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Pop: Die Wahrheitsfrage
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In besseren Zeiten formulierte Diedrich Diederichsen, damals noch der wichtigste Theoretiker der Dissidenz und ihrer kulturellen Produktionen und nicht deutscher Kunst-Professor, im post-Orwell’schen new speech eines jugendbewegten radical chic: „Pop ist die rascheste Weise, die Wahrheit zu sagen.“ Die jungen sollten immer Recht haben, nur weil sie jung, vital, sexy und modebewusst waren, und die außerinstitutionellen Medien der jamaikanischen Sound Systems und der Nachbarschafts-Partys in den Schwarzen-Ghettos der USA gegen Irrtum gefeit sein. Dann kam der Schock von Rostock-Lichtenhagen und Diedrich Diederichsen reagierte wie ein besorgter Vater, der seine Tochter beim Kiffen oder Petting erwischt: „The Kids Are Not Allright.“

Auschwitz oder der Gulag oder das napalmverbrannte Vietnam schienen keine Schranke für einen dandyesken Pop-Optimismus zu sein, weil für diese Millionen Toten ja die Alten, die Hässlichen, die mit den falschen Hosen und dem noch falscheren Musikgeschmack verantwortlich zu sein schienen. Aber die da, „plötzlich“ (immer der Trost derer, deren Erkenntnis zu spät kommt), ihre mörderische Hatz nicht nur auf Ausländer, sondern auf alle, die „anders“ waren, begannen, teilten den Musik- und Modegeschmack der SPEX-Redaktion. Der Musik-Weltgeist an den Platten-Tellern war mit einem Mal zutiefst verunsichert, die Wahrheitsfrage in der Pop-Musik stellte sich vollkommen neu.

Hatte am Ende der große Jubilar dieser Tage, der Theorie-DJ Theodor W. Adorno, recht, der dem Massengeschmack und der Jugend, die sich doch „nur“ ausleben will, schon immer tief misstraute. Er sah im Swing-Jazz der 30er-Jahre, also der probaten Tanz- und Verführungsmusik der Depressions-Ära, nur eine Regression des Hörens, eine Entfremdung des Begehrens und eine Verdumpfung und Brutalisierung aller Beziehungen. Und er unterstellte selbst dem archaisierenden Strawinsky des „Sacre“, das bei der Uraufführung zu hysterischen Ohnmachtsanfällen führte, vermutlich weil das verdrängte Sexuelle sich öffentlich nicht anders zeigen konnte, er habe in seinen Rhythmen lediglich dem Militärischen und anderen Massen-Formationen den Weg gebahnt. Strawinsky, der Ur-Opa des Techno, nicht nur ein von Muskeln und Maschinen berauschter Futurist, sondern ein Faschist?

Diederichsen und Adorno, die ansonsten durchaus zu komplexen, in die „Sache“ sich vertiefenden Argumentationen fähig sind, regredieren als Theoretiker, wenn sie in jäher politischer Panik zu Funktions- und Rezeptionsästhetikern werden, wenn das Misstrauen in die Masse zum Verdikt führt. Aber kann Musik böse sein oder zumindest böse machen? Adorno musste sich diese Frage bei Wagner stellen, den er vor (und nach) Hitler rettete, auch vor seinen scheinbar treuesten Anhängern.

Dass es Passagen in seinen Texten gibt, die „lügen“, die auf fatale Weise unverdaute Erfahrungen des 19. Jahrhunderts in eine verzeichnende mythische Ferne rücken und „essenzialisieren“, lässt sich kaum bezweifeln. Aber „hört“ man es auch, wenn jemand zum Antisemiten oder auch nur zum Agitator wird. Adornos These lautete bekanntlich, der lügnerische Wagner wird auch als Musiker schlecht. Jede Form von Gewalt äußert sich als Kitsch, die Verblendung bedarf keiner Einsicht oder Intervention von außen, sie hinterlässt ihre Spuren in der Partitur.

Wie aber stellt sich die Wahrheitsfrage in der Pop-Musik?

Vor Rostock-Lichtenhagen war Diederichsen offenbar der Meinung, wer die richtigen Turnschuhe trägt und sich bei seinem HipHop-Konsum nach den SPEX-Redaktion-Charts richtet, kann kein Ausländerfeind sein. Dabei hatte doch schon Kubrick in „Clockwork Orange“ vorgeführt, wie sehr sich ein verpoppter Ludwig van (Beethoven) als Soundtrack von Schlägereien und Begleitmusik für lustvolles gang-raping eignet.

Authentizität wird aber schon vor dem Exzess zum Problem. Wie ist es, wenn BWL- und Art school-Absolventen den „street fighting man“ geben? Muss jeder Aufruf zur Revolte autobiographisch verbürgt sein? Oder kann ein Text beziehungsweise Sound radikaler, auch „ehrlicher“ sein als sein Interpret?

Die große Jazz- und Blues-Musik der 40er- und 50er-Jahre fand ihre erste Anerkennung in den europäischen Metropolen. Wie konnte die düstere Erfahrung der rassistischen Erniedrigung, der entkörpern den Schwerarbeit oder auch der Ghetto-Drogenhöllen zum Auslöser der hedonistischen Jugendrebellion der Swinging Sixties werden. Wie „wahr“, wie „authentisch“ konnte es sein, wenn die Rolling Stones Muddy Waters oder Willie Dixon nachsangen, von den härteren, (selbst)mörderischen Fällen anomischer Jailhouse-Blueser und -Jazzer ganz zu schweigen.

Und: Ist es überhaupt (und wenn ja, warum) wichtig, dass ein Pop-Song selbst erlebt und vom Interpreten so und nicht anders gemeint ist? Ist es obszön, wenn Eric Clapton durch ,,I shot the Sheriff“ zum Millionär wird? Was wissen Pop-Musiker und -Massen vom jamaikanischen Elend? Und könnte so ein Wissen überhaupt einen Hit begründen? Ist sein Geheimnis nicht vielmehr ein Nicht-Wissen-Wollen? Profitiert die jeunesse dorée des radical chic nicht von einer Situation der existenziellen Ausweglosigkeit, die, wie sie genau weiß, nie die ihre sein wird? Ist nicht jede Form von Intensität, zumindest in kulturindustriellen Kontexten, notwenig vampirisch und parasitär?

Weil es so ist, und weil dieses Wissen für eine verhohlene Scham sorgt, werden die, von denen man glaubt und zu wissen meint, dass sie das sind, wovon sie singen, rasch zu Heiligen oder zumindest zu heiligen Sündern. Spätestens dann, wenn sie alt und vom Leben gezeichnet sind. Und endgültig, wenn sie tot und ikonenfähig sind.

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