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Tobias PM Schneid, fotografiert von seinem Sohn Simon Emanuel
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Die Entdeckung der Gleichzeitigkeit

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Der Komponist Tobias PM Schneid im Porträt
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Gegen 18 Uhr ist die Aufnahmesitzung im Studio des Deutschlandfunk am Raderberggürtel beendet. Seit 10.30 Uhr haben die Mitglieder der musikfabrik nrw Ensemblestücke von Tobias PM Schneid gespielt – rasende 1/16 Läufe wechselten mit extrem langsamen Passagen, an der Grenze der Dirigierbarkeit. Konzentrierte Arbeit für alle Beteiligten, den anwesenden Komponisten, der vom Können der musikfabrik nrw begeistert ist und der gerade deshalb immer noch eine Idee hat, wie es besser klingen könnte, eingeschlossen. In vier Produktionstagen entsteht die Einspielung von sechs Ensemblemusiken für eine Porträt-CD des Deutschen Musikrates über Tobias PM Schneid. Anlass für ein ausführliches Gespräch mit dem Komponisten.

„Ständig umgibt einen Geschichte“ – dieser Situation sieht der Komponist Tobias PM Schneid sich nicht nur ausgesetzt, wenn er, der im beschaulichen Neuburg an der Donau lebt, im Schatten des Doms durch die Kölner Altstadt zum WDR-Funkhaus geht. Er sieht den Weg als Bild für seine Situation als Komponist: „Die Gleichzeitigkeit der Zeitalter ist einer der Gründe, warum in meiner Musik – vom Material her betrachtet – ganz disparate Momente stattfinden – Geräuschhaftes neben Dur-Dreiklängen.“

Schneid wird genauer: „Ich lebe in einer Welt, die den gleichzeitigen Ablauf von verschiedenen Ebenen voraussetzt, auch akustisch. Diese komplexe Simultaneität findet sich in vielen meiner Stücke wieder, in der Idee unterschiedlich verlaufender Zeitebenen – innerhalb einer Partitur mit Standardmitteln notiert und so durch den Dirigenten steuerbar.“

Komponieren hat für Tobias PM Schneid etwas mit Lebensauffassung zu tun – und mit Emotion. Nicht ohne Grund greift Schneid das Rihmsche Diktum von „Ich will bewegen und ich will bewegt werden“ auf, indem er sagt: „Ich will berühren und ich will berührt werden.“ Das Neue in der Musik findet sich bei Schneid nicht im Material, es entsteht im Umgang des Komponisten mit diesem. Ein gutes Beispiel hierfür ist das eingangs erwähnte „umbrellas & sewing machines“ (UA Mai 2000), dessen Titel sich aus einem Schauspiel André Bretons ableitet. Das musikalische Material sammelte Schneid innerhalb von 39 Tagen, täglich von 10 bis 13 Uhr jeden musikalischen Einfall notierend: darunter Jazzphrasen, Klänge, Melodien, harmonische Progressionen. Das so aus dem Unterbewusstsein automatisiert hervorgehobene Material unterwarf er anschließend dem Kompositionsprozess, in dessen Verlauf er sich die Aufgabe stellte nach Verbindungen zwischen den musikalischen Welten zu suchen. Es entstand eine Textur, die von starken Kontrasten lebt, mal getrieben und gehetzt, dann unvermittelt still, introvertiert. „Es ist Hochgeschwindigkeitsmusik und dann kommt unvermittelt ein Schlag, ein Stopp und es geht in eine Musik über, die genau das Gegenteil ist. Extrem langsame Musik. So läuft auch unser Leben ab.“

Das Leben stand auch Pate bei Schneids einzigem Musiktheaterstück „Swin Swin“(UA 1997, Saarbrücken) nach einem Libretto von Matthias Kaiser über die authentische Geschichte zweier Zwillingsschwestern, die ein völlig von der Außenwelt abgeschlossenes Leben führen und sich in einer eigenen Sprache unterhalten. Den Klang dieser Fantasiesprache macht Schneid lebendig, vor allem aber den Kosmos ihrer seelischen Welt. Auch hier arbeitet er mit unterschiedlichen Zeitebenen. Handlung, Sprache und Musik sind kunstvoll verschränkt und bleiben doch eigenständig.

Geboren 1963 in Rehau/Hof, erhielt Schneid privaten Klavierunterricht und erarbeitete sich gemeinsam mit seiner Schwester ein umfangreiches vierhändiges Repertoire. Von 1985 bis 1992 studierte Tobias PM Schneid Komposition bei Bertold Hummel und Heinz Winbeck an der Musikhochschule in Würzburg; 1994 schloss er sein Studium dort mit dem Meisterklassendiplom ab. Heute lebt Tobias PM Schneid mit seiner Familie in Neuburg/Donau und ist neben seiner Kompositionstätigkeit ein Dozent verschiedener Kurse für Komposition und Analyse. Seit 1997 lehrt er Tonsatz am Konservatorium beziehungsweise der Musikhochschule Würzburg. Tobias PM Schneids musikalisches Schaffen wurde mit zahlreichen Preisen bedacht. Er war Preisträger des WDR-Kompositionswettbewerbs „Forum junger Komponisten 1989“, beim von Claudio Abbado initiierten 1. Wiener Kompositionswettbewerb 1990 wurde ihm durch die prominent besetzte Jury (Berio, Ligeti, Rihm und anderen) der erste Preis zuerkannt; im Jahre 1995 war Schneid einziger Preisträger des 1. Internationalen Angelo Commneno Kompositionswettbewerbs in Rom und in den Jahren 1990 und 1994 gewann er den Kompositions- und Publikumspreis der Sommerlichen Musiktage Hitzacker.

Nach mehrfachen Stipendienaufenthalten in Paris wurde Schneid im Jahre 1996 zum „composer in residence“ der Universität Manchester ernannt. Aus dieser Zeit stammen wichtige Einflüsse durch intensive Auseinandersetzung mit zeitgenössischer englischer Musik und durch den Austausch mit bedeutenden britischen Komponisten und Musikern. Schneid sucht das Neue in der Musik an einem unerwarteten Ort: im Vorhandenen. Und er wird fündig. Zu seinen wichtigen Einflüssen zählt er nicht nur Franz Schubert, Gustav Mahler, Maurice Ravel, B.A. Zimmermann, Luciano Berio und György Ligeti, sondern auch Miles Davis, Thelonious Monk und Jimi Hendrix. Oder John Coltrane, von dem er sich zu „Vertical Horizon I“ inspirieren ließ, einem Stück für Klarinette solo (1997/1999), das erste einer Reihe von Werken für Soloinstrumente. Schneid bringt hier die Vertikale, also den Klang in einen zeitlichen Verlauf. Aberwitzig schnell gespielte Skalen und Arpeggien sind gedanklich den Soundclustern Coltranes verwandt. Schnelle, repetitive Sprünge zwischen den Registern schaffen eine latente Zweistimmigkeit. Ein Virtuosenstück voller klanglicher Intensität, inspiriert gespielt von Carl Rosman auf der neuen Wergo-CD. Weitere Solowerke von Schneid sind „Cathedral I-III a Farewell to Bertold Hummel“ und „What a wonderful world, Mr. Armstrong?“ (beide für Klavier) sowie für Flöte „Vertical Horizon II“.

Virtuosität und Klangwirkung sind beides Komponenten, die auch in dem Stück gefragt sind, an dem er gerade arbeitet: Der ARD Musikwettbewerb beauftragte Schneid für das Jahr 2007 ein Pflichtstück für das Fach Klaviertrio zu komponieren. Weitere aktuelle Nachrichten: Kürzlich wählte die nationale Jury der Gesellschaft für Neue Musik (GNM) die Stücke „prelude I: harmonic encounters“ und „weird scenes inside the mirror cages I“, zusammengefasst unter dem Titel „Two Movements“, als offiziellen Beitrag zu den Weltmusiktagen 2006 in Stuttgart aus. Und noch ein Auftrag liegt auf dem Schreibtisch: Ein Cellokonzert fürs Bundesjugendorchester und den Solisten Alban Gerhardt, das nächsten Sommer während des young euro classic-Festivals in Berlin uraufgeführt wird.

Gegen Etiketten wehrt Schneid sich vehement: Patchworkmusik, tonale Musik, Crossover, Musik über Musik, Programmmusik – in keine dieser Schubladen will er sich stecken lassen. Dennoch legt der Komponist freimütig offen, dass seine Werktitel kleine, abgeschlossene, rätselhafte Geschichten sind, die biographisches Material enthalten. „Wenn jemand einen Titel hört wie, ,The Lonely Monk’s reflections…‘: Vielleicht weiß er dann, dass Thelonious Monk wegen seiner Alleinstellung auch ‚The Lonely Monk‘ genannt wurde. Doch auch ohne Monk zu kennen, hat der Titel eine wörtliche Bedeutung: Reflektionen eines einsamem Mönchs.“ Assoziationsbereiche werden geöffnet: „Ich höre den ,Lonely Monk‘ und bin enttäuscht, wenn keine Thelonious-Monk-Zitate auftauchen, aber vielleicht merke ich plötzlich, dass gerade in diesem Stück die Quinte wichtig ist, dass bestimmte Jazzanleihen wichtig sind…“

Schneid stellte dieses von Monks sperriger Pianistik durchpulstes und in Monks Melancholie getränkte Stück an den Schluss der neuen CD. Die Einsamkeit von Thelonious Monk, im künstlerischen wie im menschlichen, ist für Schneid eine Metapher für das Dasein. „Diese existenzielle Grundbefindlichkeit taucht in den Werktiteln und in meiner Musik immer wieder auf.“

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