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Die andere Volksmusik
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Mehr-Werte: Label und Ensemble Zeitkratzer mit fünf Neuerscheinungen

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Um das 1997 von Reinhold Friedl gegründete Ensemble Zeitkratzer war es in den letzten Jahren etwas stiller geworden, nachdem es um die Jahrtausendwende einen kräftigen Wind in die Szenen um die Neue Musik geblasen hatte. Zeitkratzer ist ein Ensemble aus neun Musikern (plus Licht- und Soundingenieur) aus dem europäischen Raum, das sich zu Arbeitsphasen in Berlin trifft und genau jene Neue Musik spielt, die es eigentlich nicht geben dürfte: neue Musik (mit jetzt wieder kleinem „n“).

Denn diese Musik ist neu in des Wortes eigenster Bedeutung, wenn man nicht nur das Alter der Töne zum Bezugspunkt zugrundelegt. Damit hätte man wohl einen ersten Ansatzpunkt zu dem, was sich vordergründig bei den beiden CDs „Volksmusik“ und „Reinhold Friedl: Schönberg Pierrot Lunaire Cheap Imitation“ abspielt. Bei Friedls Schönberg-Umarbeitung wird dessen „Pierrot Lunaire“ drastisch kondensiert. Die Methode gibt Schönberg übrigens selbst vor, als er sich zu einer Klavierauszugfassung des Stückes folgendermaßen geäußert haben soll, eine solche sei „undenkbar“: „wo die Farbe alles, die Noten aber gar nichts bedeuten.“ Schönbergs Stück wird also auf seine musikalischen Gesten zurechtgestutzt.

Man weiß nicht recht zu sagen: Fallen nun die Ornamente der Musik weg oder sind es gerade sie, die durch das Einkochen wie musikalische Ruinen übrig bleiben; Michael Iber nennt das Verfahren übrigens „Entkernung“. Die Friedl‘sche Bearbeitung lässt einen da etwas im musikalischen Zwielicht zurück. Und warum auch nicht. Eine musikalische Befragung des Originals als kompositorische Antwort weist mehr Substanz auf als eine entsprechende sprachliche Erörterung. Nebenbei: Es ist teilweise recht erstaunlich, wie sehr sich neue Musik auch stilistisch einkochen lässt, denkt man an Andreas Hecks „Lippenbekenntnisse“ zurück.

Bei der „Volksmusik“ von Zeitkratzer ist die Sache etwas anders gelagert. Das Verfahren wirkt allerdings auf den ersten Blick ähnlich. Auch bei diesen Stücken werden Formen und Weisen der Volksmusik eingekocht und dann wieder entfaltet. Der Umgang ist gleichwohl ein wenig komplizierter, denn er funktioniert scheinbar nur, weil das Ensemble einen Musiker (Maurice de Martin) in den Reihen hat, der sich mit Volksmusik, hier des südosteuropäischen Bereichs, lange Jahre auseinandergesetzt hat. So entgeht man der Gefahr einer beiderseitigen Erstarrung: Volkmusik und neue improvisierte Musik hätten sich danach im Würgegriff und beide Seiten erfrören so in gegenseitiger Ehrfurcht oder kunstvoll bis lächerlicher Ignoranz. Genau das passiert bei Zeitkratzer nicht. Herauskommt eine „neue“, eine zugleich immens neugierige (Volks-)Musik.

Das Ensemble Zeitkratzer schafft seit Jahren diesen kraftvollen und energiereichen Übersprung sowie eine ästhetische Selbstvermehrung, die man eher mit physikalischer Theorie einer Kritischen Masse als mit musikwissenschaftlicher Analyse beschreiben möchte. Symptomatisch dafür ist die jüngst erschienene CD-Box „Zeitkratzer & Carsten Nicolai/Terre Thaemlitz/Keiji Haino: electronics“ (erstaunlicherweise in der Edition Elektronik des Deutschen Musikrates, eine gute Wahl dafür). Auf jeder der drei CDs hat das Ensemble mit einem Künstler/Musiker zusammen gearbeitet, um dessen musikalische Vorstellungen zu realisieren, sein Instrument zu sein. Der Titel „electronics“ zeigt es an, auch bei diesen drei musikalischen Aktionen wird ein Medium in ein anderes transferiert. Thaemlitz und Nicolai gehören im engeren Sinne zur Fraktion der „elektronischen Musik“, jenseits dieses Begriffs in der Szene der Neuen Musik, sie stehen entweder der bildenden Kunst (Nicolai) oder der diskursiven Popmusik (Thaemlitz: House) nahe. Keiji Haino ist platziert im Nirgendwo der Off-Szenen (Noise, Tanztheater, Popmusik). Spiel und Idee gleich, mit wieder jeweils anderem Ausgang auch bei diesen Aufnahmen. Auf der Nicolai-CD von minimaler Struktur, totale Reduktion auf wenige bis hin zu nur einem Ton, Freiheit von Metrum und Rhythmus, reine Ruhestellung: Musik, die auf sich selbst zu liegen scheint; die Vorstellung leichter Schatten von Blättern, die der Wind sanft bewegt (Track 3: C1 Pt.1), später dann mit rhythmischer Orientierung, die selbst noch analoges Plattenknacken reproduziert (Track 4: C1 Pt.2).

Bei Keiji Haino liegt die Sache etwas anders. Bislang kannte man ihn vornehmlich durch Aktionen mit klingendem Krach, mit einer von Butoh auf Musik übergegangenen Stofflichkeit. Dieser Haino präsentiert sich durch die Linse des Zeitkratzer-Ensembles geradewegs als Tonlyriker. Mit zwei „Aria“, einer „Sinfonia“ und dem „Bonus: Drum Duo“ faltet und entfaltet sich ein weites musikalisches Klangspektrum wie ein eingeschlafener Tanz. In der Sinfonia kommt dann endlich doch noch die volle Breitseite des Krachgewitters zu Klang.

Mit Thaemlitz hat das Ensemble schon vor einigen Jahren eine spektakuläre Aufnahme hingelegt. In der neuerlichen Zusammenarbeit sind fünf Stücke entstanden, die in jeder Hinsicht am breitesten angelegt sind. Von einer Art fetzigen Politpops in „down home kami-sakunobe“ über die athmosphärischen „500 years orbit“, die groovenden „sloppy 42nds“ und den „hobo train“-Baukasten zu diesem ganz einzigartigen Thaemlitz-Zeitkratzer-Klangbild im 25-minütigen „Superbonus“-Track. Traumhaft schön oder ruppig direkt: Zeitkratzer in Höchstform.

Das alles wird bereichert um ein Booklet, für das sich Autoren finden ließen, die all die hier nur angedeuteten Aspekte der Zeitkratzer-Musik in drei Dimensionen ausleuchten. Michael Iber macht sich im Essay „Auf die Geste kommt es an“ Gedanken zur kompositorischen und ästhetischen Arbeitsweise und Form des Ensembles, Diedrich Diederichsen verweist in „Den Komponisten komponieren“ auf die veränderten Bedingungen des kompositorischen Denkens jenseits der Genieästhetik und Elliot Sharp schlägt in „Zeitkratzer und der Mythos vom Ende der Instrumente“ den weitesten Bogen mit sozialgeschichtlichen Betrachtungen zur Szenenentwicklung in der improvisierten Musik. Sharps Schlussbemerkung trifft wohl den Kern solcher Musik: „Weil Zeitkratzer keine Angst vor dem herkömmlichen und dem neuartigen Gebrauch oder Missbrauch von Instrumenten hat, breitet sich sein Wurzelwerk aus bis zur Elektronik, zur Psychoakustik und zu den ausdrucksstärksten produzierbaren musikalischen und nichtmusikalischen Klängen und bringt dabei die einzigartigen Qualitäten akustischer Klangquellen am die vorderste Front der Neuen Musik zurück.“

Diskographie

Reinhold Friedl: Schönberg Pierrot Lunaire Cheap Imitation. zeitkratzer records zkr 0001
Zeitkratzer: Volksmusik. zeitkratzer records zkr 0002
Zeitkratzer & Carsten Nicolai/Terre Thaemlitz/Keiji Haino: electronics, zeitkratzer & Carsten Nicolai/Terre Thaemlitz/Keiji Haino: electronics. zeitkratzer records zkr 0003; oder einzeln als zkr 0004 bis 0006

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