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Junge Rebellen und Konservative

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Die neue Komponistengeneration in Polen
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Nach dem politisch-gesellschaftlichen Umbruch von 1989 haben sich viele Lebensaspekte in Polen stark verändert. Zum Guten, wie auch zum Schlechten. Die hohe Arbeitslosenzahl, Korruption und immer neu aufgedeckte politische Affären erfüllen nicht gerade mit Optimismus. Hinzu kommt, dass ein politisches Bewusstsein für Kultur praktisch nicht existiert. Dennoch findet sich die junge Generation der Komponisten und Musiker mit dieser neuen Situation recht gut ab. Nach der kurzen Begeisterung über die offenen Grenzen, nach den Besuchen internationaler Kompositionskurse, nach der Enttäuschung über fehlende staatliche Unterstützung konzentrierte sie sich in Warschau, Krakau, Kattowitz oder Breslau auf das Eigentliche, die Musik. Das Resultat? Eine breite Palette verschiedener ästhetischer Ansätze. Der folgende Text präsentiert die aktuelle Szene der Neuen Musik in Polen vor dem Hintergrund der Musikgeschichte der letzten fünf Jahrzehnte.

Zum Kontext

Die polnische Musik der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kann als eine Widerspiegelung der künstlerischen Umbrüche verstanden werden, die sich in Europa vollzogen. Doch dieser Spiegel war nicht ganz rein, der Schmutz der politischen Versklavung war darauf zu sehen, berührten doch die Fangarme des Sozialismus auch den Musikbereich. Die Anforderungen waren klar. Die Komponisten sollten ihre Musik in Übereinstimmung mit den Richtlinien der Ideologie des sozialistischen Realismus schreiben: klare Formen ohne Klangexperimente, mög-lichst mit Elementen der Volksmusik waren angesagt sowie Texte, die die „Güte“ des Regimes sowie die Schönheit des Landes besingen und zu anstrengender Arbeit motivieren sollten. Die folgenden Komponistengenerationen spielten folglich mit den Organen der offiziellen Verwaltung Katz und Maus, schmuggelten ab und zu neue Ideen ins Land, und wenn das Spiel sie zu sehr ermüdete oder gefährlich wurde, wählten einige Komponisten die Flucht in den Westen. Andere gingen in die innere Emigration. Ähnlich wie manche Komponisten im Dritten Reich versteckten sie ihre Werke in der Schublade, zogen sich in den Schatten zurück, kämpften um das eigene Überleben, komponierten U-Musik und warteten auf bessere Zeiten.

Die politisch-gesellschaftlichen Wirr-nisse, insbesondere der Tod Stalins 1953, initiierten bedeutende Veränderungen im polnischen Kunstverständnis. Die Tür nach Europa wurde einen Spalt weit geöffnet und die Komponisten – Kazimierz Serocki (1922–1981), Tadeusz Baird (1928–1981), Wlodzimierz Kotonski (geb. 1925), Witold Szalonek (1927–2001) und jüngere wie Boguslaw Schaeffer (geb. 1929), Wojciech Kilar (geb. 1932), Henryk Mikolaj Gorecki (geb. 1933) und Krzysztof Penderecki (geb. 1933) – nahmen die Gelegenheit wahr, in den Westen zu reisen. Mit der Ausreiseerlaubnis in der Hand fuhren sie am häufigsten nach Deutschland, wo sie Ende der 50er-, Anfang der 60er-Jahre zum Beispiel die Internationalen Ferienkurse für Neue Musik in Darmstadt besuchten. Es stellte sich schnell heraus, dass die meisten von ihnen die Grundlagen der seriellen und aleatorischen Musik nicht zerstören wollten. Anders als ihre Professoren, die vom neoklassizistischen Paris Nadia Boulangers begeistert waren – wie Boleslaw Woytowicz (T. Baird, W. Szalonek, W. Kilar) oder Tadeusz Szeligowski (W. Kotonski) –, faszinierte die Jungen die avantgardistische Ideologie. Die neuen kompositorischen Mittel und die Lust auf Experimente verbanden sie mit eigener Klangempfindsamkeit. Die polnische Neue Musik entwickelte ihr eigenes Idiom. Die deutsche Kritik steckte den neu entstandenen polnischen „Sonorismus“ in die Schublade „polnische Komponistenschule“.

Anfang der 70er-Jahre, als nicht nur in Polen, sondern auch in Europa ein deutlicher Überdruss am Neuen zu konstatieren war, wandten sich die früheren Rebellen von ihren Experimenten ab, um entweder auf eine radikale Weise ihre musikalische Sprache zu vereinfachen und die religiös durchsättigten Emotionen der Bevölkerung auszunutzen (Gorecki, Kilar) oder zum Pathos der romantischen und neoromantischen Musik zurückzukehren (Penderecki). Während sie diesen ästhetischen Umschwung beobachteten, begann ein Teil der in den Fünfzigern geborenen Komponisten eine Diskussion mit der progressiven Musik des Westens.

Dabei schätzten sie die musikalische Expression und das Jonglieren mit den Elementen der Tradition höher als Komplexität und Experiment. Rafal Augustyn (geb. 1951), Eugeniusz Knapik (geb. 1951), Andrzej Krzanowski (1951–1990), Aleksander Lason (geb. 1951), Pawel Szymanski (geb. 1954) und Tadeusz Wielecki (geb. 1954) – jeder von ihnen ist/war bemüht, auf eigene Art seine neuen ästhetischen Prioritäten zu definieren. Krzysztof Knittel (geb. 1947), Elzbieta Sikora (geb. 1943) und Stanislaw Krupowicz (geb. 1952) nutzen bis heute die elektronischen Medien aus, verbinden sie mit Bühnenelementen, Schauspiel und Beleuchtung. Von der alten Garde blieben nur Boguslaw Schaeffer und Witold Szalonek ihren modernistischen Idealen treu, und ihre etwa zehn Jahre jüngeren Kollegen Zygmunt Krauze (geb. 1938, „Unizismus“), Tomasz Sikorski (1939-1988, polnische Art der Minimal Music), Marta Ptaszynska (geb. 1943, farbenreiche Musik für Schlagzeug) und Krzysztof Meyer (geb. 1943, der Architekt der großen Formen) formulierten ihre eigene musikalische Sprache. Es kommt der polnischen Neuen Musik sicherlich nicht zugute, dass ihr Image fast ausschließlich von den Werken Pendereckis, Goreckis oder Kilars geprägt ist. Obwohl die Musik dieser Herren eine allgemeine Wertschätzung verdient und die Errungenschaften ihrer Jugendzeit ihnen den Platz in den Musiklexika sichert, so trüben ihre heutigen Stücke deutlich den Blick auf ihr früheres Lebenswerk. Die Leichtigkeit, mit der sie mittels Affektiertheit der musikalischen Sprache, ästhetischem Konjunkturalismus und Banalität im Ausdruck den Applaus der Großen dieser Welt und des philharmonischen Publikums ernten, ist erschreckend. Sie stehen in deutlicher Opposition zu jenem Meister der polnischen Musik, der jenseits aller Stilrichtungen steht und fast schon zu einem Denkmal geworden ist: zu dem Klassiker der Gegenwart Witold Lutoslawski (1913–1994). Sein eleganter musikalischer Gestus, sein raffinierter Geschmack sowie die unglaubliche Konsequenz in der Suche nach der eigenen Ausdruckssprache machten ihn zu einer Autorität, die weder nachgeahmt noch kritisiert werden darf. Sein Lebenswerk stellt einen wichtigen Bezugspunkt für spätere Generationen dar.

Neues kommt

Im Schatten dieses Klassikers der Gegenwart, im Hintergrund der „Großen Dreieinigkeit“ und mit leiser Unterstützung der mittleren Generation tauchen auf der Bühne der neuen polnischen Musik immer mehr interessante junge Gestalten auf. Nach den an vielversprechenden Debüts armen 1990er-Jahren sind mittlerweile wieder viele Komponisten zu beobachten, die mutig ihren eigenen Weg suchen. Junge Menschen machen von den nun offenen Grenzen Gebrauch, besuchen Europa, studieren in Den Haag, Stuttgart, Köln, Paris und pfeifen auf historische Einteilungen und ästhetische Vorurteile. Ohne Minderwertigkeitskomplexe gegenüber „den besseren Kollegen aus dem Westen“ unternehmen sie den Versuch, eine unabhängige Musik auf Weltniveau zu machen, was internationale Auszeichnungen bezeugen. Andrzej Chlopecki – Musikkritiker und guter Geist für Neue Musik in Polen – sagt: „Der Generationswechsel fand gleichzeitig mit der Änderung der Wirklichkeit statt, mit der Freiheit und Lust, sich von ästhetischen Dogmen, die Ende der 80er- und Anfang der 90er-Jahre in Polen herrschten, zu befreien. Diese Aufbruchstimmung führte die jungen Leute zu einem Eklektizismus im positiven Sinne, einem Eklektizismus, der nicht alles auf einen gemeinsamen Nenner bringen wollte, wie etwa in den 70er-Jahren, als eine Negation des Fortschritts und modernistische Tendenzen vorherrschten. Heute nehmen die Jungen an deutscher, holländischer, englischer oder französischer Musik teil. Und noch etwas: Polnische Komponisten sind heute gefragte Partner für Kollegen aus der ganze Welt.“

Doch diese Frischzellenkur entfaltete ihre Wirkung nicht nur im kompositorischen Kreis. In den letzten Jahren machten auch viele talentierte junge Musiker auf sich aufmerksam, die den Mangel an Interpreten für Neue Musik beobachteten. Sie unterstützten die Komponistenkollegen aus den Musikhochschulen während diverser Musikfestivals: Fast schon zu Markennamen haben sich in diesem Zusammenhang unter anderem das Orkiestra Muzyki Nowej in Kattowitz, das Orchester Aukso in Tychy, das Ensemble Kwartludium in Warschau oder der Pianist Maciej Grzybowski entwickelt.

Eine Hauptplattform für Neue Musik in Polen darf hier nicht vergessen werden: Das Festival Warschauer Herbst, 1956 gegründet und sehr rasch gewachsen, war für Komponisten aus dem Ostblock lange Zeit das einzige Fenster zur internationalen Musikszene, da hier wichtige Werke des 20. Jahrhunderts präsentiert wurden. Der Warschauer Herbst war eine Enklave origineller Ereignisse, ein Barometer für neueste Trends in der zeitgenössischen Musik. Die Popularität des Festivals war einigen Schwankungen unterworfen, die größte Krise erlebte es aber Mitte der 80er- bis Mitte der 90er-Jahre. Es schien, als bräuchte man nach der politischen Wende kein Musikfestival mehr, das eine derart symbolische und nostalgische Rolle spielte. Auch das Publikum zeigte weniger Interesse. Dennoch haben Krzysztof Knittel und jetzt Tadeusz Wielecki die Veranstaltung vor dem völligem Desaster gerettet und dem Warschauer Herbst ein anderes Gesicht gegeben. Heute besucht ein ganz neues Publikum das Festival. Ein Publikum, das großes Interesse für Neue Musik hat. Aber auch die Konzertorte änderten sich. Die Veranstaltungen finden weniger in den Konzertsälen oder in der Philharmonie statt, sondern zunehmend in leerstehenden Industriegebäuden des Warschauer Stadtteils Praga.

Und noch ein Kennzeichen für den Wandel ist zu beobachten: Es gibt inzwischen eine junge Generation von Autoren, die über zeitgenössische Musik schreibt. Die Stimme der jungen Kritik ist in Fachzeitschriften und großen Tageszeitungen, in Wochenblättern, aber auch im Polnischen Rundfunk zu hören. Obwohl sie ihre Wurzeln zum Teil in der universitären Ausbildung hat, pocht sie vehement darauf, dass die Musikwissenschaft keine Musikpathologie ist. Sie beschäftigt sich also mit den Werken lebender Komponisten und kämpft dafür, dass Neue Musik im Vorlesungsverzeichnis mehr Gewicht bekommt.
Nicht nur die politischen und gesellschaftlichen Veränderungen, der subkutane Wille zu kämpfen, nicht nur die Fähigkeit, klare Sätze zu formulieren, und nicht nur das große Vertrauen des Direktors des Warschauer Herbstes in die historische Notwendigkeit des Generationenwechsels begünstigte diese explosionsartige Zunahme der Aktivitäten junger Künstler und Publizisten. Ein Impuls für Künstler sind immer auch Kompositionsaufträge. Eine große Rolle bei der Entstehung des Neuen spielte die Ernst von Siemens Musikstiftung mit dem Projekt „Förderpreise Polen“. Andrzej Chlopecki – einer Hauptfigur in der Neuen Musik Polens – wurde für den Zeitraum von 2001 bis 2004 eine Summe von 200.000 D-Mark für Kompositionsaufträge und Musikerhonorare zur Verfügung gestellt. In diesen vier Jahren bestellte Chlopecki Werke bei 32 jungen Komponisten. Und er erweiterte das Projekt auf andere Länder wie Litauen, Lettland, die Ukraine, Estland, Tschechien, die Slowakei, Rumänien, Ungarn, Bulgarien und Slowenien.

Um das Panorama der jungen polnischen Musik deutlicher zu sehen, ist es sinnvoll, sich auf einige wichtige Musikhochschulen zu konzentrieren. Um sie und um die dort lehrenden Professoren versammeln sich die jungen Komponisten. Die Gefahr einer möglichen Vereinfachung in Kauf nehmend seien hier – nach geografischen Kriterien geordnet – einige Namen ausgewählt, die schon eine feste Position auf der Bühne der modernen Musik haben.

Warschau

Unsere Reise beginnt in Warschau, einer Hauptstadt, die sich sehr dynamisch entwickelt, eine echte Metropole mit hektischem Leben, großem Geld in Büro-Wolkenkratzern, exklusiven Geschäften und allen kulturellen Kennzeichen einer modernen Großstadt. Trotz dieser pulsierenden Atmosphäre auf den Straßen kann das Gros der Studenten der Musikhochschule „Fryderyk Chopin“ in Warschau die Ästhetik ihrer Dozenten jedoch nicht hinter sich lassen. Gefangen genommen von konservativer Harmonie und dem Primat der schönen Melodie, leiden die Studenten an den komplexen Hörherausforderungen der Neuen Musik auf dem Warschauer Herbst. Sie kritisieren ästhetische Vorschläge während des Festivals und haben gleichzeitig Angst davor, ihre Nase aus der Akademie herauszustrecken. Daher nahm es nicht wunder, dass Pawel Mykietyn (geb. 1971), ein Wunderkind der 90-Jahre, als erfrischende Ausnahme empfunden wurde.

Als Zögling von Wlodzimierz Kotonski, der seine Schüler gerne in den Westen schickte, ist Mykietyn ein Postmodernist par excellence. „Für mich war klassische Musik – insbesondere von polnischen Komponisten wie Tomasz Sikorski, Lutoslawski, aber auch Beethoven, genauso wichtig wie populäre Musikkultur, zum Beispiel von Jimi Hendrix, John Lennon, Czeslaw Niemen oder Punkrock überhaupt. Diese Teilung in ,Darmstadt‘ und ,Woodstock‘ im 20. Jahrhundert ist künstlich“ – sagt Mykietyn.

Obwohl er aufgrund seiner Ästhetik ein Sohn Pawel Szymanskis genannt wird, entwickelte Mykietyn eine eigene Musiksprache. In seinen Werken treffen sich klare Formen, fast klassisch klingende Motive, freie Figurationen und strenge melodische Figuren; seine Musik birgt Erinnerungen an die Dur-Moll-Tonalität, sich ins Dissonante zuspitzende Akkorde sowie Mikrotonalität, vorhersehbare, scharfe rhythmische Schemata und aggressive, wilde Klanggestalten. „In der letzten Zeit habe ich mich auf die harmonische Suche konzentriert. Trotzdem ist für mich die Proportion zwischen auskomponierten Elementen und Spontaneität immer wichtiger. Die Musik muss mich selbst überraschen, die Zuhörer sollen aber Klangeffekte und die besondere musikalische Dramaturgie, die ich auch mit theatralischer Dramaturgie verbinde, bemerken.“ Schön klingende Musik und Echos aus der Vergangenheit interessieren viele junge Zuhörer. Seine „3 for 13“ für 13 Instrumente (1994), „Shakespeare’s Sonnets“ für hohen Countertenor und Klavier (2000) und „An Album Leaf“ für Violoncello und Tonband (2002) erreichten Schlagerstatus.

Zehn Jahre jünger als Mykietyn ist Adam Falkiewicz (geb. 1981): Seine ersten Schritte machte er mit Wlodzimierz Kotonski in Warschau, später studierte er bei Louis Andriessen und Martijn Padding. Im IRCAM arbeitete er mit Brian Ferneyhough, Jonathan Harvey und Tristan Murail. Von den Holländern lieh er sich Leichtigkeit, fließende Erzählung, postmodernistische Flirts mit der U-Musik und Verständlichkeit aus; von Ferneyhough nimmt Falkiewicz klare und ziselierte Strukturen; von Spektralisten die Methoden ihrer Klanganalyse. Eines seiner besten Stücke – „Canto to Ezra Pound“ (ein Auftrag der Siemens Musikstiftung) – versetzt den Zuhörer von Beginn an in Trance. In der elektronischen „Altitude 4810“ darf man breiten Atem und expressive Perspektiven fühlen. Tiefe, ganz ruhige Klänge bilden eine metaphysische und geheimnisvolle Aura. Anders bei „Fearful Symmetry“: Diese Musik ist pausenlos im Fluss, aber in einer verkrüppelten Bewegung, mit gebrochenem Rhythmus und energetischem Potenzial.
Bevor wir uns den Komponisten Krakaus widmen, wenden wir uns Aleksandra Gryka (geb. 1977) zu. Sie stammt aus Warschau, studierte aber in Krakau. Gryka ist eine ausdrucksstarke Persönlichkeit. Mykietyn und Falkiewicz komponieren Musik, die – wenn auch mit persönlichen Elementen – von Vorgängern geprägt ist. Gryka dagegen versucht, autonome Werke zu schreiben. Obwohl die Schülerin von Krystyna Moszumanska-Nazar (geb. 1924) noch nicht ganz ihre charakteristische Sprache ausgebildet hat, kann man in ihrer Musik eine Sorgfalt fürs Detail in Struktur und Klang beobachten. Sie bildet kompakte, durchdachte, handwerklich tadellose Werke. Ihren Hang zu trockenen, fast primitiven und abstoßenden Klangfarben findet man in „LIEN-AL“ für Violoncello, Akkordeon und Cembalo. „(1") exists as... (-1")“ für fünf Instrumente ist ein Spiel mit Kontrasten: Die statische und lyrische Erzählung verwandelt sich in eine dynamische und motorische Erzählung. „Interialcell“ für Ensemble – auch ein Kompositionsauftrag der Ernst von Siemens Musikstiftung – fällt durch ihre verdichtete Form auf. Ihr Ausgangpunkt, ein Klang, der sich in einen Bund akustischer Linien spaltet, wird immer aggressiver. Die Akkorde wandern im Raum und wechseln dabei ihre Tonhöhe.

Krakau

Innerhalb des stark traditionell geprägten Kulturlebens Krakaus spielt die Musikhochschule die Rolle eines Schnittpunkts verschiedener ästhetischer Strömungen. Marek Choloniewski (geb. 1953) repräsentiert seit Jahren den Bereich der progressiven Audio-Art. Interessanterweise bleiben jedoch viele junge Komponisten nach ihren ersten Versuchen und Erfahrungen in der Welt der elektronischen Musik weiterhin traditionellen Ausdrucksmitteln verhaftet. Die Mehrzahl der aus der Klasse des Penderecki-Schülers Marek Stachowski (1936-2004) stammenden Studenten arbeitet mit Orchester und Stimme. Stachowski selbst durchlief einen langen Weg von fantastischen „sonoristischen“ Experimenten bis hin zu melodischer Reflexion. Als Pädagoge sagte er immer: „Man soll die Jungen nicht stören…“ Seine Nachfolger – Wojciech Widlak (geb. 1971), Marcel Chyrzynski (geb. 1971), Maciej Jablonski (geb. 1974), Wojciech Ziemowit Zych (geb. 1976) – leben unter diesem Diktum sehr gut.
Seit 2000 indes beobachtet man in der musikalischen Sprache Wojciech Widlaks eine Hinwendung zu einer verfeinerten Musik, in der Intellektualität und Abstraktion eine große Rolle spielen. Im durchbrochenen „Shortly on Line“ für fünf Musiker schickt uns der Komponist einen klanglichen Impuls, den wir aufnehmen und entwickeln sollen. In „Chromatic Fantasy“ für Cembalo und „Into the Earth“ für Orchester und Orgel steht zu Beginn ein Klang, der eine integrierende Funktion für die Form darstellt.

Wojciech Ziemowit Zych ist zweifellos ein intellektueller Komponist. Seine Werke sind schwierig, mit kompliziertem musikalischen Inhalt. Er kokettiert nicht, er braucht keinen Applaus. Zych will vielmehr überraschen und irreführen als augenzwinkern und streicheln. Wenn ein Zuhörer durch dicke Schichten des verdichteten Materials dringt, entdeckt er unbekannte Welten. Gelangt er einmal zu höherer intellektueller Erkenntnis, wird er von einer Materie vereinnahmt, die so dicht ist, dass sie sich in den Verstand hineinbohrt. Wie im geheimnisvollen „SOLILOKWIUM II – A Landscape of Frozen Thoughts“ für Bassklarinette und Streicher im wuselnden, aber nicht chaotischen „Mille coqs blessés à mort“ für Kammerensemble oder in der bereits sehr reif wirkenden „Sinfonie“ für Orchester.

Kattowitz

Die Musikhochschule „Karol Szymanowski“ im 100 Kilometer westlich von Krakau gelegenen Kattowitz hat Komponisten wie Gorecki, Szalonek oder Krzanowski hervorgebracht. Ihr derzeitiger Rektor, Eugeniusz Knapik, ist ein Komponist, dessen Musik einen Stempel der Neoromantik trägt und von Abneigung gegen die Ästhetik der Zweiten Avantgarde geprägt ist. Unter seiner und Aleksander Lasons Obhut entwickeln sich junge Komponisten, die Musik mit breitem emotionalem Gestus, auf der melodischen und harmonischen Basis von Vorbildern wie Gustav Mahler, Richard Strauss und Olivier Messiaen schreiben. Als Beispiele können die Werke von Jaroslaw Chelmecki (geb. 1978) – „Et homo factus est“ für Solostimme, Chor und zwei Klaviere oder frühere Stücke von Jakub Sarwas (geb. 1977) – „...quia fortis est ut mors dilectio dura sicut inferus aemulatio…“ für Frauenstimme, Orchester und Tonband gelten. Für eine fast klassische Form und expressionistische Musiksprache steht Aleksander Nowak (geb. 1979). Sein Klaviertrio und seine „Sonata“ für Geige und Klavier enthalten handwerklich gut gearbeitete Musik, aber kaum frische Ideen.

Breslau

Anders sieht die Situation in Breslau aus, einem der dynamischeren Musikzentren in Polen, mit dem interessanten Festival Musica Polonica Nova. Dessen Kreis ist ganz offen, die Zusammenarbeit mit anderen Künstlern wird ausdrücklich gesucht. Die Aktivitäten der dortigen jungen Komponisten und Musiker werden von den Professoren der Musikhochschule „Karol Lipinski“ Jan Wichrowski (geb. 1942), Grazyna Pstrokonska-Nawratil (geb. 1947) und Stanislaw Krupowicz (geb. 1952) unterstützt.

Die Reihe der Komponisten aus Breslau eröffnet Cezary Duchnowski (geb. 1971). In seinen Werken verbindet er unbegrenzte musikalische Fantasie mit den vielfältigen Klangmöglichkeiten des Computers. „Der Computer ist für mich ein neues Instrument, aber ein ganz anderes, als die, die wir schon kennen. Er gibt uns unheimliches Potenzial bei der Suche neuer Qualität in der Musik, sowohl im Klangbereich, ebenso in der Materialorganisation. Mit seiner Hilfe kann man zum Kern der Musik kommen, zum Klang überhaupt. Wobei die technologischen Entwicklungen und Möglichkeiten bei der Klangerzeugung nur das Mittel sein sollten, nicht das Ziel wie in den 50er-Jahren.“ Duchnowskis Musik ist hochemotional und entbehrt nicht einer gewissen Tiefe, seine Dramaturgie ist meist ungewöhnlich, seine besondere Vorliebe für Klangfarben überzeugt.

Der Zyklus „Monaden“ ist eine Art Tagebuch eines Entdeckers neuer Ausdrucksmittel. Duchnowski beschreibt darin ein langsames Eindringen in die monadische Klangstruktur, analysiert sie, betrachtet sie von allen Seiten und versucht, ihr Wesen zu berühren. Er beruft sich bei seiner ästhetischen Entscheidung auf Leibniz und seine Theorie von der Monade als einer immateriellen Substanz, die von Homogenität, Individualität und Spontaneität gekennzeichnet ist. „Die wichtigsten Elemente in meiner Musik sind die Formen, die nicht schablonenhaft sind, sondern immer neu definiert, so wie der Klang. Gerade schreibe ich Werke, bei denen man alle Elemente mathematischen Proportionen unterordnen kann. Ich denke, dass diese Lösung die poetischste aller Möglichkeiten ist. Sie entkleidet das Stück nicht von Abstraktion und Universum.“ Seine „Monade 3“ erhielt 2004 einen ersten Preis beim „Tribune Electroacoustic Music“ durch den Internationalen Musikrat der UNESCO in Rom.

Duchnowski bevorzugt die Stimme. Das expressive Potenzial dieses „Instruments“ deckt sehr oft Agata Zubel ab (geb. 1978), mit der Duchnowski zusammenarbeitet. Zubel, die vor ein paar Monaten den Preis „Pass“ des Wochenblatts „Polityka“ erhielt, ist nicht nur eine gute Sängerin, sondern auch Komponistin. In ihrer Musik benutzt sie gerne Schlagzeug sowie – naheliegenderweise – vokale Elemente. Im Bereich der Perkussion wird sie von den breiten Farbpaletten und den klanglichen Möglichkeiten, welche sie beim Konstruieren verschiedenartiger Fakturen anwenden kann, verführt („Lumière pour percussion solo“, „Re-Cycle“). Sie ist immer auf der Suche nach neuen Vokaltechniken und Ausdrucksmöglichkeiten („Parlando“, „Unisono I“, „Unisono II“).

Die Werke von Marcin Bortnowski (geb. 1972) sind, das ist sofort spürbar, Beispiele einer sehr geordneten Musik. Klangblöcke fügt er mit den Regeln des Kontrasts aneinander, er wiederholt auch nahezu gleiche Figuren mit kleinen Abweichungen („Music in Lent“ für Akkordeon und Streichquartett, „Pieces of Light“ für Akkordeon, Cembalo und Computer). Oder er geht flüssig durch verschiedene Elemente mit strukturellen und ausdrucksstarken Elisionen („I Sinfonie“ für Orchester). Sehr oft nach den stürmischen, quasi-polyphonen Sequenzen – wie in „White Angels“ für Streichensemble – überrascht er durch beinahe modale, rohe Melodien. Ein anderes Mal bringt er die ausdrucksbetonten Abschnitte mit überbordender Energie auf einen gemeinsamen Nenner, auf einen nicht selten in mehreren Instrumenten vervielfachten Klang.

Der jüngste Komponist aus Breslau ist Slawomir Kupczak (geb. 1979). Seine Kompositionen für elektronische oder traditionelle Medien zeichnen sich durch eine Abstraktion des Klangs und des Ausdrucks aus („Akwaforta“ für Frauenstimme, Okarine, Flöte, Tonband und Computer). Auch Repetitionen und das Spielen mit musikalischen Erinnerungen fehlen nicht. Postmodernistisches Gelächter kann man in „Palimpsest“ für Streichorchester und Tonband hören, wo der Künstler ironisch Volksmusikmotive aufruft, die häufig von Komponisten der älteren Generation benutzt werden. In „Anafora IV“ für Tonband scheint oft ein Stück einer Orchesterkadenz auf und in „Rymowanki“ für Marimba und Streichensemble betont der Komponist noch einmal die Repetitionen. Die hier scheinbar einfachen Figuren fügt er jedoch in einen polyphonen rhythmischen Kontext. Eines der reifsten Werke Kupczaks ist „Anafora V“ für Violoncello und Elektronik – mit einer reichen Farbpalette und einer spannenden Dramaturgie.

Noch einen Namen sollte man nicht vergessen: Michal Talma-Sutt (geb. 1969). Nach seinem Kompositionsstudium bei Jerzy Bauer (geb. 1936) kam er mit Stipendien zum IRCAM nach Paris und an die Musikhochschule Stuttgart. Zweimal bekam er Auszeichnungen vom Internationalen Musikrat der UNESCO im Rahmen des „Tribune Electroacoustic Music“. Talma-Sutt ist einer der seltenen Künstler, die vom Geist des Postmodernismus unberührt geblieben sind. Er vertraut eher modernistischen Idealen. Vom Verzicht aufs populäre Augenzwinkern und dem Widerstehen der Versuchung, ein musikalisches Palimpsest zu schreiben, zeugen nicht nur das künstlerische Medium, sondern auch die gewählte Ästhetik. Das lauteste Manifest seiner kompositorischen Position ist „Cellotronicum“ für Violoncello und Elektronik, eines der besten polnischen Werke der vergangenen Jahre. In seinem Schaffen benutzt Talma-Sutt vor allem den Computer: einerseits als ein Musikinstrument mit interessanten klanglichen Möglichkeiten („Soundscape One“), andererseits als ein Werkzeug, mit dem die Interaktion zwischen natürlichen und elektronischen Klängen möglich ist („Avalon’s Gates“, „Cellotronicum“). Seine Musik ist immer erzählend, dynamisch, raffiniert, mit spannendem Farbenspiel und stets voller Überraschungen. Mit unterschiedlichen Elementen gestaltet Talma-Sutt quasi Mosaike, in denen ein bewusster Zuhörer interessante musikalische Anmerkungen und ästhetische Reminiszenzen wiedererkennt („What Nostradamus has kept only for himself“).

Diese Übersicht ist leider unvollständig, selektiv und subjektiv. Sie führt aber zu der Erkenntnis, dass die Musikszene in Polen nicht unter Langeweile leidet. Eine derart breite Palette von ästhetischen Positionen gab es in Polen seit Jahren nicht. Es lohnt sich, Musik kennen zu lernen, die von jungen Menschen geschaffen wird, und ihre Frische, Kühnheit, Unabhängigkeit, aber auch ihre Wertschätzung für die Tradition zu genießen.

Radio-Tipp

28. April 2005
20 Uhr bis 21.30 Uhr, MDR Figaro

Aktuelle Musikszene: Polen
Eine Sendung von Meret Forster und Daniel Cichy (Eine CD dieser Sendung kann ab Mai 2005 bei der nmz-Redaktion bestellt werden.)

Siehe auch:

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