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Die Situation der Chormusik heute

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Zur gesellschaftlichen Bedeutung des Singens &#183
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„Singen ist das Fundament zur Music in allen Dingen” – schreibt Georg Philipp Telemann 1718, zu einer Zeit also, als die Emanzipation der Instrumentalmusik in vollem Gange war. Vokalmusik, gar a cappella, war Musik von gestern, galt als der „Alte Stil”. Die Zukunft aber galt der Instrumentalmusik, gewissermaßen als Universalsprache. Telemann, selbst an diesem Prozess maßgeblich beteiligt, muss dennoch geahnt haben, wohin der Verlust des Singens schlechthin führen könnte, nämlich zur Aufgabe der Basis für alle Musik. Sein Plädoyer für das Singen als Fundamentum sollte uns heute nachdenken lassen, über die Bedeutung des Singens in unserer Gesellschaft.

Wir fragen: Ist es naiv oder gar größenwahnsinnig angesichts der Globalisierung, von vielfältigen Problemen der Mensch- heit, dem Singen eine wichtige Rolle zuzumessen? Reicht nicht für die Lösung der Probleme die Steigerung der kognitiven Kompetenz?

Zugegeben: die PISA-Studie benennt Defizite. Und es ist richtig, diese Defizite zu minimieren. Aber – und das ist fatal – der musischen Kompetenz wird kaum ein Wort gewidmet. Das Musische schlechthin mit seiner Idee der ganzheitlichen, ausgeglichenen und harmonischen Bildung und Ausbildung des Menschen trägt gehörig zur Lösung komplexer Probleme und Fragen bei. Es ergänzt und relativiert die kognitiven Wahrheiten mit Bereichen wie Übung des Empfindens, des Hörens, also der Sensibilisierung der Wahrnehmungen, des Gefühls für Zeit und Rhythmus, für Klang, Harmonie und Disharmonie.

Wo aber fängt das Musische also an? Wo entfaltete sie sich zuerst? Beim Singen!

„Singen ist das Fundament“ – nicht nur zur Musik, sondern zu und in allen Dingen! Singen gehört zum Menschen. Schon beim Embryo sind noch vor den Ohren die Stimmbänder ausgebildet. Das Singen der werdenden Mutter wird vom Embryo ganz stark emotional erlebt. Die mütterliche Stimme, ihr Singen prägt auch nachhaltig in den ersten Lebensmonaten. Hier wird zum physischen und psychischen Wohlbefinden von Anfang an beigetragen. Doch wie viele junge Mütter begleiten das Kleine, wenn es selbst anfängt zu lallen, singen gemeinsam mit ihm? Welche Kindergärtner/-innen haben noch ein kindgemäßes Repertoire an Liedern und die Fähigkeit, mit ihrer Gruppe zu singen? Eine Untersuchung spricht von lediglich 10 Prozent aller Kindergartenkinder, die singen können. Wie sieht es in den ersten Schuljahren mit dem Singen aus? Hier ist ein erhebliches Defizit zu beklagen. Dabei ist Singen wesentlich geeignet, zur Persönlichkeitswerdung unserer Kinder beizutragen. Ernst Waldemar Weber berichtet:
„Über vier Jahre bekamen 50 Klassen verschiedener weiterführender Schulen fünf statt zwei Stunden Musik. Die drei Zusatzstunden wurden von den Hauptfächern Deutsch, Mathematik und der ersten Fremdsprache abgezogen. Die Auswertung ergab, dass die Schüler keine Leistungseinbußen in den Hauptfächern zeigten und dass der zusätzliche Musikunterricht deutliche Auswirkungen auf Lebensfreude, Selbstbewusstsein und Sozialverhalten hatte.” Und ähnliches hat Hans-Günther Bastian mit der Langzeitstudie „Musik(erziehung) und ihre Wirkung“ belegt. Musik und speziell Singen fördern die Kreativität, Verantwortungsbereitschaft und -fähigkeit, Kritikbereitschaft und Kritikfähigkeit, Teamfähigkeit und Sozialkompetenz. Alles wesentliche Kriterien, um die kognitive Kompetenz sinnvoll zu ergänzen, sie um eine affektive Dimension zu erweitern. Übrigens: In der PISA-Studie, die wesentlich mathematische und naturwissenschaftliche Kenntnisse und Fähigkeiten untersucht, landet das traditionelle Singeland Finnland auf Platz EINS! Etwa Zufall?

„Singen ist das Fundament zur Music in allen Dingen!”. Hat Theodor Adorno gewollt, was wir heute beklagen, nämlich das Verstummen und Verklingen des Singens in der Alltagskultur, als er 1958 in der „Kritik des Musikanten“ zuspitzte: „Nirgends steht geschrieben, dass Singen Not sei.“ Er hatte dabei sowohl den Missbrauch gemeinschaftlichen Singens im Nationalsozialismus (und hätte wohl heute allen Grund, wenn er die Grölerei der rechten Szenen vernähme) als auch die Chorliteratur und die Kompositionshaltung der 50-er Jahre im Visier. Sie waren Adornos Zielscheibe, weil ohne Reflexion und kritische Einsicht an die Zielsetzungen und Grundsätze der Jugendmusik- und Singbewegung angeknüpft wurde. Dass Adornos Satz fortsetzt: „Zu fragen ist, was gesungen wird, wie und in welchem Ambiente“ – ist dabei seltener zitiert und dabei doch ganz wesentlich für die Relativierung der vorherigen Aussage. Aber, das unselige „Singen täte nicht Not“, Singen sei also unnötig – dieser Satz hat eine Gesellschaft verändert. Singen als Kultur des Alltags, als Fundament der Musik, als Bereicherung der emotionalen und intellektuellen Qualität des Menschseins, als leibliche und seelische Wohltat, als Basis für die aktive Beschäftigung mit Musik, als auch günstigenfalls stringente Hinführung zur Gemeinschaft im Chor, war von nun an kaum noch gesellschaftsfähig. Einige Generationen haben Singen als Inbegriff des authentischen emotionalen Ausdrucks, in dem der ganze Mensch – Seele, Geist, Körper – zum Tönen kommt, nicht erlebt, haben es ersetzt durch die ständige Verfügbarkeit von Musik aller Spielarten in den Medien, auf Tonträgern. Dem schleichenden Zerfall einer Alltagskultur des Singens muss jetzt, heute entgegengewirkt werden.

Also gilt es, das Fundament erneut zu legen, die Breitenarbeit in Bezug auf das Alltagssingen zu fördern, denn ohne sie gäbe es nicht die Spitzenarbeit, die sich in den vielfältigsten Facetten zeigt. Musikalische Hochkultur verlöre ihre Basis, Chöre blieben auf der Strecke. Denn ohne Kinderchor, Schulchor, dem jungen Erwachsenenchor dünnte die reichhaltige Chorlandschaft unseres Landes aus. Zwar finden sich rund 750.000 Menschen in Deutschland singend in Chören zusammen, das sind aber nur etwa zwei Prozent der erwachsenen Bevölkerung. Chöre aber sind besonders geeignet, die singenden Menschen mit ihresgleichen zusammenzuführen. Hier ist der Einzelne gleichermaßen Interpret und Rezipient. Im Chorsingen erfährt er Gemeinschaftsbildung, soziale Integration und Persönlichkeitsentfaltung. Chorsingen schult das Hin-Hören und das Zu-Hören.

„Singen ist das Fundament zur Music in allen Dingen.“ Doch was singen und in welchem Ambiente, um noch einmal mit Adorno zu fragen. Wir beobachten seit etwa fünfzehn, zwanzig Jahren eine deutliche Spezialisierung der interpretierenden Chöre im Zusammenhang mit dem Begriff „Historische Aufführungspraxis“ für die frühe Mehrstimmigkeit bis hin zur Barockmusik einerseits und eine Spezialisierung zum Ensemble für zeitgenössische Musik andererseits. Während dort eine relative Breite existiert, kann man hier die Ensembles an einer Hand abzählen. Was aber ist für die Chorszene interessant geworden? Da ist zu einem die erstaunliche Hinwendung zur Chormusik des 19. Jahrhunderts und ihren Nachklängen im 20. Jahrhundert zu nennen. Verluste gibt es bei der Chormusik, die noch bis in die 70erJahre zum Goldenen Fonds gehörte, Musik, die durch Jugendmusik und Singbewegung der 20er-, 30er-Jahre gespeist wurde und dort fast ohne Brüche anknüpft. Nicht oder kaum heimisch werden konnte eine chorische Tonsprache, die sich des Materialstands der Instrumentalmusik bediente, sei sie zwölftönig, seriell oder freitonal. Nicht Bequemlichkeit oder ein Mangel an Neugierde sind dafür ausschlaggebend, sondern Grenzen weniger stimm- als gehörsphysiologischer Art sind überschritten. Ein Sänger hat eben keine Tastatur oder Grifflöcher zur Verfügung.

Doch Zeitgenössisches wird durchaus in den Chören gesungen. Chorleiter greifen zu neuen Partituren, denn es gibt sie: eine heutige Tonsprache, die Interpret und Hörer gleichermaßen anspricht. Ein breiter Strom von neuer Chormusik aus dem skandinavischen Raum, aus den baltischen Staaten, aus Nordamerika, Polen und Ungarn kommt zu uns, aus Ländern und Regionen also, in denen das Singen im Chor eine bedeutende, ungebrochene Rolle spielt. Geistliche Werke dominieren, sind doch die Sakralräume bevorzugte Aufführungsorte. Wenn Telemann also sagt „Singen ist das Fundament zur Music in allen Dingen. Wer die Composition ergreifft, muss in seinen Sätzen singen. Wer auf Instrumenten spielt, muss des Singens kundig seyn. Also präge man das Singen jungen Leuten fleißig ein“, sollten wir uns das zu Herzen nehmen.

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