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Der musikpädagogische Doppeldecker

Untertitel
Über ein grundlegendes Dilemma von Unterrichtssimulationen in Musik · Von Lars Oberhaus
Publikationsdatum
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Stellen Sie sich folgende Situation vor: ein Workshop für Musiklehrende zum Thema „Tanzen in der Schule“. Die Workshopleiterin führt zunächst mittels einer Fantasiereise in die Thematik ein. Nach einem Warm-Up folgt die Einstudierung der Choreographie. Abschließend wird die Gesamtperformance aufgeführt. Der Workshop endet mit dem Austeilen von Materialien (Übersicht über Schrittfolgen).Eine andere Situation: ein Musikseminar an einer Hochschule.

Thema ist „Didaktik der Filmmusik“. Die Studierenden schauen sich verschiedene Filmausschnitte an, lernen anhand arbeitsteiliger Gruppenarbeit grundlegende Verfahren und Funktionen von Filmmusik kennen, um diese dann zu präsentieren und anhand konkreter Beispiele zuzuordnen. Abschließend sollen kurze Leitmotive komponiert werden.

Was auf dem ersten Blick wie ein ganz normaler Workshop oder ein ganz normales Seminar aussieht, entpuppt sich bei näherer Betrachtung und didaktischer Perspektivierung als ein grundlegendes Problem der Vermittlung von Musik im Bereich der Erwachsenenbildung. Der Unterricht wird so gestaltet, dass (besser: als ob) Workshop-Teilnehmende beziehungsweise Studierende die Rolle der Schülerinnen und Schüler einnehmen, ohne dass sie sich dieser Rolle bewusst sind. In beiden Fällen wird Unterricht simuliert, um zu zeigen, wie „etwas“ in der Praxis aussehen könnte, ohne aber zu reflektieren, was die Didaktik der Praxis ist. Pointiert formuliert: Die Gestaltung des Workshops beziehungsweise Seminars erfolgt auf Basis einer Schulstunde, nicht aber auf Basis der Didaktik einer musikpädagogischen Fortbildung oder eines universitären Seminars. Um dieses zu gewährleis-ten, müsste den Teilnehmenden bewusst sein, dass Unterricht simuliert wird. Sie müssten wissen, wie es sich anfühlt, in einer bestimmten Situation zu sein, wie es ist, in die Rolle von Lehrenden und Lernenden zu schlüpfen. Sie sollten sich klar machen, was gerade aus methodisch-didaktischer Perspektive gelingt oder nicht gelingt.
Ausgehend von dieser Problematik ergeben sich drei Fragen:

  • Welche grundlegenden (musik-)didaktischen Zielsetzungen und Methoden liegen der Simulation von (Musik-)Unterricht zugrunde?
  • Warum wird Unterricht simuliert?
  • Gibt es Unterrichtssimulationen auch in anderen Fächern?

Vom Wissen zum Handeln

Unterrichtssimulationen bieten Lösungen an, um einen Transfer von Wissen zum Handeln zu gewährleisten. Oftmals wird Wissen (nur) rezeptiv angeeignet, so dass sich Fragen ergeben, wie dieses Wissen praktisch genutzt werden kann. Die einseitige Auseinandersetzung mit theoretischem Wissen hilft Lehrenden nicht, auf unvorhersehbare Begebenheiten zu reagieren, weil ihnen solche Situationen nicht bekannt sind und sie keine Erfahrungen besitzen, um auf sie zurück zu greifen. Es erscheint hilfreich, wenn sie sich in die Situation hineinversetzen, um die Praxisrelevanz theoretischer Konzeptionen am eigenen Leib zu erfahren. Die Simulation von Unterricht erinnert an den so genannten „pädagogischen Doppeldecker“, der eine Übersetzungshilfe zur Umsetzung erworbenen Wissens darstellt (vgl. Karlheinz A. Geißler: Lernen in Seminargruppen. Tübingen, DIFF Deutsches Institut für Fernstudien 1985).

Dabei werden die Lernenden beziehungsweise Teilnehmenden darauf aufmerksam gemacht, dass die Lehrperson jene Handlungen „vorlebt“, über die sie spricht. Damit ist der Auftrag verbunden, immer wieder die theoretischen Aussagen mit dem Erleben der Situation abzugleichen. Diese Grundform des pädagogischen Doppeldeckers wurde im Laufe der Zeit modifiziert, indem Lehrende sich zunächst Wissen theoretisch aneignen und dieses dann praktisch in fiktiven Situationen erproben und umgekehrt. Um bei dem Bild des Doppeldeckers zu bleiben: Eine Tragfläche wird mit der Kenntnis theoretischer Sachverhalte belegt, die andere mit deren fiktiver Erprobung, indem sich Lehrende in die Rolle der Schülerinnen und Schüler versetzen. Nur so kann sich das Flugzeug in ruhigem Flug fortbewegen und bleibt im Gleichgewicht. Letztlich basiert der pädagogische Doppeldecker auf einem Perspektivwechsel, der bewusst vollzogen werden muss. Auf der einen Seite geht es um praxisbezogenes Wissen, auf der anderen um wissensbezogene Praxis in Form simulierter Handlungszusammenhänge.

Auf den Punkt gebracht: Unterrichtssimulationen dienen dazu, dass sich Lehrende in die Situation hineinversetzen, um so spezifische – nicht in der Theorie thematisierte Potenziale und Grenzen – zu erkennen, die dann auch ihren eigenen Unterricht bzw. ihre Einstellungen beeinflussen. Es scheint aber so zu sein, dass diese Reflexion in vielen musikbezogenen Workshops und Seminaren, in denen Unterrichtssimulationen stattfinden, nicht realisiert wird.

In erster Linie Spaß haben

Ein Argument für die oft fehlende Reflexion von Unterrichtssimulationen basiert unter Umständen auf einer (ideologisch gefärbten) Selbstverständlichkeit, dass Workshops und Seminare „praktisch“ sein sollen. Insbesondere im Workshop-Bereich der Musikpädagogik gilt häufig unbewusst, dass diese abwechslungsreich sind und Spaß machen. Es ist kein Geheimnis, dass insbesondere klassenmusizierspezifische Angebote besonders gefragt sind, weil dort eben Praxis gemacht und die Qualität des Workshops nicht zuletzt auch an der Fülle der Handreichungen und Zusatzmaterialien gemessen wird. Dabei ist den Teilnehmenden aber nicht klar, dass diese Praxis eher einer vokalen oder instrumentalen Weiterbildung gleicht und weniger im Kontext schulpädagogischer Fragen steht.

Vor diesem Hintergrund besteht der Verdacht, dass Workshopteilnehmende oder Studierende – wenn sie in die Simulation versetzt werden – auch wie Schülerinnen und Schüler handeln sollen und behandelt werden. Und noch schlimmer: Sofern diesen erwachsenen Personen nicht klar ist, dass Wissen vermittelt wird, sind sie auf dem gleichen Wissenstand der potenziellen Schülerschaft; sie lernen die Inhalte des Workshops beziehungsweise des Seminars, aber nicht deren Vermittlung. Sicherlich ist das eine vom anderen nicht zu trennen, aber eine fehlende Reflexion könnte darauf schließen, dass es eher um eine Vermittlung der Inhalte geht, als um eine inhaltliche Vermittlung. Vor diesem Hintergrund hat Dirk Bechtel in Interviews mit Musiklehrkräften festgestellt, dass in Fortbildungen überwiegend musiziert wird und Überlegungen „auf einer Meta-Ebene zu […] dahinter stehenden musikdidaktischen Konzeptionen […] so gut wie keine Rolle“ spielen (Dirk Bechtel: Wie Lehrer lieber lernen. Eine qualitative Studie über die Rolle von Fortbildungen aus der Sicht von Musiklehrerinnen und -lehrern. In: Niels Knolle, Hg.: Evaluationsforschung in der Musikpädagogik. Essen, Die Blaue Eule, S. 182) Lehrkräfte (und Studierende) wollen in erster Linie Spaß haben, um diese Erfahrung dann auch an ihre Schülerinnen und Schüler weiterzugeben.

Schieflage

Im Hinblick auf die oben angeführten Beispiele ließe sich anführen, dass gar keine Simulationen, sondern vielmehr spezifische Methoden aus der Hochschuldidaktik beziehungsweise typische Umgangsweisen aus Workshops angewendet werden. Dieses Argument trifft am ehesten auf das Beispiel aus der Hochschule zu. Entscheidend für die Frage nach dem Stellenwert des pädagogischen Doppeldeckers ist allerdings weniger die Situation an sich als vielmehr die Einstellung und Sichtweise der Lehrenden, die den Workshop beziehungsweise das Seminar gestalten. Sofern eine Simulation (unbewusst) geplant und durchgeführt, diese aber nicht mitgeteilt wird, ergibt sich die Schieflage des pädagogischen Doppeldeckers. Sofern bewusst mit Methoden im Bereich der Hochschuldidaktik gearbeitet wird, steht die Frage nach der Simulation erst gar nicht zur Debatte.

Entscheidend scheint das Argument, dass die Simulation ein bewusstes Sich-Hineinversetzen voraussetzt, was seitens der Lehrperson als Methode gesteuert wird. Studierende argumentieren „aus der Rolle heraus“. Demnach wird hier ein spezifisches Verhalten einer bestimmten Lerngruppe mit eingeplant. Eine Simulation für eine Grundschulklasse verläuft anders als für eine Sekundarstufe, auch wenn sicherlich nicht erwartet werden kann, dass der pädagogische Doppeldecker durchweg aufrecht bleibt. Interessant und ergiebig sind solche Phasen, in denen die Möglichkeit besteht, aus der Simulation heraus zu treten, um entstandene Situationen zu reflektieren und Unterricht unter veränderter Perspektive erneut zu simulieren.

Ein Blick in verschiedene Fortbildungs- und Seminarveranstaltungen verdeutlicht, dass die Musikdidaktik eine Sonderrolle in der Durchführung von Fortbildungen oder der Konzeption von Seminaren besitzt. Zwar erschiene es skurril, wenn in einem Mathematikdidaktik-Workshop die Teilnehmenden mit elementaren Rechenfunktionen vertraut gemacht würden, aber auch im ästhetischen Kontext gibt es so gut wie keine pädagogischen Doppeldecker. Im Bereich Sport werden zwar sportpraktische Fortbildungen angeboten, hier sind aber Theorie und Praxis getrennt, und die Inhalte beziehen sich auf die „Interpretation leistungsdiagnostischer Daten und den Transfer für die Trainingspraxis“. Ein Großteil der Angebote kreisen um Qualitätskriterien für Angebote mit Bewegung, Spiel und Sport. Am ehesten lässt sich die Kunstvermittlung mit Unterrichtssimulationen in Bezug setzen, da Techniken erprobt werden. Letztlich erscheint aber hier die Gestaltung in einem größeren Kontext eingebunden, wenn es zum Beispiel um den „Aufbau eines Formenrepertoires“ geht.

Es lässt sich nicht anders sagen: Die Simulation musikbezogener Unterrichtsstunden ist in der fachdidaktischen Landschaft eine Ausnahme. Sie besitzt eine Sonderrolle und bleibt ein Schlupfloch, um bestimmte Trends in den Unterricht zu bringen, da ja nicht reflektiert wird, was gemacht wird. Der Transfer auf Unterricht erfolgt zu spät, nämlich erst bei der Frage, was derjenige, der den Workshop beziehungsweise das Seminar besucht hat, tatsächlich in seinem eigenen Unterricht umsetzen möchte; in diesem Zusammenhang kommt erstmals eine didaktische Perspektive in den Blick.

Auswege aus der Schieflage

Ein erster Ausweg basiert auf einer bewussten Thematisierung von Unterrichts-Simulationen (= Pädagogischer Doppeldecker), wie diese zum Beispiel im „Jungen Forum Musikunterricht“ angeboten werden. In diesen Workshops berichten Referendare aus ihrer Schulerfahrung, stellen „gelingende Stunden“ vor, probieren Teile mit den Anwesenden und reflektieren aus didaktischer Sicht über Stärken und Schwächen.

Ein zweiter Ausweg basiert auf der konsequenten Herausstellung der Bedeutung der Reflexion für didaktische Prozesse beziehungsweise Stundensimulationen. Dies bedeutet auch, dass die Musikpädagogik, gemeint sind hier insbesondere Fortbildungen in der Erwachsenenbildung, aber auch die Struktur von Hochschulseminaren, viel stärker die Reflexion von Unterricht beziehungsweise von Simulationen berücksichtigen müsste. Vor diesem Hintergrund ist es zu begrüßen, dass der diesjährige Bundeskongress Musikpädagogik unter dem Motto „Musik erleben – Musik reflektieren“ steht.
Ein dritter Ausweg scheint in einer deutlich stärkeren didaktischen Ausrichtung musikpraktischer Fachliteratur zu liegen. Ich denke hierbei zum Beispiel an die RAAbits- oder EinFach Musik-Reihe, deren ausführliche inhaltliche Gestaltung auch den Anspruch von Unterricht vor Augen führt. Seit den 2000er-Jahren hat sich auch in der Landschaft musikpädagogischer Zeitschriften eine Kopiervorlagenkultur etabliert, die auf dem vermeintlich rezeptartigen Funktionieren von Unterricht basiert und die Reflexion der Praxis vernachlässigt.

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