Hauptbild
Foto: Juan Martin Koch
Foto: Juan Martin Koch
Hauptrubrik
Banner Full-Size

Der Ruf ist besser als die Lage

Untertitel
Die Schwächen der deutschen Musikausbildung
Publikationsdatum
Body

Deutschland gilt weltweit als eine der führenden Musiknationen. Trotzdem gibt es strukturelle Defizite in unserem Musikleben, die dazu führen, dass einerseits viele Menschen den Weg zu eigener musikalischer Betätigung nicht finden und andererseits die Talentierten nicht optimal gefördert werden. Dies allein wäre noch keine besondere Neuigkeit. Viele Schwächen sind seit langem bekannt und werden in zahlreichen engagierten Projekten angegangen.

Im folgenden soll es im wesentlichen um die unzureichende Verbindung der Bereiche Musikschule (inkl. Privatmusikunterricht), allgemeinbildende Schule und Hochschule gehen. Mittlerweile gibt es zwar zahlreiche Beispiele für gelingende Kooperationen dieser Bereiche, aber die Entwicklung ist abhängig von den Ideen und dem Engagement einzelner Persönlichkeiten, eine durchgängige Struktur ist nicht vorhanden. Als eine wesentliche Ursache möchte ich die unterschiedlichen Zuständigkeiten benennen.

Kommunale und staatliche Ebene arbeiten weitgehend voneinander getrennt, selbst dort, wo gemeinsam finanziert wird. Bei der kulturellen Bildung tritt dieser Mangel besonders deutlich zu Tage und kann an der Frage „Woher kommen eigentlich die Studierenden an deutschen Musikhochschulen?“ exemplarisch durchgespielt werden. 

Musikschulen

Es ist heute allgemeiner Konsens, dass kommunale Musikschulen als wesentliche Aufgabe haben, junge Menschen an das Musizieren heranzuführen. Hier haben sich die Musikschulen in den letzten Jahrzehnten auch unbestritten große Verdienste erworben. Dies war einerseits programmatisch begründet, weil die Nachwuchsförderung Voraussetzung für jede Art lebendigen Musiklebens und mithin existentiell notwendig ist. Andererseits war die Ausweitung dieses Bereichs aus finanziellen Gründen mindestens genauso bedeutsam, weil Früherziehung und Grundausbildung weniger kostenintensiv sind und die Musikschulen durch den Ausbau dieser Bereiche oft schlicht ihre Existenz gesichert haben. Viele künstlerisch hochqualifizierte Musikschulpädagogen haben dies akzeptiert, weil es damit auch ihren Lebensunterhalt sicherte, selbst wenn sie auf diese Art der Tätigkeit oftmals nicht hinreichend vorbereitet waren.

Im Jahr 2008 besuchten rund 930.000 Kinder und Jugendliche die kommunalen Musikschulen. Einige Hunderttausend mögen dazu kommen, die an den kirchlichen und privaten Musikschulen sowie im Privatunterricht unterrichtet werden. Bei bundesweit circa 12,6 Millionen Kindern und Jugendlichen in Kindergarten und Ausbildung liegt der Anteil der jungen Menschen in musikalischer Ausbildung damit bei unter zehn Prozent. Den weit überwiegenden Teil der jungen Generation erreichen die Musikschulen also gar nicht, obwohl in den letzten Jahren gerade der Elementarbereich deutlich gewachsen ist. Eine Ursache dafür liegt darin, dass Musikschulen als freiwillige Angebotsschulen existieren und die Musikerziehung der allgemeinbildenden Schulen eine Instrumentalausbildung als Bestandteil einer ganzheitlich verstandenen schulischen Ausbildung in der Regel nicht kennt.

Wenn aber nur knapp zehn Prozent der jungen Menschen eine musikalische Ausbildung erhalten, so müsste in diesem Segment auch der Anteil der künftigen professionellen Musiker enthalten sein. An Musikschulen werden in der Altersgruppe der 15- bis 18-jährigen circa 122.000 Schüler unterrichtet, davon erhalten circa 13.000 zusätzlichen Unterricht in Musiktheorie, was auf den Anteil der besonders Begabten/Motivierten schließen lässt. Eine Aussage, wie viele von ihnen ein Musikstudium anstreben, lassen diese Zahlen aber nicht zu. Im Strukturplan des Verbandes Deutscher Musikschulen taucht „Studienvorbereitung“ als Begriff zwar auf, aber nur wenige Musikschulen sind in der Lage, eine umfassende und qualitätvolle Spitzenförderung mit dem Ziel Musikhochschule zu realisieren. Die Zahl derer, die aus der Musikschule heraus jährlich ein Musikstudium anstreben, dürfte nicht einmal vierstellig sein.

Ein Teil kommt sicherlich auch aus dem (in der Regel allein vom Elternhaus finanzierten) Privatunterricht – Musikstudenten, Orchestermusiker und Professoren geben oftmals nebenberuflich Privatunterricht und tragen so zu qualifiziertem Nachwuchs bei. Die Hochschulen engagieren sich zudem mittlerweile selbst in der Frühförderung: Pre-Colleges, Institute für Hochbegabte Frühstudierende und dergleichen wollen zu einer Reduzierung der vorhandenen Defizite beitragen. Hier ist durchaus einiges in Bewegung gekommen.

Allgemein bildende Schulen

Die allgemeinbildenden Schulen bereiten nicht auf ein Studium an einer Musikhochschule vor. Instrumentalunterricht gehört in der Regel nicht zum Auftrag der allgemeinbildenden Schulen. Aus den Gymnasien ist lediglich bekannt, dass in (im G 9 noch vorhandenen) Musikleistungskursen im Jahr 2005 insgesamt rund 11.000 Schülerinnen und Schüler unterrichtet wurden, Instrumentalunterricht gehört aber auch hier nicht zu den Lehrinhalten. Lediglich an den musischen Gymnasien (sowie in wenigen Pilotprojekten an Haupt- und Realschulen) wird in begrenztem Umfang kostenloser Instrumentalunterricht erteilt. Mit der Entwicklung hin zur Ganztagsschule sind in den letzten Jahren verstärkt Modelle wie zum Beispiel Bläserklassen, Klassenmusizieren, JeKi hinzugekommen. Diese Erweiterung des Bildungsauftrages war notwendig und überfällig, aber mit dem Abitur allein kann niemand die Eignungsprüfung an einer Musikhochschule bestehen.

Musikhochschulen und Universitäten (Fachhochschulen, Konservatorien), die für die Musikberufe (Künstler, Pädagogen, Wissenschaftler) ausbilden, nehmen jährlich über 3.000 junge Menschen auf. Wenn aber Musikschulen und allgemeinbildende Schulen nur in relativ geringem Umfang auf ein Musikstudium vorbereiten, stellt sich die Frage, woher die Bewerber eigentlich kommen. Leider weisen die verfügbaren Statistiken keine Zahlen bezüglich der Vorbildung der Bewerber an Musikhochschulen aus. Weder Schulen noch Musikschulen oder auch die Hochschulen ermitteln diese Zahlen. Wie soll aber die Leistungsfähigkeit der voruniversitären Ausbildung bewertet werden, wenn der wichtigste Indikator, nämlich die Anzahl derer, die anschließend ein Musikstudium aufnehmen, nicht bekannt ist? Wie soll andererseits die Qualität der Hochschulausbildung bewertet werden, wenn die Bildungsvoraussetzungen bei den Eignungsprüfungen beziehungsweise bei Aufnahme eines Studiums äußerst heterogen und oft nicht vergleichbar sind?

Missverhältnis universitäre – vor-universitäre Musikausbildung

Einige Zahlen sollen die Diskrepanz zwischen schulischer und universitärer Musikausbildung verdeutlichen: Etwa 23.000 Musikstudierende waren im Studienjahr 2007/08 an Deutschlands Musikhochschulen, Universitäten, Fachhochschulen, Konservatorien und Kirchenmusikhochschulen eingeschrieben. Etwa 13.000 Euro kostet ein Studienplatz an einer Musikhochschule jährlich. Bei acht Semestern kommt so ein Betrag von circa 52.000 Euro zusammen. Die Bundesländer wenden also jährlich circa 300 Millionen Euro zur Finanzierung der Musikhochschulen, Universitäten (Fachbereiche Musik) und sonstiger Einrichtungen (ohne Kirchenmusikhochschulen) auf.

Dem gegenüber stehen circa 70 Millionen Euro, die die Bundesländer (ohne Kommunen) zur Finanzierung der öffentlichen Musikschulen aufwenden. Dort werden circa 930.000 Schüler (2008) unterrichtet. Dies entspricht einer Förderung von circa 76 Euro je Schüler und Jahr und einem Anteil von circa 10 Porzent an den Gesamtkosten. Bis zu 50 Prozent der Kosten tragen die Eltern, den Rest die Kommunen.

Dieses Missverhältnis zeigt auf, wie unüberlegt die Kultur- und Bildungspolitik unseres Landes an dieser Stelle handelt. Durch die Trennung der Zuständigkeiten auf kommunale und Landesebene findet kulturelle Bildung auf zwei voneinander völlig getrennten Ebenen statt.

Lehrkräfte an Musikschulen werden nicht vom Staat, sondern von den Kommunen angestellt, sie werden deutlich geringer vergütet als ihre Kollegen an allgemeinbildenden Schulen, sie müssen mehr unterrichten, Aufstiegs- oder auch Wechselmöglichkeiten in den Hochschulbereich sind nicht vorhanden und so weiter. Während der Staat aber die Musikhochschulen voll finanziert, lehnt er eine Zuständigkeit für die Ausbildung, die erst einen Zugang an die Musikhochschulen erlaubt, ab. Die Landesregierungen wollen aus Angst vor dem drohenden Finanzbedarf diese Zusammenhänge nicht erkennen. Die musikalische Erstausbildung soll eine örtliche Angelegenheit bleiben: „Musikschulen sind kommunale Aufgabe.“ Wenn aber die deutsche voruniversitäre Musikausbildung nicht in der Lage ist, den Bedarf an qualifizierten Hochschulzugängern zu decken, müssen folglich Bewerber aus dem Ausland rekrutiert werden und/oder werden Bewerber aus dem Inland aufgenommen, die die Anforderungen nur bedingt erfüllen.

Moderne Internationalität oder Bildungsversagen?

Insgesamt liegt an den Musikhochschulen der Anteil der Studierenden aus dem Ausland bei circa 30 Prozent. Lässt man aber die musikpädagogischen Studiengänge außer Acht, steigt der Anteil auf 60 Prozent. Gewandte Kulturpolitiker wenden dies kurzerhand ins Positive, erklären, dass die Internationalität an den Musikhochschulen Ausweis der besonderen Qualität deutscher Musikhochschulen sei und verweisen stolz auf die weltoffene Hochschule. Dass dies, freundlich formuliert, nur die halbe Wahrheit ist, kommt indirekt in der Formulierung im Schlussbericht der Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ zum Ausdruck: „Die Enquete-Kommission empfiehlt den Ländern, Hochschulen und Universitäten, angesichts der wachsenden Nachfrage aus der ganzen Welt sicherzustellen, dass auch die entsprechend qualifizierten Bewerber im künstlerischen Bereich aus Deutschland ausreichend Berücksichtigung finden.“ Das klingt recht hilflos und bleibt vor allem eine Erklärung für diese Entwicklung schuldig, wie im übrigen auch die Ausführungen des Berichts zu den Kunst- und Musikhochschulen mit gerade einmal 7 Seiten (von insgesamt über 700) unangemessen kurz und blutleer bleiben.

Immer mehr Künstler bei immer weniger Stellen

Die zunehmende Internationalisierung der Musikhochschulen führt zu weiteren Entwicklungen: Die Anzahl der Studierenden in musikpädagogischen Fächern ist von circa 9.500 (Studienjahr 1998/99) auf circa 7.500 (Studienjahr 2007/08) gefallen, die Zahl der Studierenden in den künstlerischen Fächern im gleichen Zeitraum von circa 10.280 auf circa 11.000 gestiegen. Gleichzeitig sind die Stellen in den deutschen Orchestern von circa 12.000 auf circirca 10.000 zurückgegangen, die Anzahl der Orchester von 168 auf 132. Mit anderen Worten: Jährlich circa 2.000 Absolventen in den künstlerischen Fächern stehen etwa 150 freien Stellen in den Orchestern gegenüber. Längst nicht alle finden eine Stelle im Ausland, denn ohnehin gibt es nirgends mehr Orchester als in Deutschland, auch wird nur ein kleiner Teil eine Solokarriere schaffen, bleibt also den meisten nur, um die wenigen frei werdenden Stellen zu konkurrieren beziehungsweise sich durch kleine und kleinste Lehraufträge an Musikschulen, durch Privatstunden und durch gelegentliche Auftritte über Wasser zu halten.

Die Vakanzen im Bereich der Musikschulen werden leider nicht ermittelt und der Bedarf an Schulmusikern ist zumindest nicht rückläufig, sogar eher steigend.

Was wir brauchen

  • Eine wesentlich besser finanzierte und wesentlich breiter zugängliche musikalische Grundausbildung durch Zusammenwirken von Schule, Musikschule und Hochschule bei wesentlich stärkerer finanzieller und konzeptioneller Mitwirkung der Länder. Die Ministerien für Kultus und Kultur der Länder sind gefordert: Wo die Zuständigkeiten auf zwei Ressorts verteilt sind, muss erkannt werden, dass musikalische Ausbildung nur gelingen kann, wenn Schule, Musikschule und Hochschule zusammenwirken. Die Kommunen wirken in der Bildungsfinanzierung mit, so wie sie auch im Bereich der allgemeinbildenden Schulen durch Finanzierung des sächlichen Aufwands (für Gebäude, Ausstattung etc.) mitwirken, aber sie können nicht anstelle der Bundesländer die kulturelle Bildungspolitik maßgeblich definieren. Wo bleibt schließlich die gestaltende Kraft der Kultusministerkonferenz (mit einer Anregung zu einer Initiative musikalischer Bildung an die Adresse der Musikhochschulen ist es nicht getan)? Von Chancengleichheit und Teilhabe für alle kann bei der kulturellen Bildung längst nicht gesprochen werden. Bislang liegen die programmatischen Defizite vor allem auf der Ebene der Bundesländer. Zwar gibt es mittlerweile einige Aktionsprogramme zur „Musikalisierung“ der Jüngsten (JeKi in NRW, Musikland Niedersachsen u.a.), aber eine Antwort, wie in Deutschland die Spitzenförderung zu verbessern wäre, bleiben diese populären Ansätze schuldig. Bildung ist eine hoheitliche und damit staatliche Aufgabe. Die Länder müssten sich der Musikschulfinanzierung in ganz anderer Weise annehmen, als das bisher geschieht. Es ist bezeichnend und bewundernswert, wie es beispielsweise in Venezuela gelungen ist, mit einer Jugendmusikbewegung international Furore zu machen und im Vergleich dazu „Kulturnationen“ wie Deutschland weit in den Schatten zu stellen.
  • Eine wesentlich verbesserte Eliteförderung vor dem Hochschulzugang. In der ehemaligen DDR sind einige Musikgymnasien entstanden – dieses System war beeinflusst durch ein System der Musikförderung, das in Ländern Osteuropas schon lange etabliert war. Frühere Versuche, in den westlichen Bundesländern Angebote für Jungstudierende beziehungsweise Hochbegabte zu entwickeln, blieben halbherzig oder scheuten die Internatslösung (Ausnahme: die großen Knabenchöre). Ernsthafte Versuche, im Westen Musikgymnasien nach dem Vorbild Weimars, Berlins oder Dresdens zu etablieren, sind auch heute kaum vorhanden. Einerseits lehnt man die damit einhergehende vermeintliche Elitebildung ab, andererseits kennt man eventuell gar nicht die Voraussetzungen für ein gelingendes Modell wie zum Beispiel in Weimar. Ein Blick auf die Struktur der Sportförderung könnte da Anregungen geben: Hier gibt es zahlreiche Sportgymnasien, die gezielt auf eine professionelle Sportlerkarriere vorbereiten und als sogenannte „Eliteschulen des Sports“ zugleich im kooperativen Verbund von Leistungssport, Schule und Wohnen Bedingungen für talentierte Nachwuchsathleten gewährleisten, die sich so auf künftige Spitzenleistungen im Sport bei Wahrung ihrer schulischen Bildungschancen vorbereiten können. Es fehlen in Deutschland circa sechs bis sieben Musikgymnasien (für den Süden, Westen, Norden) à la Weimar. Die Absolventen dieser Schulen wären weit besser auf die besonderen Anforderungen eines Musikstudiums, beziehungsweise des Musikberufs, vorbereitet. Diese Einrichtungen könnten flächendeckend große Ausstrahlung entfalten und würden das Niveau der Ausbildung in Deutschland insgesamt steigern.
  • Regionale Zentren der Begabtenförderung (im Sinne von Arbeitsgemeinschaften, die mit individuellen Angeboten eine bestmögliche Ausbildung, gerade auch im ländlichen Raum, gewährleisten können), die die Vernetzung von Schulen, Musikschulen und Hochschulen institutionalisieren, Talente identifizieren und optimal fördern können. Die professionellen Theater und Orchester wären einzubeziehen, ebenso wie die Regional- beziehungsweise Landesausschüsse von Jugend Musiziert und die freiberuflichen Musiker und Musikpädagogen.

In Zeiten einer Finanzkrise (war für die Kultur nicht eigentlich immer Krise?) mögen diese Vorschläge unrealistisch scheinen, die Zukunftsfähigkeit der Kulturnation Deutschland wird sich aber an der Frage messen lassen müssen, welche Möglichkeiten sie der nachwachsenden Generation bereithält. Das ist unsere Pflicht und Verpflichtung, gewiss nicht freiwillige Leistung oder gar verzichtbarer Luxus.

Muchtar Al Ghusain (Der Autor ist Kulturreferent der Stadt Würzburg)

Quellen

 

Weiterlesen mit nmz+

Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.

 

Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50

oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.

Ihr Account wird sofort freigeschaltet!