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Kurt Sanderling im Frühjahr 2011 mit dem Schostakowitsch-Preis Gohrisch im Garte
Kurt Sanderling im Frühjahr 2011 mit dem Schostakowitsch-Preis Gohrisch im Garte
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Das Leuchten einer Jahrhundertfigur

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Zum Tod des Dirigenten Kurt Sanderling
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Verliebte leuchten so. Oder Gotterfüllte. So, wie Kurt Sanderling leuchtete, je älter er wurde. Wissen, Erfahrung, Frieden strahlte er aus, wenn man sich in den letzten Jahren mit ihm unterhielt. Nach einigen Tassen starken Kaffees, den seine Frau Barbara – eine exzellente Kontrabassistin und Hochschullehrerin – nie versiegen ließ, konnte es sein, dass er mit großer Gelöstheit eine Melodie vor sich hin summte. Denn noch immer, auch Jahre nach seinem Rückzug vom Podium, lebte er in Musik, tummelte sich aus, wie er das nannte, in den Partituren jener Werke, die er mehr als sechzig Jahre lang dirigiert hatte und denen gegenüber er immer noch glaubte, gründlich lesend seine Schuld abtragen zu müssen.

Diese ungestörte Arbeit an der Kunst, ohne den Zwang einer Aufführung, machte ihn glücklich. Und dann leuchtete er. 

Als Sonne sah er sich wohl, denn an seinem 95. Geburtstag trat er im Berliner Konzerthaus auf die Bühne und paraphrasierte Nietzsche: Was wärest du, Sonne, ohne die, denen du leuchtest? Und Sanderling, der seinen Abschied als Dirigent da schon fünf Jahre hinter sich hatte, dankte den Massen im Saal für ihre Anhänglichkeit, die ihm beweise, dass er nicht umsonst gelebt habe.

Es ist ein Wunder, dass dieses Leben so lange währte, und ein Glück, dass es sich in einem versöhnten Leuchten erfüllte. Es hätte schon früher zu Ende sein können. Vielleicht im November 1941, auf dem Bahnhof von Alma-Ata in Kasachstan. Tagelang hatten Sanderling und seine erste Frau Nina, aus Moskau evakuiert, auf den Marmorfliesen übernachtet, stets früh um zwei mit Tritten aufgescheucht. Und da beschloss das Ehepaar, es sei nun Zeit für das Veronal. „Vom Frühjahr 1941 an hatte ich angefangen, Veronal zu horten“, ist in Sanderlings Interview-Autobiografie zu lesen. „Ich wollte auf keinen Fall den Nazis in die Hände fallen.“

Arbeit als Klavierbegleiter 

Aus dem Deutschen Reich war Sanderling 1935 ausgebürgert worden, ein Jahr später emigrierte er in die Sowjetunion, weil ihn dort ein Onkel aufnehmen konnte. Kurt Sanderling war Jude. Und jahrzehntelang litt er darunter. Schon im ostpreußischen Arys, wo er am 19. September 1912 zur Welt gekommen war, ließen ihn die Kinder spüren, dass er nicht war wie sie. An wirkliche Freunde von damals konnte er sich später nicht erinnern. In Berlin erlebte der Gymnasiast die große Zeit, da Wilhelm Furtwängler, Otto Klemperer, Erich Kleiber und Richard Strauss dirigierten. Doch zu dem Zeitpunkt, an dem er selbst als Dirigent hätte Erfahrungen sammeln wollen, hatten die Nationalsozialisten die Macht übernommen. Für den versierten Pianisten blieb nur die Arbeit als Klavierbegleiter im Jüdischen Kulturbund.

Mit der Emigration in die Sowjetunion nahm Sanderlings Dirigenten-Karriere ihren Anfang: Nach der Arbeit beim Moskauer Rundfunk kam er im Dezember 1941 zum bedeutendsten Orchester des Landes, den Leningrader Philharmonikern. Sanderling wurde Vize-Chef neben Jewgenij Mrawinskij und blieb es bis 1960. Ohne je eine systematische Ausbildung genossen zu haben, musste er sich das gesamte Repertoire von Bach bis Brahms erarbeiten und sich mit russischen Klassikern wie Borodin oder Glasunow vertraut machen, die in Deutschland keine große Rolle gespielt hatten.

Binnen weniger Jahre reifte Sanderling zu einem Großen des Fachs heran. Solisten wie Swjatoslaw Richter oder David Oistrach begannen, ihn Mrawinskij gegenüber zu bevorzugen, weil er ein sensibler Begleiter war. Es gibt eine Aufnahme von Beethovens viertem Klavierkonzert aus dem Jahr 1948, in der Sanderling und die Leningrader Philharmoniker mit einer unfassbaren Reaktionsdichte die Solistin Maria Judina tragen, die einen großzügigen Begriff von Taktfreiheit hatte. Noch Mitsuko Uchida und Hélène Grimaud haben in späten Jahren seine hohe Kunst des Begleitens genossen.

Sanderlings Ruhm wurde international, als er 1956 mit einer bis heute denkwürdigen Aufnahme von Tschaikowskys vierter Symphonie den Grand Prix du Disque gewann. Sie hält dem westlichen Tschaikowsky-Bild vom sentimentalen Hysteriker die Musik eines logischen Denkers und planvollen Erzählers entgegen. Und dabei wird Sanderling nie hart und eisig, wie es Mrawinskij und dessen Nachfolger Jurij Temirkanov manchmal passierte. Vielmehr ist hier Tschaikowsky als mitfühlender Klassizist zu hören, einer, der wie sein Vorbild Mozart Seele und Form zur Deckung bringen wollte.

Tragik und Beklemmung

Doch die künstlerisch bedeutendste Begegnung in der Sowjetunion war für Kurt Sanderling jene mit Dmitri Schostakowitsch. Als einen Vater und Chronisten des gemeinsamen Lebens hat der Dirigent den nur sechs Jahre älteren Komponisten immer empfunden. Und Sanderlings hintergründige Darstellungen von Tragik und Beklemmung in Schostakowitschs Musik haben auch deren Autor ergriffen. 

Der persönlichen Fürsprache von Schostakowitsch und dem Schauspieler Nikolaj Tscherkassow bei Stalin ist es zu verdanken, dass Sanderling 1952 nicht deportiert wurde. Diensteifrige, offenbar antisemitisch gesonnene Parteifunktionäre hatten in Leningrad seinen Namen schon auf die Liste der nächsten „Säuberung“ gesetzt. Dass man ab den siebziger Jahren im Westen langsam hinter die Fassade vom angeblichen Staatskomponisten Schostakowitsch zu hören begann, ist zu nicht geringem Teil Sanderlings Verdienst.

Man holte den Dirigenten 1960 in die DDR zum Berliner Sinfonie-Orchester, wo er ein strenger Chef wurde, der sogar in den Proben der Gastdirigenten zuhörte und die Arbeit der Musiker manchmal in Einzelgesprächen auswertete. Aber pünktlich zum 65. Geburtstag legte Sanderling sein Amt nieder und arbeitete als Gast vermehrt im westlichen Ausland. 

Eine erstaunliche Alterskarriere brach an und Aufnahmen entstanden, die zu den besten der Geschichte gehören: etwa die zweite Sinfonie von Sergej Rachmaninow, die niemand mit solcher Ruhe und Weitsicht dirigierte wie Kurt Sanderling beim Philharmonia Orchestra London. Als er am Pfingstsonntag 2002 im Berliner Konzerthaus mit Schumanns Vierter seine öffentliche Arbeit beendete, da galt er, von Daniel Barenboim und Simon Rattle hingerissen bewundert, als der letzte Titan: wie Günter Wand, Georg Solti und Sergiu Celibidache ein Kind des legendären Jahrgangs 1912. In fünf deutschen Staaten hat Kurt Sanderling gelebt; Helmut Kohl lud ihn ein, 1990 das offizielle Festkonzert zur Wiedervereinigung zu dirigieren. „Ich persönlich habe mich als Jude nie so frei gefühlt wie in der Bundesrepublik“, war seine Bilanz. 

Und sein Schicksal hat er am Ende als gnädig empfunden. Über ein Stück, das er besonders liebte, sagte der Vater dreier Dirigenten (Thomas, Stefan und Michael) noch im Herbst 2007: „Es ist einfach die unbelastete Seele, die aus der dritten Sinfonie von Sibelius spricht: Ja, die Welt ist schön, die Natur ist schön, das Leben ist schön!“ An diesem Leben nahm er so lange und so wach teil, wie es ihm nur möglich war. Auch als er in den letzten Jahren sein Haus in Berlin-Pankow kaum noch verlassen konnte, las er Zeitungen, hörte Radio, ging noch immer selbst ans Telefon und sah sich in der Digital Concert Hall über den Computer die Konzerte der Berliner Philharmoniker an. Noch im Mai nahm er persönlich den Schostakowitsch-Preis der neugegründeten Schostakowitsch-Tage Gohrisch entgegen. Am 18. September ist Kurt Sanderling, diese leuchtende Jahrhundertfigur, nur einen Tag vor seinem 99. Geburtstag in Berlin gestorben.  

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