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Erfinder einer „quasi alten Musik“: Alfred Schnittke (1934–1998). Foto: Charlotte Oswald
Erfinder einer „quasi alten Musik“: Alfred Schnittke (1934–1998). Foto: Charlotte Oswald
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Musik von einer anderen Realität

Untertitel
Alfred Schnittke antwortet auf Bálint András Vargas „Drei Fragen“ – Vorabdruck aus der deutschen Buchausgabe
Publikationsdatum
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Der ungarische Musikpublizist Bálint András Varga begann Ende der 1970er-Jahre ein faszinierendes Interviewprojekt: Er stellte über einen Zeitraum von mehr als drei Jahrzehnten hinweg bedeutenden Komponisten jeweils dieselben drei Fragen. Ihre Antworten spiegeln die Kontinuitäten und Widersprüche, die gemeinsamen Wurzeln und gegensätzlichen Entwicklungen der Musik im 20. und 21. Jahrhundert auf prägnant gebündelte Weise wider. Sie ergeben ein Panorama ästhetischer Selbstvergewisserung und sagen oft auch einiges über die Persönlichkeiten der Befragten aus. Das daraus entstandene Buch erschien 1986 in ungarischer, 2011 in englischer Sprache. Für die deutsche, Anfang September im ConBrio Verlag erscheinende Ausgabe („Drei Fragen an dreiundsiebzig Komponisten“) hat Varga zahlreiche weitere Antworten gesammelt und somit auch die junge Komponistengeneration einbezogen. Vorausblickend auf den 100. Geburtstag Alfred Schnittkes am 24. November 2014 veröffentlicht die nmz hier als Vorabdruck das Gespräch, das Varga 1988 mit dem zehn Jahre später verstorbenen Komponisten geführt hat.

Alfred Schnittke lernte ich im Juni 1988 beim Aldeburgh Festival kennen, also zwei Jahre nachdem die ungarische Ausgabe dieses Buches erschienen war. Keine Frage, ich musste diese einzigartige Gelegenheit einfach wahrnehmen.

Wir unterhielten uns auf Deutsch – Schnittke sprach fließend, wenn auch manchmal etwas stockend und vielleicht mit dem Hauch eines russischen Akzents. Die Jahre zwischen 1946 und 1948 verbrachte Schnittke, dessen Vater aus Frankfurt am Main stammte, in Österreich, wo auch seine musikalische Ausbildung begann. Daher auch seine Kenntnis der Sprache. Er dachte gern zurück an diese Jahre mit ihren unvergesslichen Musikerlebnissen, wie etwa Beethovens 9. Symphonie unter Josef Krips, Bruckners Achte unter Klemperer oder „Die Entführung aus dem Serail“ unter Knappertsbusch. Er schrieb: „Ich entsinne mich eines Grundtons in der Musik, eines gewissen Mozart-Schubert-Klangs, den ich jahrzehntelang in mir trug und den ich bestätigt fand, als ich ungefähr dreißig Jahre später Österreich wieder besuchte.“

Ich erinnere mich an seine schmächtige Statur, die mir sogar damals, zehn Jahre vor seinem Tod, abgemagert vorkam. Umso mehr stachen seine tiefliegenden Augen hervor mit ihrem intensiven Leuchten, das seine Genialität ausstrahlte, jedoch ebenso gut von seiner Körperschwäche hätte künden können.

Musik von Schnittke hörte ich wohl zum ersten Mal in den späten 1980ern beim Festival Prager Frühling: Das „Konzert für Chor“ (1984/85) mit seinem prächtigen Klang verschlug mir den Atem. Es war zeitlose Musik, wie sie Schnittke in unserem Interview erwähnte, vielleicht Musik, die er „als Geschenk empfangen hatte“, um es mit seinen Worten zu sagen. Einige Zeit später hörte ich sein „Moz-Art à la Haydn“ (1977) für zwei Violinen und elf Streicher – ein unvergessliches Erlebnis kontextlos heraufbeschworener Barockgesten, die einer für mich nicht ganz durchschaubaren Logik gehorchten.

Noch beunruhigender ist sein 1984/85 für Salzburg komponiertes „(K)ein Sommernachtstraum“. Er nennt es ein „Mozart-Schubert-bezogenes Rondo“ und fügt an: „All die ‚Antiquitäten‘ in diesem Stück habe ich nicht gestohlen; ich habe sie gefälscht.“ Die Fälschungen funktionieren sehr gut: Die ersten Minuten klingen wie echter Mozart, im weiteren Verlauf des Stücks wird die Mozart-Musik aber zunächst in Anführungszeichen gesetzt, wird zusehends verfremdet und dreht zum Schluss vollkommen durch. Sie wirkt verstörend: Schnittkes „Polystilistik“ in ihrer furcht­erregenden Hochform. In ihrer unterhaltsamsten, aber nicht weniger gespenstischen Hochform ist seine Polystilistik in seiner „Faust Kantate“ aus dem Jahr 1982 (welche in seine Oper „Historia von D. Johann Fausten“ von 1990 eingebaut werden sollte). Ungläubig hört man zu, wie der anfänglich heroische Ton, das feierliche Rezitativ sich unmerklich in ein wahres Musical verwandelt, in dem Mephistopheles, gesungen von einem Countertenor, hysterische hohe Schreie ausstößt, während eine Altstimme eine Melodie singt, die längst ein Hit sein müsste. Und dann gibt es das Bratschenkonzert (1985), das Yuri Bashmet und Valery Gergiev auf der ganzen Welt gespielt haben. Ich habe es in Rotterdam gehört und war erschlagen von der Intensität der Musik und eben: von ihrer Zeitlosigkeit.

I.

Bálint András Varga: Hatten Sie ein ähnliches Erlebnis wie Witold Lutosławski? Er hörte John Cages zweites Klavierkonzert im Radio – eine Begegnung, die sein musikalisches Denken veränderte und eine neue Schaffensperiode einläutete, deren erstes Ergebnis seine „Jeux vénitiens“ (1960–61) waren.

Alfred Schnittke: Ich kann mich nicht auf einen so extremen Fall einer plötzlichen Änderung berufen. Aber ich kann zwei gegensätzliche Erfahrungen nennen, die bei mir, bei meiner Arbeit, immer abwechselnd zu Tage treten.
Die eine betrifft das fast immer unerwartete Auftreten von irgendetwas, was ich gar nicht kalkuliert habe und was sozusagen auf einmal da ist. Das heißt, ein Stück, so wie es ist, entsteht und enthält dabei gar nicht so viele Einflüsse von schon Dagewesenem. Auf einmal ist es da. Das Stück, das heute gespielt wird – die 4. Symphonie – gehört zu dieser Gattung. Von diesem Stück könnte ich nicht sagen, dass ich unter dem großen Einfluss von diesem oder jenem gewesen bin. Das Stück ist so entstanden, wie es ist.
Aber es gibt auch Fälle, wo diese Einflüsse von Gewesenem, von der Musik anderer Komponisten, sehr stark ist. Und besonders stark ist der ständige Einfluss von Musik, die schon längst da ist. Das heißt, es ist ein Empfinden, das nicht der Zeitpunkt, in dem man jetzt lebt, und keine Musik, die jetzt entsteht, hervorruft.

Nein, ich wäre vielleicht unvorsichtig, wenn ich sagen würde, „man“ empfindet es anders. „Ich“ empfinde es jedenfalls anders: als ob es nicht ein begrenzter Zeitpunkt ist, sondern ein Feld. Und man kann sich in diesem Zeitfeld bewegen. Das heißt, man kann sechshundert Jahre nach hinten gehen, und man kann auch versuchen, nach vorne zu gehen. Und man bleibt im selben Kreis. Dadurch ist sehr vieles in meinen Stücken entstanden, was aussieht und klingt, als ob es schon längst geschriebene Musik wäre. Es ist eine quasi alte Musik.
Zum Beispiel das Requiem (1974–75). Es ist eine alte Musik, aber keine bestimmte alte Musik, nicht eine schon dagewesene. Sie ist Musik aus einer anderen Zeit. Ich weiß nicht, aus welcher.

Das ist genauso wie bei meinem Kollegen Arvo Pärt: Er komponiert eine Musik, die quasi im 16. Jahrhundert entstanden ist – aber jetzt. Und es ist nicht zu deuten, nicht zu erklären, wie ein Komponist, der im 20. Jahrhundert lebt, eine Musik schreibt, die so klingt, als ob sie im 16. Jahrhundert geschrieben worden wäre. Doch ist es keine antiquierte Musik, keine künstliche, restaurierte Musik. Es ist eine echte Musik. Das ist eine neue Einstellung zur Zeit, zum Zeitproblem in der Musik, die jetzt aktuell ist.

Varga: Können Sie ein Beispiel nennen für eine Musik, in der Sie nach vorne schauen?

Schnittke: Ja. Vieles, das ich vor zwanzig Jahren schrieb, sieht so aus wie eine Musik, die noch nicht da ist. Zum Beispiel das Orchesterstück „Pianissimo“ (1968). Das ist ein Feld von sehr vielen Tönen, die aufeinander einwirken und einander beeinflussen – das ist irgendwie nicht von dieser Realität. Die Musik ist von einer anderen Realität.

Varga: Es gibt auch die Werke, in denen Sie aus anderen Kompositionen zitieren.

Schnittke: Ja, eine Menge von Zitaten, Pseudozitaten, Stilisierungen und allen möglichen Schattierungen gegensätzlicher Einflüsse von Stilen. Es gibt eine bestimmte Technik, das, was schon gesagt worden ist, jetzt anders zu sagen. Das ist eine sehr entwickelte Technik von Zitaten, Quasizitaten und Ähnlichem. Und ich fühle mich ständig zwischen diesen Extremen hin- und hergerissen. Einerseits empfängt man Geschenke – die Musik ist plötzlich da – andererseits schreibt man etwas, das wie ein Zitat klingt. Ich kann mich nicht für das eine oder andere entscheiden. Es ist immer ein Hin und Her zwischen beiden Extremen.

Varga: Beschäftigt Sie die Frage nach der Originalität? Also: ob die Musik, die Sie als Geschenk bekommen, Ihre Musik ist?

Schnittke: Sie beschäftigt mich, aber nicht sehr. Natürlich denkt man daran, aber wenn man berücksichtigt, wie viel man zitiert und wie sehr die eigene der Musik anderer ähnelt, macht die Frage nicht viel Sinn. Man kann so originell bleiben wollen, wie man will, man kann das Extremste an Originalität beanspruchen, und dann stellt sich doch heraus, dass irgendjemand es irgendwann schon einmal so gemacht hat.
II.
Varga: Ein Komponist ist von Klängen umgeben. Lassen Sie sich von diesen beeinflussen und sind sie in irgendeiner Weise von Bedeutung für Ihre kompositorische Arbeit?

Schnittke: Sie sind sehr wichtig, allerdings dann nicht, wenn sie unerträglich sind – zu viel, zu laut. Und trotzdem kann ich mich an bestimme Fälle erinnern, wo musikalische Lösungen sozusagen von der Natur vorangekündigt wurden. Man kann sich dann unbewusst darauf stützen. Das ist eine Hilfe.

Varga: Was für Klänge meinen Sie?

Schnittke: Es kommt ziemlich oft vor, dass man in der Natur ein Rauschen hört, das man wie eine Obertonskala erlebt. An verschiedenen Stellen hört man das. Und man weiß nie, was das ist, aber man hört es. Das kommt dann in die Musik. Oder: Es gibt sehr tiefe und dumpfe Laute – man kann sie nicht erklären, aber man hört sie innerlich. Man versucht sie dann auf irgendeine Art wiederherzugeben. Die tiefen Bassposaunen geben ähnliche Töne. Man kann sich daran erinnern. Oder die extrem hohen Töne von Flöten und Piccolos – die kommen auch irgendwie aus der Natur. Sie können so klingen, als ob sie nicht im Orches-ter gespielt wären. Sie sind schon da.

III.

Varga: Inwieweit kann man von einem persönlichen Stil sprechen und wo beginnt die Selbstwiederholung?

Schnittke: Das ist eine Frage, auf die es keine bestimmte Antwort geben kann. Nehmen wir das Leben von Frédéric Chopin: Wenn ich ein Zeitgenosse Chopins wäre und gefragt würde, seine verschiedenen Stücke einzuschätzen, dann käme ich in eine gewisse Schwierigkeit. Ich würde sagen, dass er sich nicht entwickelt hat, er blieb immer derselbe. Aber wenn ich sein Schaffen heute einschätze, denn das ist gerade ein Vorzug seiner Musik: das Fehlen von Entwicklung. Sie ist dieselbe geblieben, die sie war. Das schätzt man jetzt ganz anders ein.
Ich denke mir manchmal: Soll sich denn ein Komponist unbedingt immer ständig entwickeln? Es ist seine Welt, sie soll nicht gestoppt werden, aber sie soll auch nicht künstlich an den Ohren nach oben gezogen werden.

Bálint András Varga: Drei Fragen an dreiundsiebzig Komponisten
Aus dem Englischen von Barbara Eckle
Fotos von Charlotte Oswald
416 Seiten, Hardcover
ConBrio Verlagsgesellschaft 2014
CB 1242
ISBN 978-3-940768-42-1
€ 29,90

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