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Komponieren für die Musikgeschichte

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Zum 50. Todestag Arnold Schönbergs: Sigfried Schibli im Gespräch mit Leonard Stein
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Leonard Stein, geboren am 1. Dezember 1916 in Los Angeles, ist als engster Mitarbeiter Arnold Schönbergs bekannt geworden. Mit seinem Herausgeber-Namen sind die theoretischen Spätschriften aus Schönbergs amerikanischer Zeit verbunden. Stein hatte unmittelbar nach Schönbergs Emigration aus Berlin an der University of Southern California und an der University of California in Los Angeles bei Schönberg zu studieren begonnen. Der auch als Pianist ausgebildete Stein spielte schon 1940 in der Öffentlichkeit Klavierkompositionen von Schönberg. 1949 bestritt er mit Adolf Koldofsky die Uraufführung der Violin-Fantasie op. 47 von Schönberg. Mit Eduard Steuermann trug er das Klavierkonzert in der vierhändigen Fassung dem Komponis- ten vor. Er war Teaching Assistant (Lehrassistent) von Schönberg an der University of California Los Angeles, wurde 1965 promoviert und lehrte an verschiedenen Colleges. Von 1974 bis 1991 war Stein Direktor des Arnold Schoenberg Institute in Los Angeles.

Leonard Stein, geboren am 1. Dezember 1916 in Los Angeles, ist als engster Mitarbeiter Arnold Schönbergs bekannt geworden. Mit seinem Herausgeber-Namen sind die theoretischen Spätschriften aus Schönbergs amerikanischer Zeit verbunden. Stein hatte unmittelbar nach Schönbergs Emigration aus Berlin an der University of Southern California und an der University of California in Los Angeles bei Schönberg zu studieren begonnen. Der auch als Pianist ausgebildete Stein spielte schon 1940 in der Öffentlichkeit Klavierkompositionen von Schönberg. 1949 bestritt er mit Adolf Koldofsky die Uraufführung der Violin-Fantasie op. 47 von Schönberg. Mit Eduard Steuermann trug er das Klavierkonzert in der vierhändigen Fassung dem Komponis- ten vor. Er war Teaching Assistant (Lehrassistent) von Schönberg an der University of California Los Angeles, wurde 1965 promoviert und lehrte an verschiedenen Colleges. Von 1974 bis 1991 war Stein Direktor des Arnold Schoenberg Institute in Los Angeles.Sigfried Schibli: Herr Stein, stimmt es, dass Schönberg nur klassische Werke unterrichtete und keine modernen, insbesondere nicht seine eigenen?

Leonard Stein: Ja, er war tatsächlich aus praktischen Gründen dazu gezwungen. Ich kann mich nur an wenige Gelegenheiten erinnern, als er seine eigenen Werke analysierte. Seine bedeutendste Vorlesung war der Vortrag „Komposition mit zwölf Tönen“. Doch darin ging er nicht in die Theorie, er erklärte mehr durch klangliche Illustration, durch Beispiele. Und als ich sein Diktat für seinen Vortrag über Zwölftonkomposition aufnahm, sagte er dazu, dies sei mehr eine Hypothese als eine Theorie.

: Welches Verhältnis hatte Schönberg zu seinen eigenen tonalen Frühwerken wie „Verklärte Nacht“ oder „Pelleas und Melisande“?
: Er ging sie im Unterricht regelmäßig durch, auch im Aufsatz „Selbstanalyse“ von 1948. Dort beschreibt er die unterschiedlichen Stationen seiner eigenen Entwicklung, vom Brahms-Wagner-Stil der sequenzierenden Wiederholung über die von ihm so genannte entwickelnde Variation bis zu dem, was er „Kondensation und Juxtaposition“ („Verdichtung und Aneinanderreihung“) nannte, zum Beispiel im Streichtrio. Er war sich des evolutionären Prozesses in seinem Schaffen wohl bewusst. Evolutionär, nicht revolutionär!
: Mehr als dieses evolutionäre Moment fällt einem in Schönbergs Œuvre die außerordentliche Vielfalt auf, wenn man etwa die „Brettl-Lieder“ und die Orchestervariationen oder „Moses und Aron“ und die kurzen Klavierstücke nebeneinander hält – da scheint es fast keine kompositorische Identität zu geben.
: Nein, er zieht ganz klar seine Entwicklung durch jede dieser Phasen, die tonale, die atonale, die Zwölfton-Phase. Das ist wie ein Pfad.
: Ist das nicht auch ein Stück Schönberg-ldeologie?
: Nein, er sagte zugleich, als er die erste Kammersinfonie schrieb, habe er seinen Stil gefunden. Dann entdeckte er die Dichtung von Stefan George, schrieb die Klavierstücke op. 11 und so weiter.
: Seine späten tonalen Werke sind schwer zu verstehen.
: Ja, das ist sehr komplexe Musik, die aber immer um ein tonales Zentrum herum gebaut ist. Aber auch schon in Schönbergs Frühwerken hat man oft das Gefühl, es werde unablässig moduliert. Als wir gemeinsam am Buch „Structural Functions of Analysis“ arbeiteten, da entwarf Schönberg eine Art Theorie, die ich dann ausarbeiten musste... Er schritt vor von Region zu Region, wie er sagte, ging ans Klavier und ging von Tonika zur Moll-Mediante zur verminderten Quinte, und ich musste das alles notieren. Er spielte, und ich schrieb es auf. Das setzte ein sehr gutes Gehör voraus. Also kurz gesagt, er studierte Probleme der Tonalität, „Structural Functions of the Harmony“.
: Die meisten Musikfreunde lieben das Frühwerk Schönbergs, „Verklärte Nacht“, die „Gurrelieder“. Das Spätwerk ist viel weniger populär geworden. Litt Schönberg darunter?
: Ich denke schon. Aber er legte sich zugleich eine Art Resignation zu. Anlässlich seines 75. Geburtstags 1949 sagte er, dass er zu seinen Lebzeiten nicht mit allgemeiner Wertschätzung seinem Werk gegenüber rechnen könne.
: Ist Schönbergs Musik für Sie ein Endpunkt oder ein Anfang zu etwas Neuem?
: Sie ist beides. Er verglich sich mit Bach, ein Ende und ein Anfang.
: Sie haben als Pianist viel Schönberg gespielt, zum Beispiel die „Brettl-Lieder“ und andere frühe Lieder mit der Sängerin Mami Nixon. Sie zeigen Schönberg als erstaunlich witzigen Entertainer. Warum ging er diesen Weg nicht weiter?
: Er hat, um Geld zu verdienen, ungefähr 6.000 Seiten Wiener Operettenmusik kopiert... Das half ihm später insgeheim, er kannte diese Art Musik, und sie blitzt in manchen seiner späteren Werke auf wie in der Serenade...
: ...im „Pierrot lunaire“...
: ... ja, auch im Streichtrio, in der Suite op. 29, wo er das Volkslied „Ännchen von Tharau“ zitiert. Er kannte den Wiener Dialekt ganz genau. Es war in der Zeit seiner zweiten Eheschließung, und er widmete das seiner jungen Frau Gertrud und Wien. Er hatte wirklich viel Humor. Wie Beethoven, viel Ernst und viel Humor! Manchmal ist das in der Zwölftonmusik nicht leicht zu finden wie im letzten Satz des dritten Streichquartetts, das für den musikalischen Kenner in Dur-Phrasen geschrieben ist. Man kann wirklich nicht sagen, das sei nicht humorvoll.
: Zu seinen amerikanischen Schülern zählte ein so bahnbrechender Komponist wie John Cage.
: Für kurze Zeit, ja. Aber Cage war zu jener Zeit kein wirklicher Komponist, er lernte nur ein bisschen Kontrapunkt.
: Welches ist für Sie die „logische“ Fortsetzung der Ästhetik Schönbergs?
: Nach dem Tod Schönbergs kannte man die seriellen Verfahrensweisen Weberns und des späten Strawinsky besser als die Zwölftonmethode Schönbergs. Es brauchte einige Zeit, aber sie wurde dann doch an den Universitäten gelehrt. Spätere Komponisten wie Boulez und Stockhausen interessierten sich weniger für die Zwölftonwerke Schönbergs als für die so genannten atonalen Werke.
: Pierre Boulez verkündete programmatisch: „Schönberg ist tot“, aber „Strawinsky bleibt“.
: Oh, das war gute Werbung für ihn selbst! Ich war erstaunt, als er zum ersten Mal nach Südkalifornien kam, das war 1957, und sagte, er möge die Zwölftonwerke Schönbergs nicht besonders, Schönberg habe nicht wirklich zwölftönig komponiert. Da sagte ich zu mir selbst: Eines Tages wird er sie alle auch dirigieren... Und so kam es.
: Könnte man sagen: Das Werk Schönbergs ist als Ganzes wie eine Zwölftonreihe, es darf kein Ton wiederholt werden, bis alle anderen dran waren?
: Ja, jedes seiner Werke steht für sich selbst. Und was mich eigentlich erstaunt, ist, dass seine Musik heute besser verstanden wird als zu seinen Lebzeiten. Es ist eine Frage der Gewöhnung. Das Klavierkonzert von Schönberg zum Beispiel wird heute von sehr vielen Pianisten gespielt, von Leuten wie Emanuel Ax und von vielen jungen Pianisten.
: Man sagt vom Klavierkonzert, es sei wie Brahms mit Zwölfton-Harmonik. Stimmt das?
: Nun, es fällt in eine seltsame Kategorie, vielleicht. Es beginnt mit einem simplen Walzer und hat eine sehr traditionelle Form und traditionelle Phrasen. Deshalb spielt ein Pianist wie Alfred Brendel, der sonst nie moderne Musik spielt, das Klavierkonzert von Schönberg.
: Schönberg lebte in Los Angeles nicht weit von Strawinsky entfernt.
: Ja, wir hatten damals um 1942 zwei der bedeutendsten Komponisten der Zeit bei uns, Schönberg und Strawinsky, und wir konnten jedes Jahr ihre jeweils neuen Werke hören. Sie hatten nicht viel Kontakt miteinander, und ich weiß natürlich nicht genau, worüber sie sprachen. Strawinsky war eher auf das Publikum angewiesen als Schönberg, er brauchte die Gesellschaft von Künstlern und Schriftstellern und später, als er mehr Zwölftonmusik schrieb, auch von Hochschulangehörigen. Schönberg dagegen komponierte mehr für die Geschichte als für Hörer.
: Stimmen Sie mit Adorno überein, dass diese beiden Komponisten den wesentlichen dialektischen Gegensatz in der Musik des 20. Jahrhunderts bilden?
: Ja, das gilt sicher für den neoklassizistischen Strawinsky. Aber auch Schönberg schrieb neoklassische Werke wie die Klaviersuite, das Bläserquintett oder das Violinkonzert.
: Strawinsky näherte sich mehr Schönberg als umgekehrt.
: Ja, das denke ich auch. Sehen Sie, als wir 1954 für eine Plattenaufnahme die Suite für sieben Instrumente op. 29 von Schönberg einstudierten – ich spielte dabei das Klavier –, kam Strawinsky meistens zu den Proben. Und ein Jahr später schrieb er sein eigenes Septett... Es ist ein ganz anderes Stück, aber er lernte viel von Schönbergs Partitur. Robert Craft brachte ihn dazu. Er studierte sicher mehr Schönberg als umgekehrt.
: Sie kennen sicherlich das Schönberg Center in Wien.
: Ja, sie haben es mir gestohlen... (lacht). Nun, Sie wissen, dass ich 17 Jahre lang Direktor des Schoenberg Institute in Los Angeles war. Und nachdem ich pensioniert worden war, brachte mein Nachfolger, den ich nicht mit Namen nennen möchte, die ganze Geschichte herunter. Es war nicht meine Schuld. Es gab deswegen viele Auseinandersetzungen mit den Schönberg-Erben, aber jetzt ist alles ausgebügelt.
: Haben Sie sich damit abgefunden, dass die Sachen jetzt in Wien sind?
: Viele denken, dass das eine große Blamage ist, dass der Nachlass Schönbergs Amerika verlassen hat.
: Wien hat in der Vergangenheit nicht sehr viel für Schönberg getan.
: Die Erben sind sich sehr wohl bewusst, was Wien in Schönbergs Leben bedeutete. Aber sie haben einen guten Deal gemacht. Das Schönberg Center ist wunderbar geworden, und sein Leiter Christian Meyer ist sehr klug und macht ein interessantes Programm.
: Ein berühmtes Buch über Schönberg heißt „Der konservative Revolutionär“. Was ist er für Sie mehr, der Bewahrer oder der Umstürzler?
: Er dachte selbst, dass er einen Weg weiterverfolgte, der in der klassischen Musik wurzelte. Das war seine eigene Vorstellung. Er sagte später, dass er eine Verpflichtung hatte, so zu verfahren. Sie kennen ja sicher die Geschichte aus dem Militär. Als Schönberg gefragt wurde, ob er wirklich der Komponist Arnold Schönberg sei, hat er geantwortet: „Einer hat es sein müssen, keiner hat es sein wollen, so habe ich mich dazu hergegeben“.
: Dieser Begriff der Pflicht ist typisch für Schönberg – und auch typisch deutsch.
: Ja, in keiner anderen Sprache könnte man das sagen.
: Haben die Komponisten heute eine Verpflichtung?
: Ich glaube nicht, dass ein hervorragender Mann wie Boulez das heute so sieht. Und dennoch folgt auch er einer bestimmten Entwicklung, einer Logik.
: Und die heute berühmten amerikanischen Komponisten wie Phil Glass oder John Adams?
: Meiner Meinung nach schreiben sie interessante Musik, aber sie haben nicht die starke Persönlichkeit, die Bartók oder Schönberg oder Strawinsky hatten. Einer meiner besten Freunde ist Elliott Carter. Er folgt mehr oder weniger eng dem Weg von Schönberg und Strawinsky. Er entwickelt sich konsequent von den ersten Werken, die er bei Nadia Boulanger schrieb, weiter. Er ist einer der wenigen Komponisten heute, die sich wirklich konsequent auf das einlassen, was sie tun.
: Was ist das Problem der heutigen Komponisten? Dass heute alles möglich ist?
: Ja, und dass sie zu viel Musik hören! Schönberg hörte manche seiner eigenen Werke nur ein einziges Mal, und es gab von einigen gar keine Aufnahmen. Die Orgel-Variationen hörte er zum Beispiel gar nie integral. Heute gibt es von allem Aufnahmen. Ich habe viel Sympathien für die jungen Komponisten. Aber sie müssen ihren eigenen Weg finden.

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