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Eine Hörertypologie der anderen Art

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Entscheidet das Phänomen Oberton- oder Grundtonhören über Aufnahmeprüfungen?
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Sie sind Organist, Grundtonhörer und möchten an der Hochschule für Kirchenmusik in Heidelberg aufgenommen werden? Keine so gute Idee. Sie sind Organist und Obertonhörer? Schon viel besser, zumindest wenn es nach Dr. Peter Schneider geht.

Peter Schneider untersucht seit mehr als zehn Jahren, welche Auswirkungen es hat, wenn man Oberton- oder Grundtonhörer ist und hat hierfür einen Hörtypentest entwickelt. Er ist studierter Physiker und Kirchenmusiker und forscht an der neurologischen Klinik in Heidelberg.

Einen praktischen Nutzen hat das Wissen über die Art des Hörens für Studierende kaum, denn sie haben ja bereits einen Studienplatz. Doch für Bewerber an Musikhochschulen könnte das Wissen um den Hörtypus interessant sein, denn Peter Schneider hat herausgefunden, dass die Orgelstudenten an der Musikhochschule in Lübeck mehrheitlich Grundtonhörer waren, die Orgelstudenten an der Heidelberger Kirchenmusikhochschule jedoch eher Obertonhörer. Grundtonhörer bevorzugen Instrumente, die kurze, scharfe oder impulsive Töne produzieren. Zum Beispiel Schlagzeug, Gitarre, Trompete oder Klavier.

Obertonhörer präferieren nach Schneider eher Instrumente mit langen Tönen wie Streichinstrumente, Orgel oder Gesang. Grundtonhörende Orgelspieler sind seltener und mögen Gesang meistens nicht so besonders. Auf Gesang wird jedoch bei der Aufnahmeprüfung laut Schneider in Heidelberg mehr Wert gelegt als in Lübeck. Die orgelspielenden Grundtonhörer (die eher selten sind) fallen wegen der hohen Gesangs-Ansprüche eher in Heidelberg durch – und landen dann in Lübeck. Weil es auch gemischte Hörer gibt, oder Hörer, die nur leicht ober- oder grundtönig hören, kann man jedoch vom Instrument nicht unbedingt auf den Hörtyp schließen.

Beim Test, wie ihn nun auch die Musiktheorie- und Gehörbildungs-Professorin Doris Geller an der Musikhochschule Mannheim durchgeführt hat,  werden Tonpaare von einer CD vorgespielt. Dabei müssen die Probanden angeben, ob sie innerhalb des Tonpaares eine fallende oder aufsteigende Tonrichtung wahrnehmen. Die Tonpaare bestehen aus künstlich erzeugten Tönen, die im Alltag so nicht vorkommen. Was die Probanden hören, sind Ausschnitte des Obertonspektrums eines Tons; der Basston wird nicht gespielt. Ein Beispiel: Als erster Klang ertönt G‘; C‘‘ und E‘‘. Als zweiter Klang ertönt A‘, Cis‘‘ und E‘‘:

Ein Grundtonhörer ergänzt beim Hören des ersten Klangs intuitiv das kleine C. Beim zweiten Klang ergänzt er das große A als Grundton und hört deswegen eine Abwärtsbewegung vom kleinen C zum großen A. Ein Obertonhörer hört eine Aufwärtsbewegung von G‘ nach A‘. Für ihn klingt der zweite Klang höher.

Rund 2.000 Probanden haben inzwischen seinen Hörtypen-Test gemacht. Davon hat Schneider rund 500 zusätzlich mit Magnetoenzephalographie (MEG) und Kernspintomographie (MRT) untersucht. Bei 90 Prozent aller getesteten Fagottisten konnte Schneider feststellen, dass sie Obertonhörer sind. Relativ eindeutig auch die Tendenz bei Pianisten: 70 Prozent von Schneiders Probanden seien Grundtonhörer. Doris Geller kann diese Ergebnisse im musikalischen Alltag mit den Studenten freilich nicht bestätigen.

Laut Schneiders Studien nehmen Grundtonhörer Klänge mehrheitlich als Ganzes wahr, denken eher in Passagen, wenn sie Musikstücke spielen. Außerdem nähmen sie die Gestaltung eines einzelnen Tones nicht so wichtig wie Obertonhörer. Virtuose Musikstücke würden eher von Grundtonhörern bevorzugt, so Schneider. „Grundtonhörer denken zeitlich präziser“, vermutet Schneider.

Peter Schneider hat zusätzlich herausgefunden, dass Obertonhörer eher im Jazz beheimatet sind. „Möglicherweise hängt das mit dem Aufbau der typischen Jazzakkorde zusammen. Sie imitieren in der Regel einen Oberton-Aufbau: Septime und None kommen häufig vor, Grundtöne und Quinten fehlen in den Jazzakkorden oft“, sagt Schneider und meint: „ Obertonhörer sind offensichtlich in der Lage, die Akkordstruktur der Jazzakkorde (Voicings) analytisch wahrzunehmen, während sie beim Grundtonhörer zu einer ‚Klangmasse‘ verschmelzen.“

Extreme Obertonhörer hören einen musikalischen Ton oft als Mehrklang, so Schneider. Außer dem Grundton können sie Obertöne oder Geräuschanteile als eigene Klangkomponente heraushören. Dadurch entsteht für sie der Eindruck eines „Mehrklangs“, obwohl nur ein einzelner Ton erklingt. Bei „Sinustönen“, die keine Obertöne besitzen, oder obertonarmen Tönen wie Flötentönen oder bei weit mensurierten Orgelpfeifen können Obertonhörer in der Regel auch einen einzelnen Ton wahrnehmen. Bei Gehörbildungsaufgaben müssten Obertonhörer laut Schneider bei einem neapolitanischen Sextakkord eher die einzelnen Töne zuerst hören, nicht aber den Gesamtklang. Doris Geller hingegen kann auch dies nicht bestätigen.

Seine Thesen belegt Schneider durch anatomische Befunde: Die „Heschl’sche Querwindung“ im Zentrum des Hörkortex ist für die Klang- und Musikverarbeitung zuständig. „Bei Grundtonhörern ist der linke Heschl Gyrus größer als der rechte. Bei Obertonhörern ist es umgekehrt“, so Schneider. Grundtonhörer hätten im Bereich der linken Heschl’schen Querwindung ein größeres Volumen an grauer Substanz. Mehr graue Substanz bedeutet mehr Nervenzellen. Obertonhörer hingegen wiesen im Bereich der rechten Querwindung ein größeres Volumen auf. Schneiders Messungen deuten darauf hin, dass die neuroanatomische Links-Rechts-Asymmetrie des Heschl Gyrus angeboren ist. Deswegen glaubt er entgegen der gängigen Lehrmeinung, dass musikalische Begabung angeboren ist.

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