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Im Ton die ganze Welt

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Terterjans „Das Beben“ im Gärtnerplatztheater
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Oper heute hat sich immer mit dem Problem ihrer zeitlichen Strukturierung auseinanderzusetzen. Zeitgenössische Sprachmittel, das lehrt eine Erfahrung, die bis zum Überdruss am neuen Musiktheater geführt hatte, vermag nicht Handlung zu transportieren so wie es die Oper von Barock bis zur Romantik vermochte. Sowohl die Ausdrucks- als auch die Wahrnehmungskonditionen sind heute andere. Musiktheaterstücke, die, in welcher Form auch immer, zum Statuarischen tendieren, stellen sich diesen neuen Bedingungen. Einen neuen, nachdrücklichen Beweis lieferte Awet Terterjans Oper „Das Beben“, die nun am Münchner Gärtnerplatztheater uraufgeführt wurde.

Es ist eine bizarr bittere Geschichte, wie sie nur das Leben schreiben kann. Heinrich von Kleist notierte sie 1806 nach überlieferten Berichten und mischte sich damit in eine Debatte über den philosophischen Sinn von höheren Schicksalsschlägen ein. „Das Erbeben von Chili“ schildert die Liebe einer höheren Tochter zu ihrem Hauslehrer. Der erzürnte Vater schickt sie ins Kloster. Als sie dort ein Kind gebärt werden die Liebenden ins Gefängnis geworfen. Für die Frau bedeutet der ungeheuere Vorfall den Tod durch Verbrennen, der zur Enthauptung abgemildert wird. Zur Zeit der anstehenden Hinrichtung will sich auch der Mann das Leben nehmen. Ein gewaltiges Erdbeben unterbricht die Ereignisse. Die Liebenden kommen frei, treffen sich wieder. Ein Gottesurteil? Man kommt bei einem befreundeten Paar unter, das auch ein Kind hat. Ein Dankgottesdienst für die Überlebenden steht an. Man findet sich ein, der Priester spricht von den gotteslästerlichen Ereignissen in der Stadt. Die aufgebrachte Menge erkennt das Paar wieder und erschlägt es zusammen mit dem falschen Kind, das für den frevlerischen „Bastard“ gehalten wird. Der armenische, im aserbeidschanischen Baku geborene Komponist Awet Terterjan (1929–1994) hat Mitte der 80er-Jahre diese Vorlage für ein musikdramatisches Werk verwendet. Terterjan ist einer jener Komponisten aus der ehemaligen Sowjetunion, die in den letzten Jahren die Ästhetik der Avantgarde radikal umkrempelten (zu denken ist daneben an Arvo Pärt, Alfred Schnittke, Galina Ustvolskaya, Sofia Gubaidulina, Giya Kancheli, Valentin Silvestrov, Alexander Knaifel und viele andere). An ihren Werken klebt das Blut existenzieller Auseinandersetzung, zugleich steckt in ihnen immer wieder eine große, von asiatischer Philosophie geprägte Ruhe. Terterjan wird sich als einer der wesentlichsten Komponisten dieser Richtung erweisen. In den letzten Jahren mehren sich Aufführungen etwa seiner gewaltigen acht Sinfonien, die sich mit radikaler Entschiedenheit am Klang, am einzelnen Ton festbeißen und nicht gewillt sind, deren Intensität auch nur eine Spur loszulassen. „Im Ton ist die ganze Welt. Kennen Sie eine Melodie, die die ganze Welt ausdrücken würde? Den Zustand der Liebe oder der Freude oder der Trauer? Nein, die gibt es nicht. Aber der Ton zersplittert in Milliarden Teilchen! In ihm ist alles, wie in einem Fokus.“ Terterjans Überzeugung fließt mit geradezu gnadenloser Hingabe in jedes seiner Werke. Sie haben eine unwiderstehliche, nicht nachgebende Sogkraft.

Die Oper „Das Beben“, ursprünglich 1986 für Halle vorgesehen, bestätigt das auf beklemmende Weise. Dabei wurde die Kleist-Vorlage auf minimale Schlüsselsätze, Zwischenrufe oder bloße Lautgebungen kondensiert. Nur das Kräfteparallelogramm Individuum-Masse wurde stehen gelassen, das Kind (mithin die Ursache für die Inhaftierung) kommt nicht vor, nicht das befreundete Paar. Terterjan will nur eines aufzeigen: die fortwährende Restrukturierung der Masse Mensch, die durch das Beben nur kurz aus dem Tritt kommt, und ihre Feindseligkeit gegenüber dem individuellen Empfinden. Dass Musiktheater heute nicht in erzählenden Ton verfallen darf, sondern einzig starke und eindringliche Bilder zu entwerfen hat, ist ihm innerste Überzeugung. Wer so reduziert, kann Kräfte konzentrieren. Terterjan hat mit dem „Beben“ einen Pflock in die gegenwärtige Debatte über die Überlebensfähigkeit des zeitgenössischen Musiktheaters geschlagen, dessen schleichender Tod immer wieder vorausgesagt wurde. Andere Eckpfeiler sind etwa Lachenmanns „Mädchen mit den Schwefelhölzern“ oder die musikdramatischen Ansätze eines Morton Feldman, Salvatore Sciarrino, eines Steve Reich oder einer Adriana Hölszky. Im Miteinander von Bild und Klang werden Auswege sichtbar.
Terterjan gibt kein Jota nach. Er lässt die zu Beginn aus Glockenklängen hervorwachsenden Töne bis zu zwanzig Minuten lang aushalten, er baut Flüsterintrigen oder massenhysterische Flächen, etwa die sich freifressende Gier nach Leben im Anschluss an die Katastrophe: Vielleicht 1.000 Mal skandiert der Chor von räderwerkartigen Rasseln begleitet das Wort „Leben“, das wie ein Krebsgeschwür wuchert. Die Oper ist durchsetzt von quälenden Langsamkeiten, etwa wenn der Hinzurichtenden mit fanatischem Erniedrigungswillen die Kleider genommen und die Haare abgeschnitten werden oder wenn die Masse am Schluss des Stücks immer wieder zeitlupenartig auf die Leiche der Frau eintritt. Und gleichzeitig gelingt es Terterjan, die emotionale Anspannung immer am Siedepunkt zu halten. Die Trauer am Schluss, die sirrend durchwobenen Klangflächen wandeln sich mit dem Unendlichen spielend in klappernde tropfende Naturgeräusche, lässt im Festhalten kein Entkommen zu. Zeit geben, sich Zeit zu nehmen heißt aber, dem fatalen Ereignis der individuellen Auslöschung, dem gesellschaftlichen Beben vor und nach dem Erdstoß, Würde und Ehrfurcht entgegenzubringen. Momente von begrifflos entsetzter Andacht, der Raum zur eigenen Innenbetrachtung treten strukturell in die Musik. Es sind Komponisten wie Terterjan, die der Musik ihre Zeit zurückgeben. Und mit ihr die Funktion des empfindenden Nachschwingens – ein Gang in die Tiefe des Klangs. Vielleicht mag jemand hier Einfachheit wahrnehmen. Einfachheit ist immer hohl, wenn sie über abrufbare Mechanismen mundgerecht bereitet wird, sie ist aber eindringlich und erschütternd, wenn sie empfunden und durchlebt ist, wenn sich die kompositorische Durchgestaltung ihr in radikaler Letztendlichkeit unterwirft. Terterjan lässt daran in geradezu peinigender Intensität keinen Zweifel.

Das Gärtnerplatztheater hat ganze Arbeit geleistet. Zur souveränen Leitung durch Ekkehard Klemm (der seinerzeit schon die Aufführung in Halle bestreiten sollte), zu einer hochwachen Leistung der im Zuschauerraum verteilten Chöre, zur intensiven Verkörperung von „Sie“ und „Er“ durch Ruth Ingeborg Ohlmann und Wolfgang Schwaninger, trat eine Regiearbeit durch Claus Guth, die den Theaterraum sinnfällig zur Arena aufbrach. Die Masse glotzt, in diesen Zustand wurde das auf den Rängen und auf der Bühne verteilte Publikum versetzt. Das Parkett war Spielfläche für die Musiker mit eindrucksvoller Schlagwerkbesetzung (darunter vier überdimensionale Trommeln) und – auf vier tischartigen Flächen – für die sparsamen Aktionen.
Masse Mensch wurde neben dem Chor abstrakt verkörpert durch eine Großkopfmaske, die mit artigem Scheitel von einem Geschäftsyuppie in der Vip-Lounch eines internationalen Flughafens abgenommen schien. Das Erbeben hatte in den schon bei den Hinrichtungsvorbereitungen voyeuristisch gaffenden Kopf blutige Löcher geschlagen, aber dann rekonstruierte sich die Maske, mithin die gesichtslose Masse, zu noch desolaterer Brutalität. Die Kirche gibt letztlich in archaisch unberührbarer Größe ihren Segen dazu.

Eine Musik, die keine Ausreden, kein Abkehren zulässt

Das Publikum, das wohl auch im thematisierten Individuum-Masse-Widerspruch Parallelen zur gegenwärtigen Kriegs- und Propagandasituation beklemmend herstellte, war größtenteils von der Kraft und der charakteristischen, unverwechselbaren Eigenart der Musiksprache Terterjans überwältigt. Es war Musik, die in ihrer niederdrückenden Anklage und im radikalen, sowohl asketischen, wie bedrängend massiven Einsatz der Sprachmittel keine Ausreden, kein einfaches Abkehren zuließ. Stellungnahme wurde, wie etwa in Lachenmanns „Mädchen“, in Nonos „Al Gran Sole“ erzwungen. Ein Kunstwerk, das nicht loslässt.

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