tag für Helmut Lachenmann“ zum 80. Geburtstag des Meisters offenbarte jedoch in vier Konzerten – Auftakt zweijähriger „Lachenmann-Perspektiven“ mit exemplarischen Aufführungen aller Orchesterwerke, mit Symposien und Meisterkursen – Konsequenz, Kompromisslosigkeit und eine Radikalität, die man so manchen Jüngeren heute nur wünschen kann. Immer noch ist diese Musik anstrengend zu hören, kann verstörend sein, entreißt dem Hörer alle Hilfskonstruktionen des Vertrauten, der Wiedererkennung in Traditionsverankerungen, vor allem jeglicher Assoziationsmuster oder gar Klischeevorstellungen.

Dabei geht es Lachenmann, dem in seinen Anfängen Verrat an den Werten der abendländischen Musik vorgeworfen wurde, durchaus um Verbindung mit der Tradition – an der ehrwürdigen Gattung des Streichquartetts oder auch des Klaviertrios arbeitet er sich ebenso ab wie Komponisten vor 200 Jahren. „Es ist Musik, was ich schreibe“, sagt er, doch will er, dass der reine Klang gehört wird, ohne die Beimischungen und Belastungen der Vergangenheit. Die Streichquartette „Reigen seliger Geister“ und „Grido“, vorzüglich interpretiert vom „Quatuor Diotima“, enthüllten erneut das reiche Panorama schwirrender, zirpender, raschelnder Geräusche, in „Grido“ wieder stärker zum Klang und zum harten Akzent verdichtet. Vor allem die „Tanzsuite mit Deutschlandlied“, gespielt vom Deutschen Symphonie-Orchester (DSO) Berlin unter Lothar Zagrosek, wirkt in langer Dauer ein wenig spröde-ambitioniert. Zwar erschließt sich der Suitencharakter beim zweiten Hören, ist der Wechsel zwischen populären Rhythmen (zwischen Walzer, Tarantella und Siciliano soll sich auch ein „Hänschen klein“ eingeschlichen haben) und den das Gewohnte hinterfragenden Phasen zunächst interessant, doch zerbricht der Spannungsbogen, und das kritische Amüsement hält sich in Grenzen.

Was Interpretation ausrichten kann und muss, ist auch ein Erfahrungswert vieler Ultraschall-Jahrgänge. Einen ungleich dichteren Eindruck hinterließ im Konzert des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin unter Emilio Pomàrico die „Musik für Blech und Saiten“ von 1975, deren Übertitel „Schwankungen am Rand“ natürlich doch ein weites Assoziationsfeld öffnet. Die „Schwankungen“ meinen die Infragestellung des Hörens im Raum, indem das Publikum von Instrumenten umstellt ist, die Kontrolle über die Ortung und Zuschreibung von Klangquellen verlieren muss. Sie bringen mit Glissandi, Pizzikati, verfremdenden Instrumentenkombinationen, Intonationstrübungen und unendlichen Tonwiederholungen auch die Vorstellungen von Rhythmus und Tonhöhe zum Schwanken, faszinieren durch unerhörte Schroffheit und Farbigkeit des Klangs zugleich. Vielleicht schafft ein Übermaß an Donnerblechen allzu brachiale Atmosphäre, verdeckt auch Differenzierungen, vielleicht ist eine kurze Radioeinspielung zur Bloßstellung der üblichen Banalitäten allzu sehr der Zeit geschuldet – die Zuhörer folgten auch beim zweiten Durchgang dem mehr als halbstündigen Verlauf gebannt und brachen zum Schluss in frenetischen Jubel aus.

„Haare“ für Violine solo von Enno Poppe und „Study for String Instruments“ von Simon Steen-Andersen in der Fassung für Posaune und Violoncello durften zwischen den zwei Lachenmann-Aufführungen erklingen, differenzierte Klangerforschungen auf momentkurzem Raum, doch ein wenig leichtgewichtig gegen die massive Orchestermusik. Während zwei fertiggestellte Abschnitte der fünfteilig angelegten „Motions – der doppelte Blick“ von Isabel Mundry in deutscher Erstaufführung der „Tanzsuite“ vorangestellt waren – sich dehnende, aufladende, explodierende und zerfallende Klänge von harmonischer Balance –, kam Steen-Andersen im Eröffnungskonzert des DSO ausführlicher als Lachenmann-Erbe zu Wort. Das Orchesterstück „Double Up“ (2010) ist ein Kompendium der doppelten Bedeutungen: gemeint ist ebenso die Verdoppelung des Einsatzes am Spieltisch wie die Verdoppelung von Alltagsgeräuschen durch die Orchesterinstrumente. Sie müssen das Hupen, Motorenbrummen, Surren des Rasierapparats, Glucksen der Kaffeemaschine, Scheppern und Klingeln von Unterhaltungsmusik vom Zuspielband live umsetzen, nicht umgekehrt, wie es sonst immer der Fall ist. Ein Einbruch des Alltags in die künstliche Welt der Musik also im doppelten Sinne, was sich auch in der zweiteiligen Anlage des Werkes zeigt.

Der Däne Steen-Andersen ist eine ausgesprochen erfrischende Erscheinung im Musikbetrieb, schreibt hochintelligente und zugleich unprätentiöse Werke. Ihm war als Gast des Deutschen Akademischen Austauschdienstes vor vier Jahren ein umfangreiches Portraitkonzert gewidmet. Auch weiterhin lässt sich der Nachwuchs bei Ultraschall vor allem in der Zusammenarbeit mit dieser verdienstvollen Institution entdecken. Michael Pelzel, Komponist und Organist aus der Schweiz, unter anderem von Georg Friedrich Haas in Basel ausgebildet, stand diesmal im Mittelpunkt. Sein hochdifferenziertes, transparentes Orchesterwerk „ …chatoiements de l’air… “ folgt mit filigraner Beweglichkeit der Vorstellung flimmernder Luftschichten, besticht durch sein handwerkliches Raffinement, mit dem etwa Parallelbewegungen rhythmisch ausdifferenziert werden. Im vom Klangforum Wien unter Johannes Kalitzke bestrittenen Portraitkonzert nahm vor allem „Sempiternal Lock-in“ (2012–14) durch eine aufgerauhtere, kräftigere Klanglichkeit für sich ein, von farbigen Details etwa von Lotosflöte und zahlreichen Gongs belebt, zu denen Pelzel ein Südafrika-Aufenthalt inspirierte. Die Konzepte der Werke „ …along 101… “ (2008) und „ …sentiers tortueux… “ (2007), sich auf den US-Highway der Westküste und auf die Architektur Frank O. Gherys beziehend, waren weniger überzeugend. Ein riesiger Klangapparat – die blinkende Phalanx von Tamtams und Gongs zog sich über eine ganze Saalwand –, ständig in sausender und rauschender Bewegung, erzeugte verhältnismäßig blasse Klangeindrücke. Alle Farben zusammengemischt ergeben eben doch nur Grau. Angekündigte Effekte wie Drittel- und Sechsteltönigkeit gingen darin unter.

Pelzels akribische Arbeit ist eindrucksvoll – doch worum geht es ihm? Heraus kommt eine „schöne Musik“, die exotisch blinkt und schimmert, doch auch nicht die aufregenden Klangerlebnisse etwa der französischen Spektralisten à la Gerard Grisey bereithält. Wie aus äußerster Reduktion Substanz entstehend kann, war exemplarisch in der Kammeroper „Sommertag“ von Nikolaus Brass zu erleben. Schon die literarische Vorlage des norwegischen Schriftstellers Jon Fosse ist wortkarg, spricht das Eigentliche nicht aus: Eine junge Frau wartet auf ihren Mann, der aufs Meer hinausgefahren ist und niemals wiederkommen wird. Was in der Regie von Christian Marten-Molnár als Synchronizität von Vergangenheit und Gegenwart dargestellt wird, welche Vielschichtigkeit seelischer Vorgänge und Beziehungen zwischen drei Männern und drei Frauen entsteht, wie sechs Musiker dies mit kargen Linien, schroffen Akzenten und verstörenden Verdichtungen unterstreichen, kompakt und doch unmittelbar eingängig, das ist einfach großes Musiktheater. Der Kunstgriff einer festgelegten Zeitkonzeption, in der flexibles Agieren möglich ist, entspricht dem Inhalt, der Situation des Wartens, genau. Die Neuen Vokalsolisten Stuttgart übertreffen sich sängerisch und darstellerisch selbst in diesem ersten Musiktheater des 65-jährigen, viel zu wenig bekannten Komponisten, das im vorigen Jahr bei der Münchner Biennale mit großem Erfolg uraufgeführt wurde. Spielarten zwischen szenischem Konzert und Musiktheater sind ebenfalls eine Spezialität des Festivals – in der Adaption einer Purcell-Arie ragte Sarah Nemtsovs „Orpheus falling“ durch die Originalität der Verschränkung von Klang und Inhalt hervor – fallende Gegenstände scheppern und klirren, doch ist es hier eine Tradition, die losgelassen werden soll. Nemtsov beeindruckte auch mit dem Ensemblestück „white wide eyes“, deren Videozuspiel fixierender, verfolgender oder ausgelöschter Blicke Klängen von aggressiver Gewalt entspricht – ein würdiger Gegenpol zu Georges Aperghis nicht minder packenden „Contretemps“ mit der vorzüglichen Sopranistin Sarah Maria Sun.

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