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Musik – Humus für Bindung und Entwicklung

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Neuer Lehrgang für Musik mit Krippenkindern an der Landesmusikakademie Berlin
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„Alles, was die Zweijährige gespielt hat, habe ich eine Oktave höher nachgespielt – das war so intensiv!”, berichtet eine Erzieherin über ihre erste Erfahrung eines spontanen musikalischen Dialogs am Keyboard. Eine andere ergänzt: „Was wir über Stress-Signale gelernt haben – alles kam bei den Babys vor: Das Spreizen der Finger, die Fäuste, die Arten des Weinens – und die kleinen Interventionen, wie Hände zusammenführen, eine Pause machen oder für das Kind singen, helfen tatsächlich!”

Wie kam es zu diesen Rückmeldungen aus dem neuen berufsbegleitenden Lehrgang an der Landesmusikakademie Berlin? Zunächst soll die Motivation erläutert werden, den Lehrgang „Spielen, aber wie!?“ einzurichten. Die Nationale Untersuchung zur Bildung, Betreuung und Erziehung in der frühen Kindheit formulierte 2012: „Die Qualität pädagogischer Prozesse in den Einrichtungen ist unbefriedigend und sollte verbessert werden.“ Nach dem bundesweit quantitativen Ausbau von Krippenplätzen folgt also die Qualitätssicherung. Auch die musikalische Arbeit mit Eltern-Kind-Gruppen fußt noch nicht durchweg auf den aktuellen Erkenntnissen der Kleinkindpädagogik.

Daher wendet sich der sechstägige Lehrgang an Erzieher/-innen und Musikpädagoginnen und -pädagogen aus dem Bereich „U3“ (Kinder unter drei Jahren) und zielt auf die Erhöhung der pädagogischen Qualität mit und durch Musik. Er baut auf drei Grundannahmen auf, die durch Forschung fundiert belegt sind.­­

1. Kinder suchen sich ihre Bildungsaufgaben selbst und benötigen eine individuelle Entwicklungsbegleitung. Kinder unter drei Jahren agieren im Allein- sowie Parallelspiel, kooperatives Verhalten ist noch nicht zu erwarten. Sie wählen als Spielpartner gerne das sozial kompetenteste Gruppenmitglied – also meistens einen Erwachsenen. Durch (musikalische) Interaktion mit Erwachsenen, die feinfühlig, rollenflexibel, kooperativ sind und angemessen auf den Entwicklungsstand eingehen, lernen Kinder überhaupt erst Gruppenfähigkeit. Das bedeutet: Kinder unter drei Jahren profitieren weniger von einer pädagogisch angeleiteten Situation in der Kindergruppe und mehr von individueller Zuwendung und Entwicklungsbegleitung sowie der Einbeziehung der Eltern in einen Unterricht.

2. Spielen ist Lernen. Spielforschung offenbart, dass Kinder emotional, sozial, kognitiv und motorisch durch Spiel profitieren. Es unterstützt die Entwicklung der Persönlichkeit und nicht zuletzt auch die Schulfähigkeit.

3. Gute Bindung ist die Voraussetzung von Lernen. Das natürliche Neugierverhalten leidet unter unsicherer Bindung und damit mindern sich Bildungschancen.

Der Lehrgang thematisiert, wie Musik Bindungs-, Entwicklungs- und Bildungsprozesse unterstützen kann. Die Teilnehmenden bekommen Einsicht in den Aufbau verlässlicher Bindung, der insbesondere für die Eingewöhnungszeit unabdingbar ist. Sie verstehen das Wechselspiel von Bindungs- und Explorationsverhalten, erkennen die Rolle von Stress und beobachten, wie die Kleinsten mitteilen, ob sie gut ansprechbar oder überstimuliert sind. Sie lernen, wie sozio-emotionale Entwicklung und Beziehungsqualität zu erkennen sind. Musiklehrkräfte profitieren für den eigenen Kontakt zu den Kindern, für die Anleitung der Eltern und für die Auswahl des musikalischen Materials.

Stets wird die Frage gestellt, wie mit Musik auf das Verhalten der Kleinkinder reagiert werden kann: Wie schaffe ich es möglicherweise, durch Musik einen Kontakt anzubahnen, der bei verbaler Ansprache oder Versuchen mit Berührung verweigert wird? Welches Lied kann der Stressreduzierung dienen? Wie kann ich ein Kind bei der intermodalen Verknüpfung und bei der Erhöhung von Selbstwirksamkeit unterstützen? Ein Kind ist stark affektiv – wie gehe ich mit diesen Gefühlen um, kann ich sie musikalisch spiegeln, damit sich das Kind in seiner aktuellen Verfassung verstanden fühlt – und kann ich die Affekte womöglich regulieren? Mit welchem Kind, in welcher Situation kann ich in einen Dialog treten, in den beide Spieler ganz partnerschaftlich musikalische Ideen einbringen? Wo muss ich mich in meinem Spiel zurücknehmen und eher einen Gleichklang mit dem Kind suchen statt einen Dialog? Diese Fragen werden mit dem Modell zur Einschätzung der Beziehungsqualität („EBQ-Instrument“) geklärt. Die musikalischen Interaktionen werden in der Seminargruppe geübt und verlangen ganz andere Fähigkeiten, als man sie gemeinhin dem Musikmachen zuschreibt.

Es ist weniger wichtig, vorgegebene Töne zu treffen oder Rhythmen einzuhalten. Dagegen sind Improvisation und Einfühlung gefragt. Die Erwachsenen legen zum Beispiel Wert darauf, in exakt der Intensität und Energie mitzuspielen, die den jungen Spielpartner gerade antreibt. Oder sie bemühen sich darum, eine Bewegung in möglichst genauer zeitlicher Übereinstimmung musikalisch mit zu vollziehen. Ob dabei eine Tonart eingehalten wird, ob die Stimme hoch oder tief eingesetzt wird, ist nachrangig.

Es gibt noch einen weiteren Weg, um die musikalische Spontaneität zu erhöhen: Die Teilnehmenden bringen kurze Videos aus ihren Gruppen ein, um Fragen zu einzelnen Kindern oder zur Interaktion mit ihnen zu klären. Anhand dieser Videos kann auch die musikalische Reaktion geübt werden. Da gibt es zum Beispiel ein Kind, das sich immer wieder fallen lässt. Daran übt die Gruppe, wie das Fallen, das Aufstehen und die kleine Spannungspause bis zum erneuten Fall mit der Stimme begleitet werden kann. Faszinierend ist immer der Moment, wo es gelingt, wo es passt: Das ist für alle Beteiligten zu spüren!

Die Bereitschaft zu dieser Art des Spielens – mit dem Kind und der Musik – ist denn auch die einzige, aber wesentliche Voraussetzung für den Lehrgang, der von den Entwicklerinnen des EBQ-Instrumentes Dr. Schumacher und Claudine Calvet versiert geleitet und durch Impulse aus der Elementaren Musikpädagogik von Jule Greiner bereichert wurde. Der Lehrgang bringt einen neuen Aspekt in das Fortbildungsangebot für die Arbeit mit Kleinkindern an der Landesmusikakademie Berlin ein und geht daher 2016 in die nächste Runde.

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