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Die verwinkelte Psyche der Künstler

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Hans-Jürgen Gerung: Gesualdo · Die Darstellung künstlerischer Vereinsamung
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Vorzustellen ist hier eine „Performance in progress“; aufzuzeigen sind die Ideen, Kontakte, Verbindungen, auslösenden Elemente, die das schließlich für sich sprechende Werk generieren. Der Entstehungsprozess ist aber mehr als nur die „Vorgeschichte“; die sich im Prozeß des Entstehens verdichtenden Fragestellungen sind maßgebliche Bestandteile des Werkes, sind ein Charakteristikum des Werks.

Wo liegt das verbindende Element zwischen dem Renaissancekomponisten Gesualdo da Venosa, Tagebuchtexten der italienischen Bildhauerin Alessandra Bonoli, dem Lyriker Ezra Pound und dem Liber psalmorum? Wie lassen sich diese scheinbar disparaten Elemente miteinander verbinden? Und welchem Geist verdankt sich ein Werk wie die große Gesualdo-Partitur von Hans-Jürgen Gerung? Vorzustellen ist hier eine „Performance in progress“; aufzuzeigen sind die Ideen, Kontakte, Verbindungen, auslösenden Elemente, die das schließlich für sich sprechende Werk generieren. Der Entstehungsprozess ist aber mehr als nur die „Vorgeschichte“; die sich im Prozeß des Entstehens verdichtenden Fragestellungen sind maßgebliche Bestandteile des Werkes, sind ein Charakteristikum des Werks. Warum Gesualdo? Als Madrigalist zeichnete er sich durch seine „harmonischen Kühnheiten“ aus, stellte die Satzlehre in den Dienst musikalischen Ausdrucks und die Affektausdeutung ins Zentrum seines kompositorischen Schaffens. Kreativität also vor aller Regelkonformität. Gesualdo kennt man in der Chronik Neapels nicht nur als Komponisten, sondern auch aufgrund der sensationellen Ermordung seiner ersten Frau und deren Liebhaber. Gibt es einen Zusammenhang zwischen der „künstlerischen Persönlichkeit“ Gesualdos und diesem Doppelmord?

Warum verübt gerade ein Künstler eine solche Tat? Schließlich stellt sich auch die Frage nach dem kreativen Umfeld, in dem man sich mit diesen Fragen auseinander setzen und sie künstlerisch umsetzen kann.

Hans-Jürgen Gerung, Gitarrist

Im Mittelpunkt des Auftragwerks über das Thema Carlo Gesualdo steht die „verwinkelte Psyche Kunst schaffender Menschen, die musikalische und literarische Darstellung der künstlerischen Vereinsamung“, so der Komponist Hans-Jürgen Gerung über „Gesualdo“. Den thematischen Anstoß zu dem Gesualdo-Projekt gab die Präsentation einer Gesualdo-Biografie in der Brunnenburg, einem Meraner Kulturzentrum.

Die Brunnenburg ist ein Ort der Begegnung für progressive Künstler und Intellektuelle der Gegenwart. Ausgewählten Künstlern stellt TEMPO REALE für Arbeitsphasen auf der Burg Räumlichkeiten zur Verfügung. Das Ambiente und der Geist des Ortes, der von den Dichtungen Ezra Pounds geprägt ist, führen zu immer neuen überraschenden Begegnungen und Erfahrungen. TEMPO REALE ist auch Auftraggeber Gerungs für die Auseinandersetzung mit Gesualdo.

Im Mittelpunkt des Gesualdo-Projekts steht die Komposition „Gesualdo“ für 5-stimmigen Madrigalchor und Bariton solo, Sprecherensemble, Laute und Gitarre nach Texten von Tasso, Leoncavallo, D’Annunzio, Shakespeare, Stendhal, Fontane, Büchner, dem Canticum canticorum und Liber psalmorum. Der Werkaufbau entspricht konstituierenden Elementen der antiken Tragödie: im Mittelpunkt steht der Monolog des Gesualdo, der vom „Chor“ kommentiert wird. Das Sprecherensemble dient der Darstellung einer quasi übergeordneten Ebene – entsprechend der Zeitlosigkeit des Themas Gattenmord und Mord aus Eifersucht – und rezitiert Textfragmente aus den Werken der Literatur des Abendlandes von der Antike bis zur Gegenwart.

Die geplanten Konzerte enthalten aber nicht nur dieses eine Werk. Dieser zeitgenössischen musikalischen Auseinandersetzung mit der Künstlerproblematik werden kontrastierend drei weitere Kompositionen Gerungs für gemischten Chor (Eremita, La notte della potenza und resurrezione, auf Texte von Alessandra Bonoli) gegenübergestellt, außerdem Madrigale Gesualdos sowie Gedichte von Ezra Pound.

Die Uraufführung am 2. September 2000 auf der Brunnenburg mit dem Ensemble Cantissimo, einem auf die Interpretation alter und neuer Musik spezialisierten Ensemble, steht unter der Leitung von Markus Utz. Die Konzerttournee im Anschluss an die Uraufführung führt über Meran (2.9.2000), nach Panicale (Perugia). Die Performance wird aber nicht nur im „flüchtigen“ Medium musikalischer Interpretation, sondern auch im Film festgehalten. Der renommierte italienische Regisseur Marco Agostinelli, der schon mit Joseph Beuys zusammenarbeitete und dessen Filmproduktionen unter anderem im Museum of Modern Art in Washington gezeigt wurden – er ist der Brunnenburg eng verbunden –, wird das Gesualdo-Projekt filmisch festhalten.

Die deutsche Erstaufführung der Partituren findet am 17. September 2000 anlässlich der Heiligkreuzer Sommerkonzerte in der Kirche Kempten/Heiligkreuz statt. Bei allen Aufführungen werden auch musikgrafische Werke von Hans-Jürgen Gerung ausgestellt – nicht nur eine „Performance in progress“, sondern auch ein Gesamtkunstwerk!

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