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Erst als Jude, dann als „Formalist“ diffamiert

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Milan Kunas Biografie macht auf den tschechischen Komponisten Karel Reiner aufmerksam
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Viktor Ullmann, Gideon Klein, Pavel Haas und Hans Krása waren nicht die einzigen Komponisten im Ghetto Theresienstadt. Schon 1993 hatte Milan Kuna in seinem Buch „Musik an der Grenze des Lebens“ auf Karel Reiner hingewiesen, der sich im Lager vor allem der Arbeit mit Kindern gewidmet hatte. Beachtung fand seine Bühnenmusik zu dem biblischen Stück „Esther“, über die sich auch Ullmann lobend äußerte. Leider hat sich keine von Reiners Theresienstädter Kompositionen erhalten, was erklären mag, dass er in diesem Zusammenhang nur selten gewürdigt wurde.

Nun schließt endlich eine Werkbiografie über Karel Reiner diese Lücke. Verfasst hat sie wieder Milan Kuna, der den Komponisten gut gekannt hatte. Wir begegnen hier einem außergewöhnlichen Künstler, der seinen Idealen trotz sehr unterschiedlicher Schaffensbedingungen treu blieb. 1910 als Sohn eines jüdischen Sängers im westböhmischen Saaz geboren, wuchs Reiner in einer deutschsprachigen Umgebung auf. Auf Wunsch des Vaters erlernte er die tschechische Sprache so gut, dass er sein Abitur auf Tschechisch ablegte. Die Pedanterie, der er in Prag an der Deutschen Akademie für Musik begegnete, führte zu einer allmählichen Trennung von der deutschsprachigen Kultur. Stattdessen besuchte Reiner Alois Hábas Kurse für Mikrointervallmusik sowie am Prager Konservatorium die Kompositionsklasse von Josef Suk. Auch nach seinem Studienabschluss (1935) blieb er der Hába-Klasse verbunden, zu der damals Viktor Ullmann gehörte. Wie Erwin Schulhoff, der ihn zeitweise unterrichtete, trat Reiner auch als Pianist von Vierteltonmusik hervor.

Karel Reiner orientierte sich zeitlebens an der musikalischen Avantgarde, ohne in einem Elfenbeinturm zu verharren. Wie Eisler und Schulhoff vereinfachte er 1933 seinen Stil in antifaschistischen Liedern. Als nach der Besetzung der Tschechoslowakei durch die Hitler-Truppen jüdische Musiker nicht mehr öffentlich auftreten durften, beteiligte sich Reiner in Prag an Hauskonzerten sowie an Musikaufführungen in den jüdischen Kinderheimen. Zu den Höhepunkten gehörte dort neben Krásas Kinderoper „Brundibár“ die von ihm komponierte Bühnenmusik zum „Sommernachtstraum“. In dieser Zeit der Illegalität war Reiner einer der aktivsten und produktivsten Prager Künstler. Zu seinen wichtigsten Kompositionen dieser Jahre gehört seine 2. Klaviersonate, die Prinzipien der Athematik und der Dodekaphonie mit Liedzitaten verbindet.

Reiners Eltern wurden 1942 nach Theresienstadt eingeliefert, ihr Sohn erst 1943. Leider sind alle seine dort entstandenen Kompositionen verschollen. Von Theresienstadt wurde der Komponist im Herbst 1944 über Auschwitz in ein Außenlager des KZ Dachau transportiert, das er trotz Typhus auf wundersame Weise überlebte – ebenso wie der Sänger Karel Berman und der Geiger Thomas Mandl. Damit endeten für Karel Reiner aber keineswegs die Existenzprobleme. In Prag, wo er im Mai 1945 eintraf, wollten ihn die Behörden als Sudetendeutschen abstempeln, was – wie etwa für den Komponisten Hans Winterberg – erneute Lagerhaft bedeutet hätte. Nach seiner Anerkennung als tschechischer Komponist wurde Reiner Musikkritiker und schließlich Sekretär im Komponistenverband. Seine 2. Klaviersonate, die er 1946 selbst beim IGNM-Fest in London zur Uraufführung brachte, sowie die Vierteltonmusik, für die er sich weiter einsetzte, galten inzwischen als „formalistisch“. Trotz aller von Kuna genau geschilderten Schwierigkeiten, darunter ein Aufführungsboykott nach KP-Austritt und Ausschluss aus dem Komponistenverband, blieb Karel Reiner überaus produktiv und schuf Werke in fast allen, auch unkonventionellen Besetzungen. Den Lehrer Alois Hába und die Zweite Wiener Schule hat er bis zuletzt verteidigt und dessen Einfluss weiter erkennen lassen.

Kunas zunächst auf Tschechisch veröffentlichtes Buch liegt nun in einer gründlich lektorierten guten deutschen Übersetzung vor. Obwohl die Musikanalysen für diese Ausgabe gekürzt wurden, stört der Vollständigkeitsdrang des Autors immer noch zuweilen den Lesefluss. Dennoch ist die Lektüre allen zu empfehlen, die sich für Theresienstadt und die Musik der Tschechoslowakei interessieren. Der Komponist Karel Reiner, über den auch ein umfangreiches Werkverzeichnis informiert, hat mehr Beachtung verdient.

Milan Kuna: Karel Reiner (1910–1979). Der Komponist in seiner Zeit (neue wege – nové cesty: Schriftenreihe des Sudetendeutschen Musikinstituts, Band 9), ConBrio, Regensburg 2014, 280 S., € 29,90, ISBN: 978-3-940768-53-7

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