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Muss Toleranz neu erfunden werden?

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Ein Kommentar von Vincent Schneider
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Toleranz – vom Lateinischen tolerare – bezeichnet das Dulden anderer Meinungen, Weltansichten und Sitten. Doch welche Bedeutung kommt dem in unserer Gesellschaft in Zeiten von Schlagwörtern wie Wokeness, kulturelle Aneignung und Gendergerechtigkeit zu?

Toleranz ist ein recht passives Verhalten; es verlangt weder ein Eintreten für andere, noch eine Selbstreflexion. Wollte man es zugespitzt formulieren, so läge ihr Vorzug alleine darin, dass durch diese Passivität Gewaltakte vermieden werden. Doch kann dies wirklich das Ziel einer aufgeklärten Gesellschaft sein? Im Zeitalter der großen Beschleunigung ist es offenbar geworden, dass der müßige Gang der Toleranz der Geschwindigkeit unserer Zeit nicht mehr Stand zu halten vermag. Neben der bereits in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts begonnenen Aufbereitung der eigenen Geschichte ist es gerade die Verantwortung gegenüber zukünftigen Generationen, die ins Bewusstsein getreten ist. Tatenlosigkeit und Stagnation würden folglich zu moralischer Schuld führen.

Im Zuge der neuen globalen Sichtweise und einem gesteigerten Interesse an fremden Kulturen – sowie ihren geschichtlichen Verknüpfungen mit der unseren – eröffnen sich neue Diskurse. Themen wie Kultur, Geschichte und Identität erfahren in der Zeit des Postkolonialismus einen grundsätzlichen Wandel. Innerhalb der Kultur ist es jedoch gerade der Kunstbegriff, der eine Umwälzung seiner Kategorien erfahren hat.

Die Ästhetik, selbst durch den postmodernen Relativismus in Erklärungsnot geraten, wird durch den moralischen Dogmatismus abgelöst. Die Frage lautet folglich nicht mehr: „Gefällt es?“, sondern: „Darf es gefallen?“ Sind Personen und Kulturgüter vor den neuen moralischen Maßstäben nicht länger haltbar, werden die Rufe nach ihrer Verbannung laut – die Geburtsstunde der Cancel Culture. Ist eine Person erst einmal gecancelt, wird der Umgang mit ihr und ihren geistigen Erzeugnissen zur Gewissensfrage. Sollte man die Schriften Kants wegen rassistischer Äußerungen in einem Teil seines Werkes aus den Bibliotheken und Bildungseinrichtungen verbannen? Sollte Wagner aufgrund seines Antisemitismus von den Spielplänen verschwinden? Lässt sich das Werk überhaupt von seinem Schöpfer trennen? Die Zeiten der Heiligsprechung und uneingeschränkten Bewunderung geschichtsträchtiger Persönlichkeiten sind einer kritischen Reflexion ihrer Biografien gewichen.

Wollte man nun statt einer Tilgung aus der Geschichte den Weg eines kritischen Umgangs einschlagen, bliebe die Frage, wie mit den „noch nicht Geschichte gewordenen“, also zeitgenössischen Gegenständen umgegangen werden soll. Mag die Kunstfreiheit in unserer Verfassung verankert sein, schützt sie jedoch nicht vor gesellschaftlicher Restriktion. Die Kunst wird zu einer persönlichen Meinungsäußerung, sei sie gewollt oder nicht. Die Folge ist, dass heikle Themen entweder nicht mehr angegangen oder am Leitfaden der Moralstifter abgearbeitet werden.

Statt ein Verständnis für die Anliegen von Minderheiten zu entwickeln, wird Imagepflege betrieben. Solidarität ist dann keine Folge von Bewusstsein, sondern bloßes Mitläufertum. Was ursprünglich einmal zu einem gesellschaftlichen Wandel beitragen sollte, droht sich durch festgefahrene Positionen zu einem Generationenkonflikt auszuweiten: Jüngere fordern kulturelles Tabula rasa, während die Älteren oft mit Unverständnis reagieren. Offensichtlich müssen jedoch beide Seiten einen Kompromiss eingehen, will man zu einer gesellschaftsfähigen Lösung gelangen. Während die eine Seite lernen muss, Meinungen im Sinne einer Förderung des Diskurses zu dulden, muss die andere akzeptieren, für ihre Meinungen kritisiert zu werden. Nötig ist also eine neue Form von Toleranz. Problematische Werke können dadurch in einen dialektischen Prozess eingebettet werden und erfahren so einen Wandel in ihrer gesellschaftlichen Bedeutung. In der Zeit der großen Beschleunigung, in der die Unsicherheit der Gegenwart auf Zukunftsängste trifft, könnten sich jedoch viele im Wandel verloren fühlen. Die Herausforderung wird sein, alle zum Aufbruch zu bewegen.

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