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Stehende Ovationen, rote Herzen, offene Fragen

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Abschied nehmen vom RSO Stuttgart und vom SWR Sinfonieorchester in Stuttgart, London und Freiburg
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Sie konnten sich lange vorbereiten auf diesen Abschied, den sie selbst nicht gewollt hatten. Die Musikerinnen und Musiker des Radio-Sinfonieorchesters Stuttgart (RSO) und des SWR Sinfonieorchesters Baden-Baden und Freiburg gaben nun endgültig ihre letzten Konzerte.

In der Stuttgarter Liederhalle und im Hospitalhof gab es zum Abschied einen „Tag der Musik“ mit großem Orchesterprogramm und zahlreichen Kammermusikkonzerten, zu dem insgesamt rund 8.000 Besucher kamen. Nach Hector Berlioz’ dramatischer Symphonie „Roméo et Juliette“ wurde auch Chefdirigent Stéphane Denève verabschiedet. Das allerletzte Konzert am 28. Juli spielte das RSO dann unter seinem früheren Chefdirigenten Roger Norrington bei den BBC Proms in der ausverkauften Royal Albert Hall in London (unser Foto).

Sechs Mal waren die Stuttgarter unter Norrington in der Vergangenheit bei dem wichtigen Festival zu Gast. Der Auftritt mit Berlioz’ Ouvertüre zu „Béatrice et Bénédict“, Ludwig van Beethovens viertem Klavierkonzert (Solist: Robert Levin) und der ersten Symphonie von Johannes Brahms wurde mit minutenlangen stehenden Ovationen gefeiert. Zwischen den Zugaben von Brahms und Elgar wandte sich RSO-Konzertmeisterin Natalie Chee mit bewegten Worten an das Publikum (in London und zuhause am Radio) und dankte „dem Sir“ für die jahrelange Zusammenarbeit.

Auch beim selbstbewussten Abschied des SWR Sinfonieorchesters Baden-Baden und Freiburg ging es sehr emotional, aber überhaupt nicht weinerlich zu. Schon das Open-Air-Konzert auf dem Freiburger Münsterplatz vor 5.000 Zuhörern mit Tänzen aus Leonard Bernsteins „West Side Story“ zeigte das Orchester unter der Leitung von Chefdirigent François-Xavier Roth in Höchstform. Beim „Tanz der Ritter“ aus Sergej Prokofiews Ballettmusik „Romeo und Julia“ spielten vierzig Laienmusiker gemeinsam mit den Profis auf der Bühne. Maurice Ravels „La Valse“ entwarf ein sinnliches Untergangsszenario. Die neunzig Kinder, die gemeinsam mit den Profis zu Konzertbeginn das James-Bond-Thema zum Grooven brachten, wurden gefeiert wie Popstars.

Beim endgültigen Abschied im Freiburger Konzerthaus schlagen dann die Emotionen hoch. Schon der Beginn des vierstündigen, als Public Viewing übertragenen Konzertes mit Gustav Mahlers „Todtenfeier“, der Frühfassung des Kopfsatzes seiner zweiten Symphonie, spannt den Bogen von hellen Sehnsuchtsorten in den Streichern zu katastrophalen Einbrüchen. Nach den allerletzten, zugespitzten Tönen von Igor Strawinskys „Le Sacre du Printemps“ steht das Publikum auf und jubelt seinem Orchester rund eine Viertelstunde lang zu. Rote Herzen, auf Papier gedruckt, werden in die Höhe gehalten. François-Xavier Roth und sein Orches-ter winken ein letztes Mal. Und Freiburg winkt zurück.

Wenn Peter Eötvös am 22. September 2016 in der Stuttgarter Liederhalle das erste Konzert des fusionierten SWR Symphonieorchesters leitet (Fernsehübertragung im SWR), dann beginnt für den Sender und die Öffentlichkeit eine neue Zeitrechnung. Die schicke Saisonbroschüre präsentiert ein Programm mit 13 Uraufführungen, in dem die Symphonik von Gustav Mahler und die Musik der finnischen Komponistin Kaija Saariaho als roter Faden durchscheint. Mit dem Artist in Residence Tzimon Barto sowie Sol Gabetta, Patricia Kopatchinskaja und Renaud Capuçon konnte der künstlerische Gesamtleiter Johannes Bultmann namhafte Solisten für das schwierige erste Jahr verpflichten.

Ein Chefdirigent zeichnet sich trotz intensiver Suche noch nicht ab. Christoph Eschenbach dirigiert die meisten Konzerte. Neben arrivierten Kollegen wie David Zinman oder Ingo Metzmacher stehen auch die Alte-Musik-Experten Philippe Herreweghe und Konrad Junghänel sowie Nachwuchskräfte wie David Afkham am Pult. „Insgesamt muss man unter den gegebenen Bedingungen wohl zufrieden sein, gerade auch weil die Neue Musik weiterhin einen großen Stellenwert haben wird“, kommentiert der Freiburger Orchestervorstand Frank-Michael Guthmann das Ergebnis. Drei Konzertreisen nach Spanien, Skandinavien und England werden durchgeführt. Die Abonnementreihe in Mannheim konnte erhalten werden. Auch die Kammerkonzerte bleiben unangetastet. Außerdem werden viele Stuttgarter Konzerte als Videostream zu sehen sein. Überhaupt möchte man mit SWRClassic eine digitale Marke etablieren.

Die Probleme sind aber damit nicht weggewischt. Da der Südwestrundfunk auf Kündigungen verzichtet hat, wird das Orchester in den nächsten Jahren und vielleicht Jahrzehnten auf natürlichem Weg von 175 Mitgliedern auf die Zielstellenzahl 119 schrumpfen. Frei werdende Stellen werden gestrichen und können eben nicht mit herausragenden Nachwuchskräften, um die sich die Spitzenorchester streiten, besetzt werden. Das Orchester wird auf diese Weise immer älter – die jungen Talente spielen bei der Konkurrenz. Auch sorgt das Überangebot der Musiker für große Ungerechtigkeiten im Dienstplan, da je nach Stimmgruppe die Orchestermitglieder unterschiedlich lange Dienstzeiten haben – je nachdem, wie groß die Gruppe besetzt ist. Die Flöten beispielsweise haben mit fünf Stellen schon ihre Zielgröße erreicht. Bei den Hörnern sind im Programmheft dagegen elf Musikerinnen und Musiker aufgeführt. Mit 25 Bratschen dürfte das Orchester zumindest quantitativ weltweit an der Spitze liegen. Auch in vielen anderen Registern gibt es vier statt zwei Solostellen. Das klangliche Zusammenwachsen ist ungleich schwerer zu bewerkstelligen, wenn man nur selten miteinander spielen kann.

SWR-Pressesprecherin Anja Görzel bestätigt die unterschiedlichen Einsatzzeiten, aber betont die Chance der speziellen Situation: „Dem gegenüber steht aber auch die Möglichkeit, in dieser Übergangszeit parallel mit verschiedenen Orchesterformationen zu arbeiten oder kammermusikalische Schwerpunkte zu setzen. Die Voraussetzungen hierfür sind im SWR geschaffen worden.“ Auch wird es spannend zu beobachten sein, wie sich neben der Spielkultur auch die unterschiedliche Diskussionskultur der beiden Orchester in Stuttgart auf einen gemeinsamen Nenner bringen lässt. Die Freiburger zeigten in der Fusionsdebatte viel Kampfeswillen und eine große Öffentlichkeitspräsenz, während man zumindest überregional vom Stuttgarter Widerstand nichts mitbekam. Eine gemeinsame Position gelang den beiden Orchestern in dieser wichtigen Diskussion nicht. Für die Freiburger ändert sich mit Stuttgart auch der Dienstsitz, der nun 200 Kilometer weit entfernt ist – mit allen daraus entstehenden Konsequenzen. Der Stuttgarter Orchestervorstand Fionn Bockemühl sieht trotzdem positiv in die Zukunft. „Ich erwarte, dass die Einstellung der Musiker professionell und leidenschaftlich in Richtung Zukunft geht. Das SWR-Symphonieorchester ist unsere neue Heimat, und das Potenzial ist enorm. Ich freue mich auf die Herausforderung, mit neuen und alten Kollegen diese Heimat zu gestalten und mit Leben zu füllen.“

Einsparungen waren für SWR-Intendant Peter Boudgoust das entscheidende Argument für die Fusion. Im Augenblick gibt es durch Mietzuschüsse, Fahrtkostenübernahmen, Hotelkosten, Vorruhestandsregelungen, den enormen Marketingaufwand und zusätzliche Stellen wie die des künstlerischen Leiters Johannes Bultmann zunächst einmal sehr hohe Ausgaben. Man darf gespannt sein, ab wann der SWR die avisierten Einsparungen von 5 Millionen Euro pro Jahr einhält und wie transparent er mit diesem Thema umgeht. Und darauf, wie aus zwei Spitzenorchestern durch diese Fusion ein noch besseres, international renommiertes werden wird, wie sich das die SWR-Verantwortlichen am Reißbrett überlegt hatten.

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