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Feines Ohr für Klang und Wirkung

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Philippe Boesmans’ „Wintermärchen“ in Nürnberg
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Auf Sizilien frieren Schnee und Eisberge, Böhmen liegt am Meer, die Protagonisten sind Mischwesen aus Altgriechen und Lateinern mit einem Schuss Italien und tragen gleichwohl saloppe Anzüge, der Mond ist eine patentierte Eisenbahnuhr ohne Zeiger, in Sizilien spricht man deutsch, englisch hingegen unter der böhmischen Jugend.

Auf Sizilien frieren Schnee und Eisberge, Böhmen liegt am Meer, die Protagonisten sind Mischwesen aus Altgriechen und Lateinern mit einem Schuss Italien und tragen gleichwohl saloppe Anzüge, der Mond ist eine patentierte Eisenbahnuhr ohne Zeiger, in Sizilien spricht man deutsch, englisch hingegen unter der böhmischen Jugend.Dass in solchem Umfeld auch die Zeit und mit ihr die Menschen verrückt spielen, verwundert nicht. Gallig schwarz ist die Eifersucht Leontes’, des Königs von Sizilien, auf seinen Freund Polixenes, dem entsprechenden Würdenträger Böhmens. Zu Unrecht – aber was sind schon Recht und Unrecht in solch zerrütteten Verhältnissen? – verdächtigt er ihn, mit seiner Frau Hermione die Tochter Perdita gezeugt zu haben. Auch das delphische Orakel kann Leontes nicht von der Wahrheit überzeugen. Für ihn steckt es im Komplott mit unter der Decke. Das geht schlecht aus. Der böhmische König flieht in die Heimat, Frau und fraglos eigener Sohn (Zweifel nun auch hier bei Leontes) sterben, Perdita wird an Böhmens Küste ausgesetzt, in Sizilien bleibt es kalt und Leontes griesgrämt in schattigem Groll. Am Schluss dann, 16 Jahre später, löst sich alles. Perdita, stumm nach den Wirren ihrer Kindheit, aber tänzerisch begabt, verliebt sich in Florizel, den partiell zum Rocker und Aussteiger missratenen Sohn von Polixenes, in Sizilien wird es nach psychosomatischer Eiszeit Frühling, selbst die vermutlich im Schnellfrostverfahren verstorbene Hermione wird wieder aufgetaut und liebt ihren Eifersüchtling noch immer.

Ein Wintermärchen. Die Zeit schlägt Eskapaden, doch niemand heilt außer ihr. Luc Bondy hat den Shakespeare-Stoff für den belgischen Komponisten Philippe Boesmans aufbereitet, Shakespeare selbst hat auf den Roman „Pandosto. The Triumph of Time“ seines Zeitgenossen Robert Greene zurückgegriffen. Und alle ahnten wohl, dass es irgendwann einmal eine postmoderne Zeit geben würde, die aus solchen Verhebungen Substanz gewinnen würde.

Boesmans, so wäre anzumerken, ist der (altersgleiche) Aribert Reimann Belgiens. Er gibt der Oper, was der Oper ist. Die Konturen der Entwicklung stellen sich freilich anders dar. Als Surrealist war der junge Boesmans einst fast militanter Gegner der Oper, bis er vom Saulus zum Paulus gewandelt erkannte, dass gerade die gut bediente Oper dem Surrealismus die höchsten Weihen verleiht. Drei Opern, „La Passion de Gilles“ von 1983, „Reigen“ nach Schnitzler von 1993 und nun „Wintermärchen“ (1999) sprechen in dieser Entwicklung eine deutliche Sprache. Boesmans ist heute der festlich aufgenommene verlorene Sohn. Und wenn August Everding vor etwa 15 Jahren einmal zur Rettung des zeitgenössischen Musiktheaters beschwörend einen „neuen Puccini“ erwünschte, so könnte man ihm sagen: Hier ist er. Wenn das dann dennoch nicht so greift, wie es einst Puccinis geniale Entwürfe taten, so liegt es vielleicht wieder einmal an der Zeit. Womit wir beim Thema des „Wintermärchens“ wären.
Die Nürnberger Oper, ihr musikalischer Leiter Fabrizio Ventura, die Regisseurin Andrea Raabe, haben sich nun dem „Wintermärchen“ zugewendet. Und Musik und Ausstattung kamen daher, als hätte es die weidlich geführten Diskussionen um Sinnausrichtung neuen Musiktheaters gar nicht gegeben. Boesmans schrieb mit feinem Ohr für Klang und Wirkung eine Musik, die in geradezu barockem Selbstverständnis keinerlei Berührungsängste gegenüber Adaptionen und Assonanzen zeigt. Richard Strauss, vor allem der der Salome, heißt hier der allererste Ziehvater, ein Dutzend anderer bis hin zum Musical eines Lloyd Webber treten hinzu. Wer von Sizilien nach Böhmen springt und dabei keine Scheu vor klimatischen oder geografischen Querständen an den Tag legt, der darf das auch im Musikalischen. Der dritte Akt zum Beispiel spielt im Böhmischen. Florizel gehört einer Gang an, die sich mit Taschendiebereien den Unterhalt sichert, Perdita steuert als tänzerisches Groupie ihren Teil dazu bei. Hier möchte auch die Musik frivol werden und lässt „Sax-as-Sax-can“-Ästhetik mit eigener Jazz-Formation auf der Bühne freien Lauf.

Fraglos: Das Konzept geht auf. Viel zu versiert ist inzwischen der permanente Composer in Residence am Théâtre Royal de la Monnaie in Brüssel. Boesmans weiß Bescheid über die konservativen Triebkräfte des Musiktheaters. Timing und Losgelöstheiten im schönen Augenblick stehen zu den prallen dramatischen Akzenten der Handlung im wohldosierten Verhältnis. Die Musik bedient wohlgefällig, aus der eisig romantischen Uridee des Wintermärchens zieht sie die Verpflichtung zu klaren Konturen, zu splitternden Farben. Dass sie sich damit abkoppelt von Visionen, zu denen neue Musik einst aufbrach, wird von Boesmans vermutlich gar nicht mehr als Tribut empfunden. Es ist Musik, die sich prostituiert, aber es ist Prostitution auf hohem Niveau. Und das ist allemal besser als die sinnlichen Verklemmungen, denen man im neuen Musiktheater immer wieder begegnet.
Kälte: Das war Thema in so unterschiedlichen Musiktheaterprojekten wie Aribert Reimanns Kafka-Oper „Das Schloss“ oder Helmut Lachenmanns streichholz-fiebriger theatraler Bildermusik „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“. Zumindest gegenüber Lachenmann wirkt dieses Wintermärchen lauwarm. Grund ist, dass Boesmans den Apparat bedient, anstatt den Störstellen zu ihm Gewicht zu verleihen.

Der Dank des Apparates ist ihm dadurch gewiss. Das Nürnberger Ensemble lieferte hierfür einen bunt durchdachten Bilderbogen und musikalische Ausstrahlung, die die Lust an Farbe und Schönklang nicht unter dem Tisch versteckten. Eis ist weiß, Böhmens Haine sind braun, Rocker sind rockig und die großen Gefühle dürfen auch ran. Feine und absolut besuchenswerte Leistung: Dass das Verschwiegene, die Relativität der Zeit und ihre Linderungsfunktion im Vergehen die Hauptseite hätte bilden können, steht auf einem anderen Blatt.

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