Hauptrubrik
Banner Full-Size

Programm-Strukturreformen mit Zeitzünder

Untertitel
Neue Musik und Radio / Was plant der Westdeutsche Rundfunk? · Von Gerhard Rohde
Publikationsdatum
Body

Immer mehr Leute hören Rundfunk. Vor allem WDR Eins Live, zwei und drei befinden sich im Aufwärtstrend. Eine elektronische Medien-Analyse habe das ergeben, liest man im WDR-Jahresbericht neben einem Foto des WDR-Noch-Hörfunkdirektors Thomas Roth. Der Erfolg wird vor allem der vor zwei Jahren vom damaligen Hörfunkdirektor Fritz Pleitgen - der heute als Intendant des Senders fungiert - eingeleiteten „großen Programmreform“ zugeschrieben. Thomas Roth als Nachfolger habe diese Reform konsequent weiterbetrieben. So weit, so gut - vielleicht. Roth geht jetzt wieder nach Moskau.

Jetzt aber ist öffentliche Unruhe entstanden. Was geschieht mit der Neuen Musik im Kölner Sender? Bei den Donaueschinger Musiktagen im Oktober kursierte eine Unterschriftenliste, in die sich spontan fast achtzig Komponisten, Musiker, Publizisten, Kritiker eintrugen. Weitere Namen folgten später. Es war noch kein Protest, denn Einzelheiten waren noch nicht bekannt. Nur Fragen wurden gestellt, Sorge formuliert. Die ersten Kommentare in den Zeitungen, auch in der NMZ (November-Ausgabe, Seite 1) schlossen sich an, auch sie eher fragend, besorgt.

Nur Hansklaus Jungheinrich in der Frankfurter Rundschau fuhr schwereres Geschütz auf und erzeugte damit Erregung in der WDR-Direktionsetage. Alles falsch, übertrieben, das Gegenteil sei der Fall, lautete die Gegenmeinung. Fühlte man sich womöglich ertappt? Wenn die Programmpläne dann im nächsten Jahr auf dem Tisch liegen, wird man weitersehen. Immerhin liegt ein „Positionspapier Neue Musik im WDR“ vor. Nachdem schon die oben genannten Programmbereiche in eine Wellenstruktur überführt worden sind, soll nun als letzte Stufe des Reformprogramms auch WDR 3 als Wellenredaktion organisiert werden. WDR 3 soll dabei seinen „Charakter als musikgeprägtes Kulturprogramm“ behalten. Es folgen schöne Formeln wie spezifische Sendeplätze, größere Entfaltungsmöglichkeiten im Rahmen integrierter Programmstrecken, stärker programmbezogene Musikproduktionen, und auch das unvermeidliche „moderne Design“ darf nicht fehlen. Insgesamt fühlt man sich dem „kulturellen Besitz“ der unzähligen wichtigen Uraufführungen im WDR verbunden und verspricht, die Aktivitäten im Bereich der Neuen Musik im „internationalen Maßstab“ wie bisher ohne Reduktionen fortzusetzen. Das heißt: Musik der Zeit, Wittener Tage für Neue Kammermusik, Zeitgenössische Musik in Nordrhein-Westfalen, Studioproduktionen, Elektronisches Studio, Kompositionsaufträge - alles läuft weiter. Und Wolfgang Becker-Carsten darf auch seine schon langfristig geplanten Projekte betreuen.

Also kein Grund zu Unruhe und Besorgnis? Leider ergeben sich zwischen verbalen Bekundungen und praktizierter Realität immer wieder fatale Diskrepanzen - das Beispiel Donaueschingen und Südwestfunk-Intendanz ist noch in lebhafter Erinnerung. Und wenn man im genannten WDR-Jahresbericht weiterliest, stößt man auf jene sattsam bekannten Formulierungen, die die ganze Misere des Mißverständnisses in unserer kulturpolitischen Landschaft allgemein und in den öffentlich-rechtlichen Medien im besonderen kennzeichnen. Man kann für diesen Mißstand auch einfach den Begriff „Quotendenken“ einsetzen. Argumente wie Publikumsbedienung oder verschärfter Wettbewerb unter den konkurrierenden Medien müssen herhalten, die eigene Nivellierung zu begründen. Natürlich soll es für jeden Geschmack und für jedes „Alterssegment“ ein adäquates Angebot geben, keinesfalls plant man, im Morast der permanenten musikalischen Berieselung, eine „Entwortung“ (das Unwort des Jahres? Bitte prüfen) von Programmen. Nicht stromlinienförmig „formatiert“ dürften die Produkte sein, vielmehr immer wieder „überraschend“ und „vielseitig“, offen für künstlerische Innovationen und Inhalte. Und dann folgt der verräterische Nachsatz, daß all dieses „aber in einer Form“ zu geschehen habe, die sich an den „Bedürfnissen des Publikums orientiert“. Und man darf vermuten, daß auch das folgende aus der Feder Thomas Roths stammt, daß nämlich „Kulturförderung im Radio nur funktionieren kann, wenn sie mit Publikumsakzeptanz und Breitenwirkung ausgestattet ist, also nicht unter Ausschluß der Öffentlichkeit stattfindet“. (Zitat Ende).

Wir haben bei unserem ersten Kommentar zur Programmreform beim WDR ein Wort des Schweizer Publizisten Urs Frauchiger zitiert, das genau diesem falschen In-Mengen-Denken widerspricht. Wenn hunderttausend Rundfunkhörer James Last hören möchten und ein einziger Schönberg, dann heißt die Lösung nicht hunderttausend Sendestunden für James Last und eine für Schönberg, sondern eine für James Last und eine für Schönberg. Eine Demokratie funktioniert nur, wenn sie ihre Minderheiten gleichrangig behandelt. Die Argumentation der Roth & Co. widerspricht aber nicht nur demokratischen Prinzipien, sie ignoriert und beschädigt zugleich den Anspruch und die Würde des einzelnen Kunstwerks. Das Kunstwerk, die Sinfonie, die Oper, das Streichquartett, beansprucht eine eigene Autonomie, die sich aus der schöpferischen Persönlichkeit ableitet. Diese eigentlich einfachen, gleichwohl substantiellen Erkennisse geraten bei den Diskussionen über Kunst und Kultur, nicht nur beim Westdeutschen Rundfunk, immer stärker aus dem Blickfeld. Dem Vorgang wohnt eine zerstörerische Kraft inne, die allmählich unsere ganze Kultur-und Zivilisationsgesellschaft bedroht. Mit einer Programmreform ist dagegen kaum etwas zu bewirken. Wissen, Erfahrung, Verantwortung und politische Courage sind gefordert. Das könnte dann auch der dringlichste Weihnachtswunsch sein.

Weiterlesen mit nmz+

Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.

 

Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50

oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.

Ihr Account wird sofort freigeschaltet!